Buch lesen: «Peter Grant - Ein Leben für Led Zeppelin»

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Aus dem Englischen übersetzt von Paul Fleischmann


www.hannibal-verlag.de

Widmung

Für Matt B.

(der mindestens 18 werden muss, bevor er das hier lesen darf)

Zitate

„Die Wahrheit ist selten rein und niemals einfach.“

Oscar Wilde

„Schau ihnen immer in die Augen, niemals ins Gesicht,

sondern immer in die Augen …“

Peter Grant

Impressum

Der Autor Mark Blake war stellvertretender Herausgeber des britischen Rockmagazins Q und schrieb unter anderem für Mojo, Rock Planet, Rolling Stone, die Times, Classic Rock und Daily Telegraph. Er hat bereits eine Reihe von Rockbüchern verfasst, darunter Werke über Queen, Keith Richards, Bob Dylan und die Punk-Bewegung. Blake lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in London.

„BRING IT ON HOME - Peter Grant, Led Zeppelin, and Beyond“

© Mark Blake 2018

Titel der Originalausgabe mit der ISBN 978-0-306-90283-3 von Da Capo Press, einem Imprint von Perseus Books, LLC, einer Tochtergesellschaft von Hachette Book Group, Inc.

Deutsche Erstausgabe 2019

Layout und Satz: Thomas Auer, www.buchsatz.com

Coverdesign: © Kerry Rubenstein

Coverabbildung: © Ross Halfin

Übersetzung: Paul Fleischmann

Lektorat und Korrektorat: Hollow Skai

Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen

www.hannibal-verlag.de

ISBN 978-3-85445-672-8

Auch als Hardcover erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-671-1

Hinweis für den Leser:

Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.

Inhalt

Vorwort

1 Die Schlacht von Streatham Common

2 Suppe zu Weihnachten

3 Das Pferd am Sprungturm

Bildstrecke 1

4 Der Kick-Trick

5 Im Bus oder darunter

6 Vollspinner auf Jamaika

7 Der schlimmste Job, den ich jemals hatte

8 Warst du ein böser Junge?

Bildstrecke 2

9 Doktor Larrys Tasche

10 Ein höllisch großer Mann

11 Krokodile im Wassergraben

12 Gut aussehend und gefährlich

Danksagungen

Ausgewählte Bibliografie

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Ein Samstagabend im Sommer 1982. Ich bin 17 Jahre alt und sitze in einem Porno-Kino im Londoner Stadtteil Soho. Ich befinde mich in Gesellschaft von fünf Freunden beiderlei Geschlechts, die ebenfalls alle Teenager sind. Wir teilen mehrere Dosen billigen Lagerbiers unter uns auf, die wir in Supermarkttüten mitgebracht und zwischen unseren Füßen abgestellt haben.

Der winzige Vorführungssaal riecht nach alten Kippen, Desinfektionsmitteln und Körpern. Wir sind nicht allein. Im Finstern können wir einen Obdachlosen erkennen, der sich auf zwei Sitzen breitgemacht hat. Dort schläft und schnarcht er. Hinter uns hustet jemand lautstark, während eine Wolke Gras-Rauch den Gang hinunter wabert.

An einem Wochenende im Monat zeigt dieses Kino keine Erwachsenenfilme, sondern Led Zeppelins The Song Remains the Same. Der Streifen ist noch nicht auf Video erhältlich und ohnehin besitzen nur sehr wenige Leute einen Videorekorder.

Sich im Jahr 1982 Led Zeppelin anzuhören, gilt als eher sonderbarer, oft sogar isolierender Zeitvertreib. Die Band hat sich zwei Jahre zuvor im Anschluss an den Tod ihres Drummers John Bonham aufgelöst. Ihr Leadsänger Robert Plant hat soeben sein erstes Solo-Album veröffentlicht. Die Compact Disc wird schon bald den Markt erobern und wir befinden uns in einem brandneuen Jahrzehnt mit brandneuen Bands. Niemand schert sich noch einen Dreck um Led Zeppelin. Und trotzdem haben wir uns hier eingefunden.

Wir haben bereits vierzig Minuten des Films gesehen. „Rock’n’Roll“, „Celebration Day“ und die anderen Songs wurden mit rasanten Nahaufnahmen von Robert Plant und des Gitarristen Jimmy Page unterlegt, die wie zwei Pfaue über die Bühne des New Yorker Madison Square Garden stolzieren. Plötzlich ein abrupter Schnitt – und wir finden uns in einer Garderobe irgendwo in Amerika wieder.

