Buch lesen: «Memento Mori»

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Ist es denn eine Sünde, sein Leben zu lieben?

Nicht gerade eine Sünde, aber ein Irrtum.

Henry Drummond, 1910

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Edition Roter Drache, Holger Kliemannel, Postfach 10 01 47,

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© Autorenfoto auf Seite 250: Rocksau Pictures für benecke.com

© Titelbildmotiv „Vielleicht schon Morgen“ von Frank Daske.

Buch- & Umschlaggestaltung: Edition Roter Drache.

Textbearbeitung: Kristina Baumjohann.

Gesamtherstellung: Wonka Druck, Deutschland.

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

1. Digitale Auflage 2012

Digitale Veröffentlichung: Zeilenwert GmbH

ISBN 9783944180045

Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Erster Teil

Warum die Natur den Tod erfand

Blitz und Donner machen den Anfang

Lebende Geschöpfe wissen zu viel

Die Geheimschrift des Lebens kann jeder lesen

Unsterbliche Zellen, die den Tod bedeuten

Die vorprogrammierte Lebensdauer

Zellen haben ein Gedächtnis

Multiplizierte Wurmleben

Einige Todesgene sind schon bekannt

Selbstmord der Zelle

Wesen, die nicht sterben

Ewiges Leben hat einen entscheidenden Nachteil

Artensterben und Umweltveränderung

Sex wird erfunden

Zweiter Teil

Niemand will sterben

Am Ende des Tunnels sah ich ein Licht

»Was ist das jetzt für ein Schlaf, der dich gepackt?«

Den Körper für das Jenseits erhalten

Die ewig Ruhelosen

Wann beginnt das Altern?

Der Jungbrunnen im menschlichen Körper

Goethe, Hufeland und ein Missverständnis

Die Lebensaltertabelle

Die strahlende Kerze brennt schneller

Stärkt Sport die Lebenskräfte?

Das »französische Paradoxon«

Die kleinen Geheimnisse der fast und über Hundertjährigen

Lebensverlängernde Ernährung

Linus Paulings Liebesaffäre mit dem Vitamin C

Melatonin und andere gewinnbringende Selbstläufer

Biorhythmus: Taktstock des Lebens

Ursache und Wirkung verschwinden im Zahlenwirrwarr

Eine rhythmische Zeithöhle

Dritter Teil

Die Unsterblichkeit des Einzelnen – Mögliches und (heute) Unmögliches

Wann ist ein Mensch tot?

Gefangen im leblosen Körper

Wie tot ist ein totes Gehirn?

Niemals alt werden – Neotenie

Veränderung des Erbgutes durch Gentherapie

Dolly, das berühmteste Schaf der Welt

Kehren die Dinosaurier zurück?

Stammbäume des Lebens

Speichelspende für die Ewigkeit

Gehirnverpflanzung – Wunschtraum oder künftige Wirklichkeit?

Altes Gehirn, neuer Körper

Sinnliche Wahrnehmung wörtlich genommen

Frischzellen als Verjüngungsmittel?

Wem gehört die zweite Niere des Bundespräsidenten?

Nichtbiologische Probleme der Organverpflanzung

Kyborgs, Androiden, Menschmaschinen und künstliche Organe

Vierter Teil

Die Menschheit – unsterblich?

Wir leben nur, wenn die Erde lebt

Beifall aus unvermuteter Ecke

Die Welt platzt aus den Nähten

Klimawandel und die Folgen

Wozu brauchen wir viele Tier- und Pflanzenarten?

Überfischte Gewässer

Intensivlandwirtschaft

Artenvielfalt: Um welchen Preis?

Auswandern in den Weltraum?

Fünfter Teil

Der Sinn des Todes – biologisch betrachtet

Die Aufschlüsselung des menschlichen Erbgutes

Warum leben? Warum sterben?

