Gespenster meines Lebens

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Nostalgische Verklärung?

Das bringt uns zurück zum Thema: Ist Hauntology, wie manche kritischen Stimmen unterstellen, bloß ein anderer Name für Nostalgie? Geht es nur um die Sehnsucht nach dem Sozialstaat und seinen Institutionen? In Anbetracht der Allgegenwart der oben beschriebenen formalen Nostalgie muss die Frage doch lauten: Nostalgie nach was? Es erscheint ein wenig seltsam, begründen zu müssen, warum die Feststellung, die Gegenwart stehe im Vergleich zur Vergangenheit nicht besonders gut da, nicht automatisch als nostalgisch zu beanstanden ist, doch angesichts des enthistorisierenden Drucks, den Werbung und populistische Diskurse aufbauen, ist es gleichwohl notwendig. Werbung und Populismus propagieren im Grunde die relativistische Illusion, Intensität und Innovation seien in der Kultur zu allen Zeiten gleich verteilt. Was letztlich Nostalgie so unerträglich macht, ist die verbreitete Tendenz, die Vergangenheit zu überschätzen; doch gerade die 1970er Jahre sind eine Zeit, die fälschlicherweise eher unterschätzt wird. So zeigt Andy Beckett in seiner politischen Geschichte jenes Jahrzehnts in Großbritannien überzeugend, wie eine mythengetränkte Dä­monisierung der Siebziger zur Grundlage des kapitalistischen Realismus wird.27 Wer sich nicht an die Vergangenheit erinnern kann, ist dazu verdammt, immer wieder die gleichen Mythen verkauft zu bekommen, während umgekehrt die allgegenwärtige Werbung uns verleiten will, die Gegenwart zu verklären.

Waren die Siebziger in vielerlei Hinsicht besser, als der Neoliberalismus uns glauben lassen möchte, so müssen wir zugleich anerkennen, dass die kapitalistische Dystopie in der Kultur des 21. Jahrhunderts nicht bloß aufgezwungen ist, sondern auch auf stillgestellten Wünschen gründet. »Fast alles, wovon ich in den vergangenen dreißig Jahren befürchtete, es könnte eintreten, ist eingetreten«, bemerkt Jeremy Gilbert, und fährt fort: »Alles, wovor meine politischen Mentoren gewarnt hatten, seit ich ein Junge war und in den frühen Achtzigern in einer traurigen Sozialsiedlung in Nordengland aufwuchs, oder was ich ein paar Jahre später, auf der Oberschule, in linken Zeitschriften an harten Vorwürfen gegen den Thatcherismus las, kam letztendlich ganz genauso schlimm wie vorhergesagt. Und dennoch wünsche ich mir keineswegs, vor vierzig Jahren zu leben. Das scheint genau der Punkt: Eine solche Welt hatten wir befürchtet, in gewisser Weise haben wir sie aber auch gewollt.«28 Doch die Alternative Internet oder soziale Sicherheit ist keine. Hauntology verweist in diesem Sinn darauf, dass die verlorene Zukunft keine solchen falschen Alternativen erzwingt; der Spuk ist das Phantom einer Welt, in der all die Wunderwerke der Informations- und Kommunika­tionstechnologie sich mit Formen gesellschaftlicher Solidarität kombinieren lassen, stärker als alles, was der Sozialstaat je anbieten konnte.