Bald wird klar, dass dieser Backstage-Wartebereich mitsamt seinen Neonröhren und der tristen Wandbemalung auch nicht viel glamouröser ist als die Umkleiden in den meisten Stadthallen der britischen Provinz. Aber eigentlich zählt auch nur, dass es sich um den Backstage-Bereich eines Led-Zeppelin-Konzerts handelt.

Auf der Leinwand verfolgen wir eine verbale Auseinandersetzung zwischen einem Amerikaner, dessen Kleidung und Haarschnitt schlussfolgern lassen, dass es sich bei ihm um eine Autoritätsperson handelt, und einem wuchtigen, bärtigen Engländer, den wir als Zeppelins Manager Peter Grant identifizieren können. Äußerlich ähnelt er einem Zigeuner-Piraten und seine Stimme klingt, als würde er als Rausschmeißer eines Pubs in Soho Trunkenbolde vor die Türe setzen. Das ist auch gar nicht mal so weit hergeholt. Immerhin tat er einst genau das, um über die Runden zu kommen.

Wir haben Grant bereits kurz am Anfang des Filmes zu sehen bekommen: Da spielte er eine Art Mafia-Capo in einer der kurios anmutenden fiktiven Sequenzen. Allerdings hatte er da keinen Text. Die Backstage-Szene, in der wir die rollende Kadenz von Grants Südlondoner Akzent und seine Kanonade von unflätigen Profanitäten zu hören bekommen, bleibt uns noch lange nach Ende der Filmvorführung im Gedächtnis.

Led Zeppelin sind die Stars von The Song Remains the Same. Doch ihr Manager übernimmt den Part des unbesungenen Helden.

Peter Grant wirkte irgendwie immer schon, als wäre er von einem Filmdreh abgehauen und hätte beschlossen, auch weiterhin in seiner Rolle zu bleiben. Damals wussten wir noch nicht, dass er in seinem früheren Leben tatsächlich auch Schauspieler gewesen war. Die unbändigen Haare, der zerzauste Bart, die alten Ringe und die Seidenschals gehörten zu seinem Kostüm.

Grant entstammte der Vorkriegsepoche, einer Welt des Varieté-Theaters und der Grammophon-Schallplatten, lange bevor es Fernsehen und Rock’n’Roll gab. Er war eine Generation älter als Led Zeppelin.

Das Londoner West End war in den späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren Peter Grants vornehmliche Wirkungsstätte gewesen. 1982 war vieles noch wie eh und je. Von jenem Soho, wie man es im 21. Jahrhundert kennt, mit seiner Al-Fresco-Gastronomie und kosmopolitisch angehauchten Barkultur, wagte damals noch kein Bauherr zu träumen.

Im Anschluss an den Film verlassen wir das Kino und begeben uns ins nächste Pub. Wenn man in den frühen Achtzigerjahren eine beliebige Gasse entlang schlenderte, war man umgeben von einem Gewirr aus Peep Shows, Nepplokalen und Geschäften, die die Boulevardpresse als „Schmuddelbücherläden“ bezeichnete. Zu Grants Zeiten war das alles nicht viel anders gewesen. In weniger als fünf Minuten gelangt man vom Kino zur Old Compton Street. Genau hier kontrollierte der 21-jährige Peter Grant die Eintrittskarten im Café 2iʼs, während britische Möchtegern-Rock’n’Roller im Keller auf einer Bühne auftraten, die aus Milchkästen zusammengebaut war.

Noch näher, in der Wardour Street, lag einst das Flamingo, jener die ganze Nacht geöffnete Jazz- und Blues-Club, in dem Grant in den Tagen von Georgie Fame and the Blue Flames den Eingangsbereich bewachte. Vom Flamingo aus konnte man in weniger als zehn Minuten zum einstigen Murrayʼs Cabaret Club in der Beak Street gelangen. In den späten Fünfzigerjahren nippten dort Mitglieder der königlichen Familie und Gangster aus dem East End Seite an Seite ihren Champagner, während Grant mit seiner Concierge-Kappe und Uniform am Eintritt stand und Taxis für Ganoven und ihre Showgirl-Gespielinnen orderte.