Anhang

Literaturhinweise

Register

Zum Buch

Vorwort
Vorwort

Das Labor, in dem ich viele Jahre hindurch die Erbsubstanz lebender Menschen untersucht habe, ist nur durch wenige Türen vom Leichenkühlraum des Kölner Universitätsinstitutes für Rechtsmedizin getrennt. Das tägliche Nebeneinander des sichtbar gemachten Lebensbauplanes einerseits und des greifbaren Todes andererseits regte mich dazu an, dieses Buch zu schreiben. Schon während meines Biologiestudiums fragte ich mich: Warum müssen nahezu alle Wesen sterben trotz der langen Entwicklungszeit, die das irdische Leben in Anspruch genommen hat? Wäre Unsterblichkeit nicht ein praktisches und erstrebenswertes Ziel der Evolution?

Auf der Suche nach einer Antwort ging ich den seltsamen Berichten über eingefrorene Köpfe, die in Lagerhallen privater Firmen auf eine Wiedererweckung warten, ebenso nach wie den Forschungen, mit denen man die Alterungsgene ausschalten will. Ich traf Genetiker, die Lebensinformationen verändern, und Mediziner, die uralte Erbsubstanzstücke untersuchen. Ich arbeitete mit Entwicklungsbiologen, die die Entstehung jeder einzelnen Körperzelle eines Tieres durch das Mikroskop beobachtet haben, und fand Rechenmethoden, die scheinbar den Ablauf des Lebens erklären können. In staubigen Bücherbergen entdeckte ich Werke des Erfinders der Biorhythmen und die Lehren von Goethes Leibarzt.

Wie sich zeigte, ist der Wunsch nach ewigem Leben eine grundlegende und uralte Sehnsucht des Menschen. Seit jeher nutzen wir alle technischen Möglichkeiten, um Leben zu erhalten und zu verlängern.

Aber erst die biomedizinische Forschung der letzten Jahre hat uns dem alten Traum vom ewigen Leben ein Stück näher gebracht. Für Hunderte erblicher Krankheiten haben wir tatsächlich schon die auslösenden Gene und damit den möglichen Schlüssel für eine Heilung gefunden.

Seit vergangenem Jahr ist das Erbgut vieler Lebewesen entschlüsselt – zumindest so weit, dass wir damit sinnvoll arbeiten können. Weder die Anzahl der Gene des Menschen noch die Arbeitsweise der nicht kodierenden Erbsubstanzabschnitte ist aber bisher verstanden, und so bleibt es spannend im gerade beginnenden Jahrhundert der Bioforschung. Die Schönheit des Lebens, aber auch dessen zerbrechliche und zufällige Art bleiben dabei für viele Forscherinnen das befriedigendste Beschäftigungsfeld.

In der jetzt wirklichen Umwälzung des biologisch-medizinischen Denkens und Arbeitens geraten einige der im vorliegenden Buch beschriebenen Methoden wie das Tieffrieren menschlicher Körper, der Bau von Einmann-Überlebenswaben zur Besiedlung des Planeten Mars oder die massenhafte Lagerung aller Pflanzensamen zu scheinbaren Beinoten biotechnischen Wirkens. Vielleicht werden aber gerade unter gröberen Ansätzen einmal gedankliche Perlen sein, die uns helfen, Fortschritte zu machen. Zumindest in vielen der sich entwickelnden Ländern, in denen ich in den vergangenen Jahren als Wissenschaftler arbeiten durfte, bleibt der Blick aufs Ganze und Große wichtig.

Der biologische Sinn der Sterbens und die darin enthaltene Schönheit treten angesichts unserer zunehmenden Hinwendung zum Molekularen schärfer hervor als noch vor wenigen Jahren. Ich habe bei der Bearbeitung des deutschen Textes für die vorliegende Taschenbuchausgabe darauf Rücksicht genommen. Der Text wurde zudem gestrafft und aktualisiert.

Ich lade Sie hiermit zum unterhaltsamen und spannenden Blättern, Quer- und Wiederlesen in die Welt der Biologie, (Rechts-)Medizin, Kulturgeschichte und Zukunftsforschung ein. Bitte werfen Sie auch einen Blick in das Literaturverzeichnis. Es liefert Ihnen vielleicht den einen oder anderen Lesetipp.