Die Popmoderne steht keineswegs für ein abgeschlossenes Projekt im Zenit seiner Vollendung, das keiner weiteren Ausarbeitung bedurfte. Gewiss, in den 1970er Jahren fand eine Öffnung der Kultur für Beiträge der arbeitenden Klassen in einem Maß statt, das heute kaum noch vorstellbar ist; doch zugleich gehörten in jenen Jahren Rassismus, Sexismus und Homophobie im Mainstream zum ganz normalen Alltag. Natürlich waren die Kämpfe gegen Rassismus und (Hetero‑)Sexismus zwischenzeitlich nicht auf ganzer Linie erfolgreich, doch gibt es im Hinblick auf hegemoniale Mus­ter signifikante Fortschritte, während andererseits der Neoliberalismus die sozialstaatliche Infrastruktur zerstörte, die eine stärkere Beteiligung der Arbeiterklasse an der Kulturproduktion erlaubte. Tatsächlich ist die Desartikulation von Klasse, »Rasse«, Gender und sexueller Orientierung ganz zentral für den Erfolg des neoliberalen Projekts. Die Folge ist groteskerweise, dass es scheint, als ob der Neoliberalismus in gewisser Weise eine Vorbedingung für die errungenen Erfolge antirassistischer und anti-(hetero-)sexistischer Kämpfe wäre.

Hauntology sehnt sich nicht nach einer bestimmten Zeit, sondern es geht dabei um das Wiederanknüpfen an Prozesse der Demokratisierung und Pluralisierung, wie Gilroy sie ein­fordert. Wir sollten uns vielleicht erinnern, dass der Sozialstaat nur im Rückblick als eine abgeschlossene Totalität erscheint; zu seiner Zeit hingegen war er ein Kompromiss, und die Linke sah in ihm bestenfalls einen provisorischen Brückenkopf für weitere Erfolge. Verfolgen sollte uns daher nicht das Nicht-mehr jenes einst real existierenden Sozialstaats, sondern vielmehr das Noch-nicht einer materiell nie eingetretenen Zukunft, die zu erwarten die Popmoderne uns gleichwohl lehrte. Diese Gespenster – die Gespenster einer verlorenen Zukunft – spuken in der formalen Nostalgie der Welt des kapitalistischen Realismus.

Unverzichtbar für eine Annäherung an jene verlorene Zukunft bleibt die populäre Musikkultur. Die Betonung liegt dabei auf Kultur, denn es ist das gesamte kulturelle Umfeld (Mode, Diskurse, Cover-Art), das ebenso wichtig wie die Musik selbst ist, wenn es darum geht, verführerische, unbekannte Welten zu beschwören. Das Nicht-Befremden in der Musikkultur des 21. Jahrhunderts (die schreckliche Rückkehr von Multimillionären der Branche wie auch der Jungs von nebenan in den Pop-Mainstream; das Ansehen, das in der Pop-Unterhaltung »Realität« genießt; der zunehmende Hang der Akteure, was Kleidung und Aussehen angeht, als digital oder chirurgisch retuschierte Versionen gewöhnlicher Menschen aufzutreten; die übertriebene, bisweilen akro­batische Darstellung von Gefühlen beim Singen) spielt eine bedeutende Rolle, uns zu konditionieren, das Normalitätsmodell des Konsumkapitalismus anzuerkennen. Michael Hardt und Antonio Negri weisen darauf hin, dass in Auseinandersetzungen um »Rasse«, Gender und sexuelle Orientierung ein revolutionärer Standpunkt weit über die Forderung nach einer Anerkennung verschiedener Identitäten hinausgeht. Der »revolutionäre Prozess der Abschaffung von Identität ist monströs, gewaltsam und traumatisch. Versuche nicht dich selbst zu retten – tatsächlich muss dein Selbst geopfert werden! Das heißt nicht, dass die Befreiung uns in ein Meer der Indifferenz ohne Identifikationsobjekte wirft, aber die bestehenden Identitäten werden nicht mehr als Anker dienen.«29 Ganz zu Recht warnen Hardt und Negri vor den traumatischen Dimensionen dieser Transformation, doch birgt eine solche, wie die beiden Autoren ebenfalls unterstreichen, zugleich glückliche Aspekte. Im gesamten 20. Jahrhundert war die Musikkultur ein wichtiges Labor, um die Menschen darauf vorzubereiten, eine Zukunft zu begrüßen, die nicht länger weiß, männlich oder heterosexuell wäre, eine Zukunft, in der die Absage an Identitäten, die ohnehin nur dürftige Fiktion waren, beglückend und befreiend wirkte. Im 21. Jahrhundert hingegen beschränkt sich die populäre Musikkultur darauf – und die zunehmende Verschmelzung von Pop und Reality-TV ist in dieser Hinsicht bezeichnend –, die spätkapitalistische Subjektivität lediglich widerzuspiegeln.