In den frühen Sechzigerjahren, als er für Sharon Osbournes Vater, den Konzertveranstalter Don Arden, arbeitete, war Grant oft in den Büros der Musikverleger in der nahen Denmark Street und Konzert-Locations wie dem originalen Marquee und dem 100 Club zu Gast. Als die amerikanischen Rock’nʼRoll-Pioniere Gene Vincent und Chuck Berry zum ersten Mal nach Großbritannien kamen, war Grant zur Stelle, um sie von Gig zu Gig zu chauffieren und ihre Gagen einzutreiben.

Später, als heimische britische Pop-Acts wie die Animals und die Yardbirds den Kinderschuhen entwuchsen, war auch Grant wieder mit von der Partie, um aufsässigen Clubbesitzern, die sie um ihr Geld bringen wollten, eine Lektion zu erteilen.

Wie ein riesiger, schnauzbärtiger Zelig war Peter Grant immer irgendwo mit dabei, als sich dieses marode und windige Unterfangen schrittweise zu dem entwickelte, was wir heute als das moderne Musikbusiness kennen.

Zehn Jahre, nachdem ich zum ersten Mal The Song Remains the Same in einem Porno-Lichtspieltheater im West End gesehen hatte, hielt ich mich gerade im Marquee auf, als sich herumsprach, Led Zeppelins sagenumwobener Ex-Manager befände sich im Gebäude. Alle Augen wandten sich schlagartig von der Bühne ab und fixierten stattdessen den großgewachsenen bärtigen Gentleman, der in der Nähe der Band stand. Grants Aufmachung hatte sich verändert: Die Schals und Ringe waren von einem unauffälligen Anzug abgelöst worden. Auch wirkte er viel schmächtiger als noch im Film.

Inzwischen war es mir geglückt, ein paar Musikzeitschriften der unteren Kategorie davon zu überzeugen, mich als Autor zu verpflichten. Sie versorgten mich großzügig mit Konzertkarten und kostenlosen Schallplatten, seltener jedoch mit Gehaltsschecks. Nach der Show wurde mir Einlass in den Green Room des Marquee Clubs gewährt und Grant mir vorgestellt. Völlig aus dem Nichts heraus fragte er mich nach meiner Meinung zur Band, die wir gerade gesehen hatten.

Gab es darauf etwa eine richtige oder falsche Antwort, wunderte ich mich. Ich sagte, dass ich mir nicht ganz sicher wäre. Er meinte, dass es ihm ebenso ginge, der Gitarrist ihm aber imponiert hätte. Ich fragte mich, wie es wäre, Nachwuchs-Gitarristen zu beurteilen, wenn der Gradmesser Jimmy Page hieß. Grant klang genauso wie in The Song Remains the Same, nur ohne die Schimpfwörter.

Er hatte Led Zeppelin und den Madison Square Garten weit hinter sich gelassen, doch manche Dinge hatten sich nicht verändert. Er befand sich in Begleitung eines Bodyguards, der rhythmisch auf seinem Kaugummi herumkaute und seine Augen langsam von rechts nach links und wieder zurück schweifen ließ, so als würde er eine besonders langsame Partie Tennis verfolgen.

Niemand hatte vor, Grant auf die Pelle zu rücken, doch schon bald fiel mir auf, dass jeder in seiner Nähe den Hals reckte, um einen Blick auf ihn zu erhaschen.

In der nächsten Stunde unterhielt Grant unsere kleine Abordnung mit mehreren ausgewählten Anekdoten. Er hatte sein Leben in Tourbussen und Flugzeugen verbracht, war ein versierter Geschichtenerzähler und schilderte nun, wie ein betrunkener Gene Vincent einst versucht hatte, ihn mit seinem eigenen Wagen zu überfahren, und wie er bei seiner ersten Zusammenkunft mit Robert Plant von diesem um Rat für sein kompliziertes Liebesleben gefragt wurde. „Er erzählte mir, dass er in zwei Schwestern verliebt wäre“, enthüllte Grant mit einem verschwörerischen Grinsen im Gesicht.

Ein paar Monate später lief mir Grant bei einer Preisverleihungszeremonie erneut über den Weg. Eine Reihe alter Geschäftsbekanntschaften, Musiker und anderer Jünger umschwärmten ihn mit erwartungsfrohen Mienen. Immer wieder hörte man lose Versatzstücke der Unterhaltungen: „Ich weiß nicht, ob du dich an mich erinnern kannst, Peter. Ich war mit Bad Company 1976 mit auf Tour.“ Und so ging das dahin.