Eine alte rechtsmedizinische Regel besagt, dass die Wirklichkeit stets einen Deut bunter ist als die Vorstellungskraft. Dieses Buch soll Ihnen zeigen, dass selbst eine Romanphantasie mit der Realität nicht mithalten kann.

Dennoch: Betrachten wir das biologische Wissen, das wir bis heute gesammelt haben, nüchtern, dann stellen wir fest, dass das Leben als Gesamtheit eine hartnäckige Zufälligkeit ist, eine Laune, die immer neue Geschöpfe hervorbringt, um sich selbst zu erhalten, und die eines Tages dort enden wird, wo sie begonnen hat: in der Gluthitze und Eiseskälte des Leblosen. Das Leben ist ein einziger Selbstzweck – aber der wundervollste und raffinierteste, den wir kennen. Sein Programm lautet Anpassung, Ausdehnung und Vervielfältigung. Dieses Buch schaut dem Lebensprogramm derart in die Karten, dass es die Frage nach dem Sinn des Lebens und des Todes derart beantwortet, wie es Wissenschaftler aus Erfahrung am liebsten tun: mit der einfachsten erkennbaren Erklärung.

Mark Benecke

ERSTER TEIL

Warum die Natur den Tod erfand


„Alles, was lebt, muss sterben. Der Mensch ist das einzige irdische Geschöpf, dem es bisweilen gelingt, Unsterblichkeit zu erlangen.“

Publius Aelius Hadrian, um 100 n. Chr.

Vergiftete seine Frau Sabrina, seinen Schwager Servianius und seinen Enkel Dion, bevor er qualvoll an Wassersucht starb, weil sein Arzt ihm die Sterbehilfe verweigerte.

Blitz und Donner machen den Anfang

Ein schwüler Abend im Sommer 1952. In einem Labor in Chicago zuckt ein Lichtblitz durch einen Glaskolben, der mit kochendem Wasser und giftigem Methan-, Wasserstoff- und Ammoniakgas gefüllt ist. Der junge Forscher Stanley Miller ahmt damit die Umwelt nach, wie sie nach Meinung seines Chefs, des Chemie-Nobelpreisträgers Harold Urey, kurz vor der Entstehung des Lebens auf der Erde ausgesehen haben könnte. Tatsächlich entsteht in Millers Hexenkessel nach einigen Tagen beinahe Leben. Genauer gesagt, es bilden sich ein paar chemische Bausteine, die auch in Lebewesen vorkommen, vor allem Aminosäuren. Sie sind die Bestandteile aller Proteine, der wichtigsten Aufbaustoffe lebender Körper.

Anfangs entstand in Millers Kolben allerdings vorwiegend rötlicher Teer. Nach einigen Änderungen des Versuchsaufbaus wurde das Ergebnis aber interessanter, und beinahe hätte der deutsche Biologe Ernst Haeckel Recht behalten, der einem Kollegen schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Scherz geraten hatte: »Na, kondensieren Sie nur, eines Tages wird‘s schon krabbeln.«

Der Übergang von unbelebter Materie zu lebenden Gebilden ist auch heute noch eines der interessantesten und komplexesten Themen der Biologie und Chemie. Der deutsche Nobelpreisträger Manfred Eigen beschäftigte sich jahrelang ausführlich mit diesem Problem, und es war noch 1994 das Thema eines Leitartikels des einflussreichen Wissenschaftsmagazins Nature.

Mit ihren Versuchen konnten Miller, seine Mitarbeiter und andere Forscher nur den ersten Schritt zur Entstehung von Leben nachvollziehen; weitere wollen bis heute im Labor kaum gelingen. So bleibt gültig, was der amerikanische Wissenschaftler Harold Klein einmal sagte: »Selbst das einfachste Bakterium ist aus der Sicht eines Chemikers so verdammt kompliziert, dass man sich kaum vorstellen kann, wie es entstanden sein soll.«

Andererseits waren Bakterien aber sicher nicht die ersten lebensähnlichen Gebilde, die auf der Erde entstanden. Das macht es leichter, über die Anfänge des Lebens nachzudenken. Jüngere Versuche einer Arbeitsgruppe um J. P. Ferris vom Rensselear Polytechnic Institute in Troy zeigen, dass die Bausteine der Proteine (die Aminosäuren) und die Bausteine der Nukleinsäuren (Nukleotide) sich in der Gegenwart zweier Mineralien der so genannten Ursuppe (Illit und Montmorillonit) zu Bioketten verbinden können, wie sie auch in Lebewesen vorkommen. Solche Molekülketten kann man sich sehr gut als Ausgangsstoff für die Entwicklung des Lebens vorstellen.