Es sollte an dieser Stelle bereits deutlich geworden sein, dass der Terminus Hauntology verschiedene Bedeutungen trägt. Es gibt den spezifischen, im Hinblick auf die populäre Musikkultur verwendeten Sinn, und ebenso gibt es die stärkere allgemeine Bedeutung, in der Hauntology sich auf Persistentes, Repetitives oder Präfiguratives bezieht. Und es gibt mehr oder weniger gutartige Varianten von Hauntology. Das vorliegende Buch wird sich zwischen diesen verschiedenen Bedeutungen bewegen.

Das Buch handelt zudem von den Gespenstern meines Lebens, im hier Vorgetragenen gibt es daher notwendigerweise eine persönliche Dimension. Doch nehme ich das alte Motto »Das Persönliche ist politisch« als Aufforderung, nach den kulturellen, strukturellen und politischen Bedingungen der Subjektivität zu fragen. Die produktivste Art, das Persönliche politisch zu verstehen, ist, das Persönliche als nicht persönlich anzusehen. Es ist für uns alle elend, wir selbst sein zu müssen (und mehr noch, gezwungen zu sein, uns selbst zu vermarkten). Kultur und Kulturanalyse hat ihre Bedeutung nicht zuletzt dadurch, dass sie uns vor uns selbst zu entkommen erlaubt.

Der Weg zu solcherart Einsichten war mühsam. Depres­sion heißt der böse Spuk, der mein Leben lang an meinen Fersen klebt. (Ich verwende den Ausdruck Depression, um einen trostlosen, solipsistischen Zustand von der eher lyrischen – und kollektiven – Ödnis hauntologischer Melancholie zu unterscheiden.) In einem Zustand der Depression, der mir das alltägliche Leben kaum erträglich scheinen ließ, habe ich 2003 zu bloggen angefangen. Das Schreiben war verschiedentlich Teil der Auseinandersetzung mit diesem Zustand, und es ist kein Zufall, dass mein (bislang erfolgreicher) Ausweg aus der Depression mit einer gewissen Externalisierung von Negativität einherging: Das Problem ist nicht (nur) meines, sondern eines der gesamten Kultur um mich herum. Für mich steht fest, dass die Zeit von ungefähr 2003 bis heute, zumindest was die (Pop‑)Kultur anbelangt, als die schlimmste seit den 1950er Jahren angesehen werden wird – und das nicht in irgendeiner fernen Zukunft, sondern schon bald. Die kulturelle Ödnis festzustellen heißt allerdings nicht, andere Möglichkeiten hätten nicht existiert. Dieses Buch ist ein Versuch, solchen Spuren nachzugehen.

Ghosts Of My Life : Goldie, Japan, Tricky

Es muss etwa 1994 gewesen sein, als ich in einem Plattenladen in der Innenstadt die EP Ghosts Of My Life von Rufige Kru zum ersten Mal im Regal entdeckte. Veröffentlicht worden war das Vier-Track-Minialbum schon 1993, aber zu jener Zeit – vor dem Internet-Hype und der Verfügbarkeit von Online-Discographien – dauerte es eine kleine Weile vom Underground ans Tageslicht. Rufige Krus EP ist ein erstklassiges Beispiel für Darkside Jungle. Dabei bezeichnet Jungle eine Teilmenge dessen, was Simon Reynolds das »Hardcore-Kontinuum« nennen sollte, jenen Raum immer neuer Mutationen im britischen Dance-Underground, ausgelöst durch die Einführung des Breakbeat, von Hardcore Rave zu Jungle, Speed Garage, 2Step.