Jeder im Raum kannte Grants Ruf. Wir hatten alle die Geschichten von brutalen Auseinandersetzungen und verbalen Einschüchterungsversuchen gehört. Die Gesichter ein paar älterer Musikkritiker verfinsterten sich immer noch, wenn sein Name fiel. 1992 hieß es jedoch, er hätte sich geändert und wäre auf seine alten Tage etwas weicher geworden. Aber stimmte das auch wirklich?

Jahre später erzählte mir Peters Sohn Warren von einer Episode bei einem Wohltätigkeitsessen. Als sie im Aufbruch begriffen waren, eilte jemand zu seinem Vater, um diesen rasch zu begrüßen. Peter reagierte darauf mit einer wüsten Schimpftirade. Sein Opfer lauschte wie versteinert. Erst später, als Peter und Warren draußen auf ein Taxi warteten, wurde Grant bewusst, dass er den armen Kerl mit einem Anderen verwechselt hatte.

Diese Geschichte bringt Grants Reputation gut auf den Punkt. Nichts an ihm war so, wie es schien. Er war ein Meister darin, den Mythos, den Tratsch und die Gerüchte verbreiten zu lassen – und den „echten“ Peter Grant geheimzuhalten.

Dieser bahnbrechende Manager revolutionierte das Geschäft und trug seinen Teil dazu bei, die moderne Musikindustrie zu dem zu formen, was sie heute ist.

Zum Zeitpunkt seines Todes 1995 steckte ein Film über sein Leben bereits seit über fünf Jahren in der Entwicklungsphase fest. Er sollte letzten Endes nie gedreht werden. Und wenn er gemacht worden wäre, dann hätte ihn ohnehin jeder für unrealistisch gehalten.

Peter Grants Geschichte begann für mich im Jahr 1982 in einem Kino in Soho. Über dreißig Jahre später entpuppte sie sich zugleich als Freudenfest und als abschreckendes Beispiel – und vor allem als faszinierendes menschliches Drama. Denn das Leben schreibt immer noch die besten Geschichten.


Peter Grant war ein gewöhnlicher Mann, der ein ganz außergewöhnliches Leben lebte. Außerdem war er ein Mann mit Geheimnissen. Viele davon nahm er mit ins Grab. Ein Umschlag, der Papiere hinsichtlich seiner rätselhaften Abstammung enthielt, wurde quasi als Grabbeigabe mit ihm bestattet.

Das ergab Sinn. Zu Lebzeiten sprach Led Zeppelins Manager nur sehr selten über seinen familiären Hintergrund, sogar mit seiner Exfrau und seinen Kindern. Er wurde von einer alleinstehenden Mutter aufgezogen und behauptete stets, seinen Vater nicht gekannt zu haben. Doch die fehlenden Teilchen im Familienpuzzle faszinieren und erstaunen seine Tochter Helen und seinen Sohn Warren nach wie vor.

Aufgrund des Ruhms und Erfolgs von Led Zeppelin geriet auch ihr furchterregender Gigant von einem Manager ins Rampenlicht. Da keine harten Fakten zu Grants frühen Jahren vorlagen, nahm stattdessen eine alternative Vergangenheit Gestalt an, die durch Bücher, Zeitschriftenartikel und TV-Dokumentationen verfestigt wurde. Ein paar der Informationen entsprachen der Wahrheit, andere waren hingegen nichts als Spekulationen, und wieder andere waren komplett falsch.

Grant selbst trug zu dieser verwirrenden Vorgeschichte bei. Als sein Renommee immer größer wurde, gereichte es ihm zum Vorteil, dass die Leute glaubten, was sie wollten. Die Wahrheit wäre vielleicht zu profan gewesen oder hätte zu viel über den Menschen enthüllt, der er wirklich war. „Er war ein komplexer Mann“, sagt seine Tochter Helen. „Man konnte ihn gar nicht richtig kennen.“

So viel wissen wir jedoch: Peter Grant erblickte das Licht dieser Welt am 5. April 1935. Entgegen anders lautenden Gerüchten hatte er nie einen zweiten Vornamen. Sein Geburtshaus, Thurston House in der Birdhurst Road 11 in South Croydon, Surrey, steht immer noch an der Kreuzung zweier vorstädtischer Straßen.