Millers Versuche haben gezeigt, dass das Leben offenbar vor unendlich langer Zeit in schwärzester Nacht bei Sturm und Blitz geboren wurde.1 Mit gewaltigem Aufwand ist seit damals ein bunter Strauß von Lebensformen erblüht: Adler, Krebse, Tannen, Pudel, Butterblumen – und Menschen. Sie alle haben eines gemeinsam: einen mehr oder weniger eindrucksvollen Auftritt auf der Bühne des Lebens und – den Tod.

Lebende Geschöpfe wissen zu viel

Höhere Pflanzen und Tiere bestehen aus unglaublich vielen Zellen. Manche dieser Lebensbausteine kann man mit bloßem Auge gerade noch erkennen, die meisten sind dazu jedoch zu klein. Sie sind so winzig, dass in einen einzigen Blutstropfen mehr als eine Million Zellen passen.

Die Zahl eine Million ist schwer vorstellbar. Ein Gedankenexperiment soll sie deutlich machen. Eine geöffnete Hand fasst etwa zweitausend Reiskörner; in beide Hände passen folglich viertausend Körner. Um eine Million Reiskörner halten zu können, sind demnach zweihundertfünfzig Menschen nötig, und wenn sie alle ihre Hand voll Reis in Kochtöpfe schütten, füllen sie deren fünfzehn. Fünfzehn Kochtöpfe voller Reiskörner: So viele Zellen enthält ein Tropfen Blut.

In einem Lebewesen wie dem Menschen arbeiten aber nicht nur Millionen, sondern Billionen Zellen geregelt zusammen. Gleichgültig, wie weit die Zellen eines Körpers voneinander entfernt sind: Sie stimmen ihre Tätigkeit aufeinander ab. Wäre das nicht der Fall, würde jeder Teil des Körpers tun und lassen, was er wollte. Eine Nervenzelle würde zum Beispiel das linke Augenlid dazu anregen, unablässig zu zucken. Oder ein kleiner Hautabschnitt, vielleicht am Kinn, würde trotz grimmiger Kälte plötzlich schwitzen, weil einige Schweißdrüsen ihre Arbeit aufgenommen haben. So könnte kein Körper funktionieren. Das Zusammenspiel der Zellen erfolgt durch chemische und elektrische Nachrichten.

In unserem Körper gibt es etwa zweihundert verschiedene Zelltypen, die jeweils ganz spezielle Aufgaben erfüllen. Zellen der gleichen Sorte haben die gleiche charakteristische Gestalt: Nervenzellen etwa sind oft lang gestreckt, und Schweißdrüsenzellen sind becherförmig. Der einheitlichen Form entsprechen gleiche Aufgaben – Nervenzellen leiten elektrische Signale weiter, Schweißdrüsenzellen produzieren Schweiß.

Jede Zelle enthält eine Arbeitsanweisung. In den Zellen der Schweißdrüse ist die genaue Anleitung zur Herstellung von Schweiß niedergeschrieben. Dieses Rezept befolgen die Zellen sehr genau. Auch Nervenzellen beachten eine innere Anleitung. Sie erzeugen elektrische Signale, die im Körper ganz bestimmte Vorgänge steuern, etwa den Schlag der Augenlider. Erreicht das Nervensignal sein Ziel (in unserem Beispiel das Augenlid), zucken die Muskelzellen dort zusammen, weil genau das ihre vorgegebene Aufgabe ist; sie können nicht anders.

Sind Zellen also regelrechte Fachidioten, die nur jeweils eine einzige Aufgabe erfüllen können? Tun sie immer, was der innere Plan vorschreibt? Ja, aber das ist nicht alles. Fast alle Zellen tragen einen stillen Schatz in sich, den sie normalerweise niemals nutzen. Er besteht aus Information.