 

Ich werde an der Bezeichnung Jungle festhalten und nicht den eher blassen und irreführenden Ausdruck Drum and Bass verwenden, weil das Genre seinen Reiz ja gerade aus der Tatsache bezog, dass hier weder gängiges Schlagzeug noch E-Bass zu hören waren. Statt Klang und Eigenschaften vorhandener »realer« Instrumente zu simulieren, wurden mittels Digitaltechnologie Sounds produziert, die ohne derartige Vorbilder auskamen. Die Methode des Time-Stret­ching – die es erlaubt, Dauer und Wiedergabegeschwindigkeit gegebenen Audiomaterials zu verändern, ohne die Tonhöhe zu beeinflussen – verwandelte gesampelte Breakbeats in Rhythmen, die so kein Mensch spielen könnte. Produzenten verwerteten auch die eigenartigen, metallisch klingenden Wucherungen, die bei der verlangsamten Wiedergabe der Samples auftreten, wenn die Software entstehende Lücken füllt. Das Ergebnis war ein abstrakter Rausch, der chemische Substanzen beinahe überflüssig werden ließ, die Metabolisierung beschleunigte, Erwartungen steigerte und das Nervensystem stimulierte.

Noch etwas anderes spricht dafür, bei der Bezeichnung Jungle zu bleiben, evoziert sie doch ein Terrain: Darin klingen Urbanität und Großstadtdschungel an, der Untergrund einer Metropole, die drauf und dran ist, digital zu werden. Bisweilen scheint die Rede von »urban« sich – höflich umschreibend – einzig auf »schwarze« Musik zu beziehen. Doch ist es durchaus möglich, »Urban« nicht als Desavouierung von »Rasse« zu hören, sondern als Anrufung der Macht eines kosmopolitischen Zusammenlebens. Zugleich steht Jungle keineswegs nur für das Zelebrieren des Urbanen. Wenn Jungle irgendetwas zelebriert, dann Dunkelheit mit ihren Verlockungen. Jungle befreit in dystopischen Impulsen verdrängte Libido, entfesselt und verstärkt so eine Jouissance, die sich aus der antizipierten Zerstörung aller gegenwärtigen Gewissheiten speist.30 Wie Kodwo Eshun feststellt, findet eine Libidinisierung der Angst statt, eine Transformation der Kampf- oder Flucht-Impulse und ihr Umschlag in Genießen.

Das Ganze ist zutiefst ambivalent: Auf einer Ebene hören wir Sonic-Fiction-artig intensiviert und extrapoliert den Sound der neoliberalen Zerstörung von Solidarität und Sicherheit. Jungle weist die Nostalgie nach den vertrauten Verhältnissen der Kleinstadt zurück; die digitale Stadt bietet den Fremden keinerlei Geborgenheit, hier können wir niemandem trauen. In vielen Tracks scheinen Hobbes’sche Szenarien aus Spielfilmen der 1980er Jahre auf, aus Blade Runner, Terminator oder Predator 2. Es ist keineswegs Zu­fall, dass es in allen drei Filmen um das Jagen geht. Die Welt des Jungle ist eine, in der Wesen – menschliche wie nicht-menschliche – einander belauern, weil sie auf Beute aus sind oder einfach zum Zeitvertreib. Bei Darkside Jungle geht es ebenso sehr um den Thrill der Gejagten, um angstgetriebene Videospiel-Euphorie, dem Jäger zu entgehen, wie um den Rausch, die Beute zur Strecke zu bringen.

Auf einer anderen Ebene projiziert Darkside Jungle eine Zukunft, die das Kapital verschleiern möchte. Letzterem ist es unmöglich einzugestehen, menschenverachtender Beutegier zu entspringen; der Terminator kann die menschliche Maske niemals ablegen.

Jungle reißt ihm nicht nur die Maske vom Gesicht, sondern identifiziert sich mit den nicht-organischen Schaltkreisen darunter: dem Androiden-Toten­kopf, den Rufige Kru als Logo verwendet. Die paradoxe Identifikation mit dem Tod, das Gleichsetzen der inhumanen Zukunft mit dem Tod ist mehr als eine billige nihilistische Attitüde. An einem bestimmten Punkt schlägt die absolute Negativität des Dystopischen um in eine (verschoben) utopische Geste, und die Annihilation wird zur Möglichkeitsbedingung des radikal Neuen.