Es ist ein denkmalgeschütztes viktorianisches Gebäude, das mittlerweile in unterschiedliche Wohnungen aufgeteilt ist. Ein Mauertürmchen ragt steil in den Himmel empor. 1935 beherbergte das Haus aber noch das Birdhurst Nursing Home, ein kleines Krankenhaus. Peters Mutter Dorothy Louise Grant war ledig und 42 Jahre alt, als sie ihr einziges Kind dort zur Welt brachte.

Dorothys Vater, Harry James Grant, war Beamter im öffentlichen Dienst und stammte ursprünglich aus Chesterton in der Nähe von Cambridge. Ihre Mutter, Catherine Anne Bradley kam aus Petersfield, Hampshire – einer Gegend, in der ihr Enkelsohn den Zweiten Weltkrieg verbringen sollte.

Als sich Harry und Catherine kennenlernten, lebten sie etwas südlich von London in Thornton Heath, Croydon, einem jener Vororte, die sich seit dem Aufkommen der Eisenbahn zu etablieren begonnen hatten. Das Paar heiratete 1892 in der lokalen Church of the Holy Saviour. Dorothy wurde im darauffolgenden Jahr in einem Haus in der Buxton Road in Thornton Heath geboren. Ihr Bruder Ernest kam sechs Jahre später, 1898, zur Welt.

Dorothy selbst blieb ihr Leben lang unverheiratet. Als sie mit Peter schwanger war, arbeitete sie als Privatsekretärin für das Church of England Pension Board in Westminster. 1934 war sie in ein kleines Reihenhaus in der Norhyrst Avenue 33 in Norwood, sechs Kilometer von Thornton Heath entfernt, gezogen. Dort wohnte sie mit Unterbrechungen in den nächsten vierzig Jahren, vermutlich zur Miete und mithilfe des Church Pensions Boards, wo man sich auch um die Unterbringung pensionierter Kirchenmänner kümmerte. Irgendwann kaufte ihr Peter schließlich das Haus.

Eine unverheiratete Frau in ihren Vierzigern sah sich im Vorkriegs-England mit großen Vorurteilen konfrontiert. „Dorothy war Christin, eine Kirchgängerin“, sagt Helen. „Also kann man sich ausmalen, wie das war, in diesem Alter ein uneheliches Baby zur Welt zu bringen.“

Das Birdhurst Nursing Home war vor allem bei alleinstehenden Müttern sehr beliebt. Es befand sich unweit der Mission of Hope in der Birdhurst Lodge, einer christlichen Organisation und Adoptionsagentur, deren Vertreter regelmäßig im Krankenhaus vorstellig wurden. Ihre Broschüren versprachen, sich um die Belange unverheirateter Mütter „von ansonsten gutem Charakter“ zu kümmern, bevor sie sie dazu ermutigten, ihre Babys „für Jesus“ aufzugeben.

Dorothy knickte nicht ein. Sie war gut doppelt so alt wie die meisten anderen Mütter dort und ging davon aus, dass sie wohl nicht noch eine Chance auf ein Baby haben würde. Sie verließ das Krankenhaus mit Peter und ließ seine Geburt eintragen, gab aber auf dem Zertifikat keinen Namen eines Vaters an.

„Der Nachname ‚Underwood‘ ist der einzige Hinweis, den wir haben – und was das angeht, sind wir uns auch nicht ganz sicher“, sagt Helen. Peters Ex-Frau Gloria deutete an, dass es sich bei seinem Vater um einen kanadischen Soldaten gehandelt haben könnte. „Meine Mum sagte, dass er vielleicht ein Soldat war“, erzählte er ihr mal.

Obwohl sie ein paar von Dorothys Tagebüchern geerbt hat, fand Helen darin nie irgendwelche Informationen über die Identität ihres Großvaters. Allerdings gab Dorothy auf einem Anmeldeformular für die Schule den Beruf seines Vaters als „Bürovorsteher“ an. Dies war auch der Beruf ihres eigenen Vaters, aber das ist auch schon der einzige Hinweis.

„Wenn Dad irgendetwas wusste, dann hat er es nie gesagt“, versichert Helen. „Ich habe ihn einmal gefragt, ob er nicht neugierig sei, wer denn sein Vater ist. Er verneinte. Ich erklärte ihm, dass ich das schon wäre und fragte ihn weiterhin, bis er meinte, ich solle damit aufhören: ‚Helen, ich will nicht darüber sprechen‘.