Jede Zelle besitzt nicht nur den Plan für ihre eigene Spezialaufgabe, sondern auch die Anleitungen und Rezepte aller anderen Zelltypen. Das heißt umgekehrt: Die meisten Pläne, die eine Zelle mit sich herumschleppt, braucht sie gar nicht. Wo eine Zelle im Körper liegt und wie sie auch aussieht, ihr Wissensschatz ist genauso groß wie der jeder anderen Zelle desselben Körpers. Eine menschliche Schweißdrüsenzelle trägt die Anleitungen für den Bau von Adern, Knochen und Gehirnmaterial in sich, obwohl sie diese Dinge niemals herstellt. Und wenn es nur um die Information ginge, könnte eine Nervenzelle genauso gut Fett produzieren wie die entsprechenden Zellkollegen im Gesäß. Nur – sie tut es nicht. Das hat zwei Gründe.

Erstens beauftragt niemand die Zellen damit, auf einmal eine andere Funktion auszuüben. Dazu gibt es auch keinen Grund. Warum sollte eine Nervenzelle im Gehirn die Aufgabe einer Gesäßzelle übernehmen müssen? Zweitens haben die Zellspezialisten oft schon eine Lage im Körper eingenommen, die ihnen eine neue Aufgabe unmöglich macht, selbst wenn sie zu einer solchen veranlasst würden. Eine in den Knochen eingemauerte Zelle kann keine Tränen nach außen entlassen, und eine Fettzelle kann nicht am Denken teilnehmen. Dazu müsste sie ins Gehirn wandern, sich dort sehr lang strecken, sich mit Isoliermaterial umhüllen und Anschlüsse zu Nerven bilden. Ein Ding der Unmöglichkeit. Warum also werfen die Zellen ihre überflüssigen Baupläne nicht fort?

Sie tun es nicht, weil die scheinbar überflüssigen Informationen sehr wertvoll sein können. Das ist ein Überbleibsel aus alten Tagen, als die unsterblichen Geschöpfe entstanden, die später in diesem Buch beschrieben werden. Diese Lebewesen bestanden aus einer einzigen Zelle und benötigten fast alle Arbeitsanleitungen, weil sie alles selbst tun mussten. Denn obwohl es nötig war, Nahrung aufzuspüren, zu erbeuten und zu verdauen, gab es noch keine speziellen Seh-, Kaumuskel- oder Darmzellen.

Manchmal ist es auch beim Menschen nützlich, dass jede Zelle noch alle Pläne in sich trägt: Einige Zelltypen können nicht nur eine spezielle Arbeitsvorschrift lesen, sondern je nach dem Zustand der Umgebung auch zuvor überflüssige Anleitungen. Wenn eine Wunde heilt und anschließend die passenden Gewebe – meist Haut und Muskeln – wieder eingebaut werden, sind solche Multitalente am Werk. Meistens schwimmen sie im Blut herum und warten nur darauf, dass ein Unfall passiert. Sobald das Notsignal kommt, werden sie im Blutstrom an Ort und Stelle transportiert. Dort verhalten sie sich wie ein Notarzt, der am Unfallort das jeweils geeignete Instrument aus seinem Rettungskoffer zieht. Blutverklumper, Stoffe, welche die Bildung neuer Haut und Muskeln fördern, sowie schmerzlindernde Substanzen sind nur einige der Hilfsmittel, über die solche Rettungszellen (Thrombozyten, Leukozyten und Fibroblasten) verfügen.

Die Geheimschrift des Lebens kann jeder lesen

Wie sehen nun all die Rezepte, Karten und Pläne aus, von denen die Rede ist? Woraus bestehen sie? Sie liegen in den langen Molekülfäden, auf denen sich auch die Anleitungen für das Altern und Sterben finden. Wenn man ewig leben möchte, muss man also den Informationsfaden verändern, und dazu muss man genau wissen, wie er aufgebaut ist und wo auf ihm die einzelnen Anleitungen stehen.