1994 war ich Doktorand und hatte weder das Geld noch den Nerv, meine Zeit in einschlägigen Plattenläden zu verbringen und alle Neuerscheinungen mitzunehmen. Meine Begegnung mit Jungle Tracks verlief entsprechend sprunghaft, ähnlich der Art, wie ich in den Siebzigern US-Comics konsumiert hatte. Ich legte mir welche zu, wo und wann immer ich konnte, und bei Jungle waren es gewöhnlich CD-Compilations, die erschienen, wenn die Frische der Dubplates schon merklich nachgelassen hatte. Im Großen und Ganzen war es unmöglich, den unaufhaltsamen Flow im Jungle in ein Narrativ zu drängen.

Und passend zum entpersönlichten und dehumanisierten Sound waren die Namen der Acts kryptische Cyberpunk-Tags, ohne jegliche bio- oder geographische Verortung. Jungle evozierte die Vorstellung eines anonymen elektro-libidinalen Stroms, der durch die Produzenten hindurchging, eine Reihe von Affekten und Effekten, von jeglicher Autorschaft entkoppelt: der Klang einer Audio-(Un‑)Lebensform, einer wilden, un­gezähmten künstlichen Intelligenz, unwillkürlich im Studio entstanden, mit Breakbeats, die wie genetisch manipulierte Jagdhunde heftig an ihren Leinen zerrten.

Rufige Kru war einer der wenigen Jungle Acts, über den ich ein bisschen etwas wusste. Durch Simon Reynolds’ kanonische Texte im nun schon lange eingestellten Melody Maker war mir bekannt, dass Rufige Kru eines der von Goldie verwendeten Pseudonyme war; Goldie selbst war damals bereits auf dem Weg, ein Künstler zu werden, den man wiedererkannte, was in der Anonymität der Jungle-Szene recht einzigartig war. Sollte diese gesichtslose Musik ein Gesicht bekommen, war Goldie – ein farbiger ehemaliger Graffiti-Künstler mit Goldzähnen – zweifellos ein starker Kandidat. Goldie kam aus der HipHop-Kultur, doch prägend für ihn wurde schließlich das kollektive Delirium des Rave. Seine Karriere liest sich wie eine Parabel auf eine ganze Reihe von Widersprüchen. Produzenten, die aus dem Scenius, der sozialen Intelligenz des Hardcore-Kontinuums aufsteigen, geraten immer wieder in Versuchung, den wesentlich kollektiven Charakter der Produktionsbedingungen zu leugnen. Es war eine Versuchung, der Goldie erlag, doch bezeichnenderweise wurden seine Sachen genau in dem Moment schwächer, da er aufhörte, Tracks unter unpersönlichen, kollektiven Etiketten zu veröffentlichen, und begann, seinen »eigenen« angenommenen Namen zu verwenden. Goldies erstes Album, Timeless, glättete die anorganischen Kanten des Jungle durch den Einsatz analoger Instrumente und eine alarmierende jazzig-funkige Gediegenheit. Goldie wurde zu einem kleinen Star, eine Weile wirkte er in der BBC-Soap EastEnders mit. Erst 2008 sollte er die Art Album veröffentlichen, die man 15 Jahre zuvor von Rufige Kru erwartet hätte. Die Lektion war klar: Urbane Künstler können nur erfolgreich sein, wenn sie sich vom Scenius entfernen, wenn sie das Kollektive hinter sich lassen.