Ich glaube, er fühlte sich zurückgewiesen. Das ist wohl auch der Grund, warum er nicht mit Zurückweisung umgehen konnte, weil es ihn an dieses Kapitel seiner Kindheit erinnerte. Vielleicht war das auch die Ursache für seine Wutanfälle – eine innere Stimme, die ihn dazu veranlasste, es an Leuten auszulassen.“

Der leider bereits verstorbene Musikmanager Malcolm McLaren verbrachte in den Achtziger- und frühen Neunzigerjahren etliche Jahre damit, zusammen mit Grant an einem Film über dessen Leben zu arbeiten. So sehr er sich auch bemühte, Grant wollte ihm nichts über seine Kindheit offenbaren. „Ich glaube, er wollte verhindern, dass ihm jemals wer damit auf die Nerven ging“, erzählte McLaren. „Ich denke, das ist die oberste Regel eines jeden Mafiapaten.“

Dennoch gelang es McLarens Rechercheur und Autor Mark Long in stundenlangen Interviews, Peter Grant ein paar Details zu entlocken. Laut Peter vertraute ihm seine Mutter an, dass sie wüsste, wer sein Vater wäre, er aber nicht in der Lage wäre, mit ihnen zusammen zu sein. „Es sollte noch ziemlich lange dauern, bis er begriff, dass sie es auch nicht wusste“, sagt Long. „Somit war er de facto nicht existent.“

Grant erbte seine Größe von Dorothy, die einen Meter zweiundachtzig groß war. Niemand ist sich sicher, von wem er die dunklen Haare und die stechenden Augen hatte. Grants alter Freund, der inzwischen verstorbene Musikproduzent Mickie Most, war sich sicher, dass Peter zur Hälfte Jude war. „Viele Leute dachten, dass er Jude wäre“, sagt Helen. „Aber niemand konnte es genau sagen. Wir hielten es für möglich, dass dies einen Teil seiner Abstammung ausmachen könnte. In seiner Blütezeit in den Siebzigerjahren wirkte er jedenfalls wie ein Roma.“

„Ich erinnere mich daran, dass Jimmy Page Peter fragte, ob er Jude wäre“, berichtet Led Zeppelins früherer Tourmanager Richard Cole. „Peter fragte, warum er das wissen wollte, gab ihm aber keine Antwort.“ In einem Geschäft mit so vielen jüdischen Managern, Rechtsanwälten und Agenten sah es Peter eventuell als Vorteil an, vorzugeben, selbst auch einer zu sein. Aber vielleicht wollte er die Leute auch nur im Unklaren lassen.

Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im September 1939 ließ die britische Regierung eine Volkszählung durchführen. In 65.000 Aktenordnern wurden ungefähr 40 Millionen Männer, Frauen und Kinder erfasst. Doch der vierjährige Peter Grant gehörte nicht dazu. Laut dieser offiziellen Erhebung arbeitete Dorothy immer noch als Sekretärin, die nun ohne ihren Sohn, aber dafür mit einem pensionierten Juristen, dessen Ehefrau und Dienstpersonal in einem Cottage in Haslemere, Surrey, lebte.

Grant vertraute Mickie Most an, dass er eine Zeitlang in einem Kinderheim gelebt hätte, weil seine Mutter zu arm gewesen wäre, sich um ihn zu kümmern. Helen Grant hatte eine ähnliche Geschichte gehört: „Da war mal die Rede von einem Waisenhaus.“

Grant ging ab Mai 1940 zur Schule und verbrachte die nächsten drei Jahre in Grayshott, einem Dorf in Hampshire. Im Sommer 1943 war er wieder zurück in Südlondon und besuchte fortan die St. Walter John School in Battersea, auf der er fünf Jahre bleiben sollte. Die Anmeldeformulare der Schule zeigen vier von Hand geschriebene Adressen, da Dorothy während des Krieges mehrfach in Grayshott und Hindhead in Surrey umzog. „Was machte sie da bloß – und wo war mein Dad?“, wunderte sich Helen.