Manchmal nennt man den Informationsfaden auch Erbsubstanz. Die Eigenschaften des Körpers, zum Beispiel die Augenfarbe oder Form der Nase, können durch den Informationsfaden von den Eltern auf die Kinder übertragen, also vererbt werden. Der chemische Name der Säure ist kompliziert. Er lautet deoxyribonucleic acid, zu Deutsch: Desoxyribonukleinsäure. Weil Wissenschaftler ebenso bequem sind wie alle anderen Menschen, kürzen sie den englischen Namen mit DNA ab. Der ausgeschriebene chemische Name hört sich etwas exotisch an und erinnert ein wenig an malerische Indianerwörter. Übersetzt heißt er: »saurer Zucker aus dem Kern der Zelle, der zu wenig Sauerstoff hat«.

DNA ist tatsächlich eine Säure, ähnlich wie die in Zitronen oder Essig, aber sie ist viel komplizierter zusammengesetzt. Im Zitronensaft schwimmen Zitronensäurebausteine in Wasser herum. Entzieht man dem Saft das Wasser, zum Beispiel durch Erhitzen, lagern sich die Bausteine zu einem hübschen Kristall zusammen. Solche Kristalle mögen gut schmecken und in der Sonne glitzern, aber sie sind auch einfältig. In ihnen kann keine Information gespeichert oder verschlüsselt sein, weil sie aus lauter gleichen Untereinheiten bestehen. Es ist ähnlich wie beim Schreiben, einer menschlichen Art der Informationsübermittlung: Man kann so viele gleiche Buchstaben aneinander reihen, wie man möchte: Ein Wort oder ein Satz kommt dabei nie heraus.

Der DNA-Faden einer Zelle besteht aus vier verschiedenen Arten von Säurebausteinen. Mit ihnen lassen sich Informationen verschlüsseln und speichern, genauso wie wir es beim Schreiben durch Buchstabenkombinationen tun: Die vier Bausteine des Informationsfadens sind in Dreiergruppen hintereinander angeordnet, bilden also gewissermaßen lauter Wörter aus drei Buchstaben. Lesemoleküle der Zelle nehmen sich dann der Reihe nach jede Dreiergruppe vor und Übersetzen sie in einen Zellbaustein. Es gibt vierundsechzig Dreiergruppen oder »Wörter«, von denen einige allerdings dieselbe Bedeutung haben. Mit ihnen sind alle Bau- und Arbeitspläne der Zellen geschrieben.

Ein bildhaftes Beispiel: Die vier Säurebausteine (»Buchstaben« oder Basen) heißen abgekürzt A (für Adenin). C (für Cytosin) , G (für Guanin) und T (für Thymin). Angenommen, ein Stückchen eines solchen Informationsfadens besteht aus der erfundenen Reihenfolge CCCGTTAAG. Sehr stark vereinfacht gesagt, erkennt der Leseapparat: CCC = Fett. GTT = am. AAG = Fuß. Heraus kommt also: Fett am Fuß. Es handelt sich um eine der Fettzellen, die am Anfang des Kapitels erwähnt wurden.

Die übersetzten Dreiergruppen ergeben in Wirklichkeit natürlich keine Worte oder Anweisungen. Die Zelle benutzt stattdessen Moleküle. Das macht aber eigentlich keinen Unterschied. Fett könnte wirklich entstehen, wenn auch nicht genau wie im angeführten Beispiel. Es sind einige molekulare Umwege nötig, und die Zelle braucht dazu eine Kette von mindestens zehntausend »Buchstaben« (das sind ungefähr dreißig Seiten dieses Buches). Die meisten Anleitungen in lebenden Zellen sind noch viel länger. Sie enthalten sogar Bereiche mit wirren Zeichenkombinationen, die der Leseapparat nicht versteht und durch Tricks »überspringen« muss.