Die ersten Tracks, die Goldie und seine Mitstreiter unter den Namen Rufige Kru und Metalheadz herausbrachten, drehten noch mit am ostentativen Buzz im Rave. »Terminator« aus dem Jahr 1992 war das epochalste Stück: zittrige, reizbare Rave-Salven, phasenverschobene und gestretchte Beats, die anomale, unmögliche Geometrien erzeugen, dazu Vokalsamples – von Linda Hamilton in der Rolle der Sarah Connor aus Terminator –, in denen von Zeitparadoxien und verhängnisvollen Strategien die Rede ist. Der Track klingt, als kommentiere er sich selbst, als ob die von Sarah Connor geschilderten Zeitanomalien – »You’re talking about things that I haven’t done yet in the past tense // Sie reden über Dinge, die ich noch nicht getan habe, in der Vergangenheit« – sich in diesem schwindelerregend implodierenden Sound vergegenständlichten.

Rufige Kru produzierte weiter, der Sound wurde glatter. Erweckten die früheren Aufnahmen noch den Eindruck, zerstückelte Organe seien versammelt und mit groben Stichen zusammengeflickt worden, erinnerten die späteren Veröffentlichungen stärker an genetisch modifizierte Mu­tan­ten. Eigenwillige, flüchtige Rave-Elemente verschwanden sukzessive, an ihre Stelle traten schlichtere und stimmigere Texturen. Die Titel – »Dark Rider«, »Fury«, »Manslaughter« – erzählten eine eigene Geschichte. Beim Hören fühlte man sich wie bei einer Verfolgungsjagd durch Sichtbetonarkaden, in einer nicht allzu fernen Zukunft. Die reduzierten Vokalsamples kommen dezent und opak daher. »Manslaughter« allerdings präsentiert eine der faszinierendsten Bemerkungen des schurkischen Replikanten Roy Batty (gespielt von Rutger Hauer) aus Blade Runner: »If only you could see what I’ve seen, through your eyes // Wenn du mit deinen Augen sehen könntest, was ich gesehen habe, mit deinen Augen.« Es ist der perfekte Slogan für die neuen, von Underground-Ingenieuren geschaffenen Mutanten des Jungle, ausgestattet mit geschärften Sinnen, bei allerdings verkürzter Lebenszeit.

Von Rufige Kru habe ich alle Aufnahmen gekauft, die mir in die Hände fielen, der Titel Ghosts Of My Life allerdings elektrisierte mich allein durch die Anspielung auf das Artpop-Meisterwerk »Ghosts« der Gruppe Japan aus dem Jahr 1981. Als ich die 12-Inch-EP abspielte, stellte ich beglückt fest, dass die tiefe, durch Pitch-Shifting verfremdete Stimme, die das titelgebende »Ghosts Of My Life« wiederholt, tatsächlich David Sylvian gehörte, dem Sänger von Japan. Doch verliert sich damit die Spur von »Ghosts« nicht. Nach ein wenig atonalem Vagieren und nervösen Breakbeats kippt der Tack plötzlich, und – es ist ein Moment, der mir auch heute noch beim Hören den Atem stocken lässt – kurz und krakelig füllt eine abstrakt elektronische Sequenz die Lücke, deutlich identifizierbar ebenfalls aus dem 1981er Stück von Japan, bevor schließlich zähtriefende Bässe und synthetisch kreischende Höhen, die sonischen Erkennungszeichen des Darkside Jungle, alles verzehren.

Die Zeit selbst war kollabiert. Einer meiner frühesten Fixpunkte im Pop war wiedergekehrt und behauptete sich in einem ganz unerwarteten Kontext. Neuromantischer Syn­thie-Pop der frühen Achtziger, in Großbritannien geschmäht und verhöhnt, in der Clubszene von Detroit, New York oder Chicago hingegen verehrt, kehrte endlich heim und begründete, späte Genugtuung, den UK-Underground.

Kodwo Eshun, der damals an More Brilliant Than The Sun schrieb, sollte die These formulieren, dass Synthie-Pop für Techno, HipHop und Jungle die gleiche Schlüsselrolle spielte wie der Delta-Blues für Rock.31 Für mich war es, als sei ein verleugneter Teil meiner selbst – ein Spuk aus einem anderen Lebensabschnitt – wiedergekehrt, wenn auch in einer unwiderruflich anderen Form.