In einem Interview mit dem Melody Maker, jener wichtigen wöchentlich erscheinenden britischen Musikzeitschrift, bezog sich Grant 1974 kurz auf diese Zeit. So enthüllte er, dass seine Schule in Battersea evakuiert und nach Charterhouse, einer Privatschule in Godalming, verlegt worden war. Damals wurden Tausende von Stadtkindern in ländliche Gegenden gebracht, um sie vor den Angriffen der deutschen Luftwaffe zu bewahren. Auch Grant gehörte etwas weniger als zwei Jahre lang zu ihnen und wohnte in dieser Zeit im Northbrook House, dem Privathaus des Schuldirektors von Charterhouse, das in eine Unterbringung für die Jungs aus Battersea umgewandelt worden war.

Grant zeichnete ein lebendiges Bild von sozial benachteiligten Kindern aus der großen Stadt, die sich gegen ihre reichen und privilegierten Schulkameraden behaupten mussten. „Der Zweite Weltkrieg tobte, doch gab es da noch einen Krieg, von dem niemand wusste“, erzählte Grant dem Melody Maker. „Da kam es zu großen Schlachten und wir verprügelten sie.“

Grant besaß eine Fotografie von Northbrook. Auf der Rückseite hatte Dorothy die Eckdaten seines Aufenthalts festgehalten und dass Peter dort sehr glücklich gewesen wäre. Entweder ignorierte sie die „großen Schlachten“ oder wusste schlichtweg nichts davon.

In Interviews erwähnte Grant oft, dass er ein uneheliches Kind war und betonte stets den Kampf seiner Mutter. Sherry Coulson, die Witwe von Clive Coulson, der einst Bad Company gemanagt hatte, erinnert sich an lange Gespräche mit Peter. „Er erzählte mir, dass er aus echt ärmlichen Verhältnissen stammte“, sagt sie. „Er berichtete von bedrückender Armut. Wie wenig sie zu essen hatten und wie sie es zubereiteten. Auch erzählte er mir, dass seine Mutter sehr hart arbeitete, um sie über Wasser zu halten. Er liebte seine Mutter und auch deren Mutter spielte eine Rolle in seinem Leben. Peter zufolge zogen sie ihn zusammen groß.“

Catherine Grants familiäre Verbindung zu Hampshire mag erklären, warum ihre Tochter während des Kriegs in diesem County lebte. Nach Kriegsende waren Peter und seine Mutter im September 1945 in ihr Haus in der Norhyrst Avenue zurückgekehrt. Er besuchte die St. Walter John School noch bis Februar 1948.

So wie ein Großteil Londons hatten auch Norwood und die angrenzenden Gebiete durch die deutschen Luftangriffe dauerhafte Narben davongetragen, auch wenn nicht alle davon auf den ersten Blick sichtbar waren. Eine ganze Generation sollte ohne Väter, Onkel oder Brüder heranwachsen. So mancher Kriegsheimkehrer war von seinen Erfahrungen traumatisiert. Der körperliche und psychische Schaden, den die Überlebenden davongetragen hatten, war immens.

In Interviews erklärte Grant, dass er eine „richtig schlechte Schulbildung“ hätte und wie seine Schullaufbahn vom Krieg durcheinandergebracht worden war. Es entstand somit der Eindruck, dass hier ein zwölfjähriger Junge durch die Ritzen des Schulsystems gerutscht und de facto vergessen worden war.

Nach Battersea setzte er seine schulische Ausbildung an der Rockmount School in der Chevening Road in Upper Norwood fort. Dort blieb er sechs Monate, bis er offenbar gebeten wurde, die Schule wieder zu verlassen. „Als ich schon etwas älter war, saßen wir beisammen und unterhielten uns“, sagt Warren Grant. „Zu den Dingen, die er mich wissen ließ, zählte, dass er in der Schule niemals mitgearbeitet hatte.“

„Peter erzählte mir, dass er einmal in der Woche aus der Schule geholt und zu einer speziellen Betreuung geschickt wurde“, erinnert sich Mark Long. Diese kinderpsychologischen Sitzungen wurden angeordnet, weil Grant sich seinen Lehrern (und offenbar auch seiner Mutter) zufolge der elterlichen Kontrolle entzog. „So schickten ihn seine Mum und die Schule in eine Klasse für Problemkinder.“

Bei einer dieser Sitzungen fragte sich Grant, ob seine Verhaltensauffälligkeiten vielleicht ein Familienmerkmal waren. Sein Cousin, Onkel Ernests Sohn Geoffrey, der ein paar Jahre jünger als Peter war, besuchte schließlich dieselbe Beratungsstunde.