Die Übersetzung der Anweisung in der DNA kann heutzutage schon jeder Schüler durchführen. Dazu nimmt man eine Zelle, bringt sie zum Platzen, zieht den Informationsfaden heraus, indem man Alkohol daraufgießt, und steckt den Faden in ein Plastikröhrchen mit einer Salzlösung. Das Röhrchen kommt in einen Apparat, der gerade halb so groß ist wie eine Waschmaschine. Das Gerät erkennt die »Buchstaben« A, C, G und T und druckt sie der Reihe nach aus. Steckt man das Röhrchen abends in diese Maschine, so ist am nächsten Morgen eine Seite mit einer Unmenge von C, G, A und T fertig gestellt. Wenn man Lust hat, kann man die Dreiergruppen nun selbst lesen. (Im Normalfall überlässt man diese Arbeit jedoch einem Computerprogramm. Es übersetzt oft genauer und stets schneller als ein Mensch.)

Obwohl die Geheimschrift der Zelle beeindruckend ist, sollte uns die dahinter steckende Idee vertraut sein: Auch Menschen verschlüsseln jeden Tag Dinge in einem Code aus Buchstaben. Dass es wirklich ein Code ist, merkt man daran, dass nicht jeder ihn versteht. Das Wort líomóid bedeutet Zitrone. Im Westen Irlands würde jeder wissen, was gemeint ist; der Sprachcode ist dort eben anders als hier.

Heute gibt es ein Wörterbuch für die Zellsprache. Man nennt es oft Codon-Sonne, weil die Dreiergruppen aus Säurebausteinen »Codons« genannt werden und das Schema mit etwas Phantasie wie die Sonne aussieht. Die Übersetzungsregeln der Codon-Sonne sind sehr einfach. Der Grundsatz »Je einfacher, desto besser« gilt in der Natur genauso wie im Alltag. Je einfacher und eleganter etwas aufgebaut ist, desto besser funktioniert es.

Wo auf dem Säurefaden liegt nun die Information für Altern und Sterben? Das erste Problem: Wenn ich die DNA aus einer einzelnen Zelle herausziehen möchte, um diese Anweisungen zu suchen, habe ich drei Probleme: Meine Finger sind zu dick, meine Arme zu kurz und meine Augen zu schwach.

Der Faden ist so dünn, dass ich ihn nicht mit den Fingern festhalten kann. Aus dem gleichen Grund kann ich ihn nicht sehen. Sogar das stärkste Vergrößerungsglas ist zu schwach dafür. Meine Arme sind zu kurz, weil der Faden einer einzigen Zelle zwei Meter lang ist – ich kann ihn nicht am Stück herausziehen. Eigentlich kommt noch ein vierter körperlicher Mangel hinzu. Mein Gehirn ist zu schwach. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein zwei Meter langer Säurefaden in einer Zelle liegt, die so klein ist, dass ich sie mit bloßem Auge nicht einmal sehen kann.

Eine weit ernstere Hürde besteht darin, dass die auf dem DNA-Molekül gesuchte Information so winzig ist. Strecken Sie zwei Meter Zwirn quer über den Tisch aus. Der Zwirn soll die DNA sein. Pieksen Sie mit einer Nähnadel in eine beliebige Stelle des Fadens. Wäre der Faden DNA, so hätten Sie mit einer Handbewegung bis zu fünfzehn Bauanweisungen für verschiedene Zellbestandteile aufgespießt. Diese »Bauanweisungen für Zellbestandteile« nennt man Gene. Manchmal ist ein Gen wirklich dasselbe wie exakt eine Anleitung, meist braucht der Körper aber viele Gene und zusätzlich DNA-Bereiche als Vorlage für ein einzelnes Endprodukt, beispielsweise ein Barthaar oder einen Knochen.

Gene, die zusammengehören oder sich ähneln, müssen nicht nebeneinander liegen. Es ist wie mit einem mehrbändigen Lexikon. Sie können alle Bände voneinander getrennt in der Wohnung aufstellen. Solange Sie die Standorte der Bücher im Gedächtnis behalten, können Sie auf jedes gewünschte Stichwort samt Querverweisen nachschlagen. Auch die Zelle weiß, wo auf der DNA die gewünschten zusammengehörigen Informationen liegen, und bringt sie zueinander.

Zurück zum Experiment mit der Zwirnfaden-DNA. Mit der Nadelspitze haben Sie soeben bis zu fünfzehn Gene aufgespießt. (Sie hatten dabei Glück, denn über 90 Prozent der DNA bestehen aus Nicht-Genen, deren Sinn uns bis heute verborgen ist.) Stellen Sie sich vor, jedes der getroffenen Gene habe eine Nummer, von 1 bis 15. Jede Nummer, also jedes Gen, ist eine Bauanleitung für eine Zutat in einem körpereigenen Rezept. Alle fünfzehn Zutaten ergeben gemeinsam ein nützliches Gesamtes, etwa das Rezept für Teile einer lichtempfindlichen Zelle im Auge oder für ein winziges Hohlkügelchen in der Zelle, das Moleküle transportiert.

Insgesamt enthält der Faden mehrere zehntausend verschiedene Rezeptteile. Stellen Sie sich vor, wie oft Sie in den Faden stechen können, ohne dieselben Zellrezepte ein zweites Mal zu berühren! Und wenn Sie oft genug zustechen, haben Sie auch das Rezept für »Altern ab dem fünfundzwanzigsten Lebensjahr« getroffen. Wie kann man ein solches Rezept im echten DNA-Faden finden?

Mit Elektronenmikroskopen gelingt es, einzelne zarte Säurefäden sichtbar zu machen. Leider sind sie durch die notwendige Vorbehandlung mit einer dicken Metallschicht zugeschüttet. In Wirklichkeit erkennt man also nur das Metall, das darüber geschichtet ist. Auch hier ist die Information für »Altern« noch nicht zu sehen. Was tun?

Eine alte Genetikerregel lautet: Du findest ein Gen am besten, wenn du dir eine lebende Zelle anschaust, in der das gesuchte Gen nicht mehr arbeitet. Das hört sich widersprüchlich an, es funktioniert aber: Eine Zelle, die anders ist als alle anderen, ist oft leicht zu erkennen. Um das Gen für Altern zu finden, warte ich, bis eine Zelle auftaucht, die nicht altert.

Solche Zellen gibt es. Meistens ist ihr Auftreten jedoch kein Anlass zur Freude. Im Gegenteil. Meistens sind unsterbliche Zellen nichts anderes als Krebszellen.

Wie man aus Bananen DNA gewinnt

Irgendwo in der Erbsubstanz sitzen die Anweisungen für das Altern und Sterben. Wenn man aus einem solchen DNA-Faden die unerwünschten Alterungsbefehle herausschneidet, sollte ein unsterbliches Lebewesen entstehen – möchte man meinen. Dazu muss man zunächst an den Erbfaden gelangen. Eine einfache Methode der DNA-Gewinnung hat der Autor selbst erdacht und erprobt. Man nehme:

1/4 reife Banane

2 1/2 EL Kochsalz

ein dünner Schaschlikspieß (Holz)

einen Esslöffel hochwertiges Vollwaschmittel

Brennspiritus

Bananenviertel mit einer Gabel zerdrücken. Brei in ein Glas (0,3 Liter) geben, mit Leitungswasser auffüllen und einen Esslöffel hochwertiges Vollwaschmittel sowie 2 1/2 gehäufte EL Kochsalz zugeben. Kurz aufkochen umrühren, vom Herd nehmen. Abkühlen lassen und einen Schuss Brennspiritus zugeben. Mit dem Spieß (Spitze auf dem Boden des Glases) langsam rechtsherum rühren.

Um die Spitze wickelt sich nach kurzer Zeit eine geringe, aber gut sichtbare Menge einer gelatineartigen Substanz. Jetzt zieht man die Bleistiftspitze am Rand des Glases nach oben und zupft die Masse ab.

Man kann mehrmals in dem Bananen-Salz-Cocktail fischen. Immer wieder wickeln sich einige tausend Informationsfäden aus DNA und viele Proteine um die Bleistiftspitze. Würde man auf dieser DNA den Todescode finden, herausschneiden und den Rest des Informationsfadens wieder in eine Zelle einbauen, entstünde ein unsterblicher Bananenbaum.

(Der Versuch ist ungefährlich. Wenn Sie die DNA nicht herausgefischt hätten, hätten Sie diese zusammen mit der restlichen Banane verspeist.)

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