Grant erzählte Journalisten mitunter, dass er die Schule mit 13 abgebrochen hätte, um als Bühnenhelfer zu arbeiten. Allerdings wurde der 13-jährige Peter im August 1948 an der Ingram County Secondary School for Boys in Thornton Heath eingeschrieben. Die „Ingram Road“, wie sie gemeinhin genannt wurde, war eine Art Hauptschule für Kinder, die ihre „Eleven Plus“-Prüfung nicht bestanden hatten. Mithilfe dieses Tests, der im Rahmen der britischen Bildungsreform 1944 eingeführt worden war, wurde festgelegt, ob ein Kind für einen der begehrten Plätze an einer Grammar School infrage kam.

Im so klassenbewussten Großbritannien der Nachkriegsjahre konnte das Bestehen oder Nicht-Bestehen des „Eleven Plus“-Examens weitläufige Konsequenzen für den Werdegang eines Kindes nach sich ziehen. Dieselbe Reform sah außerdem vor, mehr technisch orientierte Schulen, sogenannte Secondary Moderns, einzurichten, um Kinder zu fördern, deren Fähigkeiten eher praktischer als akademischer Natur waren, doch nichts dergleichen kam letztendlich zustande. Secondary Moderns wie die Ingram Road wurden schon bald von jungen Menschen frequentiert, die sich durch sehr unterschiedliche Talente auszeichneten und nur eins gemein hatten: Sie hatten die von der Regierung vorgesehene Prüfung entweder nicht bestanden oder gar nicht erst abgelegt. Peter Grant war eins dieser Kinder.

Als Grant an die neue Schule kam, stand Frederick T. B. Wheeler, ein erst unlängst zum Direktor ernannter ehemaliger Offizier der Royal Air Force, vor einer Herkules-Aufgabe. Der Zweite Weltkrieg hatte nun einmal seine Spuren hinterlassen und auch die Schule musste sich in Friedenszeiten von den Nachwirkungen erholen. Der Ingram Road fehlte es an Lehrern und grundlegender Ausstattung. Kinder konnten sich ganz leicht davonschleichen, oder auch einfach ignoriert werden.

Phil Carson zufolge, dem ehemaligen Senior-Vizepräsidenten von Atlantic Records, genoss die Schule in den Fünfzigerjahren einen beängstigenden Ruf. Carson, der sein „Eleven Plus“ erfolgreich abgelegt hatte, besuchte das St. Josephʼs College, eine Grammar School in Beulah Hill, Upper Norwood. Zwischen den beiden Schulen herrschte eine erbitterte Rivalität, die durch Eifersucht und Klassenunterschiede noch weiter angeheizt wurde.

Carson erinnert sich an einen Vorfall, der sich kurz vor seiner Zeit ereignet hatte. „Ein paar von unseren Jungs vom St. Josephʼs waren von ein paar Burschen von der Ingram Road attackiert worden“, erzählt er. „So wurde beschlossen, dass die beiden Schulen eine organisierte Schlacht ausfechten.“ Das dafür auserkorene Schlachtfeld war Streatham Common, eine Parklandschaft, die zwischen den beiden Schulen lag. „Am St. Josephʼs gab es eine Primaner-Klasse mit älteren Teenagern. Also schickten wir unsere Fußballmannschaft, von denen ein paar sogar schon 18 waren“, erinnert er sich. „Offenbar entsandte die Ingram Road gerade mal acht oder neun Jugendliche, von denen die meisten erst 15 waren – und sie vernichteten unsere Fußballelf, kloppten ihnen regelrecht die Scheiße aus dem Leib!“

Jahre später, als sich die beiden über ihre Kindheit unterhielten, erwähnte Carson auch die Schlacht von Streatham Common. Peter entgegnete, dass er zu den Fußsoldaten der Ingram Road gezählt hatte. „Ich stellte mir das gerne so vor wie damals im Burenkrieg, als Gandhi, Winston Churchill und der zukünftige südafrikanische Premierminister [Louis Botha] auf demselben Schlachtfeld standen“, lachte er und bezog sich damit auf die Schlacht von Spion Kop, wo sich die Lebensläufe dreier späterer Anführer von Weltruf kurzfristig überschnitten. „Aber natürlich war die Sache nicht von solch nachhaltiger Bedeutung.“