Diversity-Management als Dimension kirchlicher Personalentwicklung

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Lebensführungstypen Deutschland 2015

20-29-jährige Frauen und Männer, katholisch,

gläubig-religiös=trifft voll und ganz zu

n=137, gewichtet


Abbildung 12: Synpose „Soziales Feld der Pfarrei - Zielgruppe“, eigene Darstellung.

Das soziale Feld der klassischen Pfarrei zeigt sich phänotypisch in der gegenwärtigen pastoralen Realität u.a. als eine nach außen sichtbare Verschmelzung des patriarchalischen Pfarrer- und Pastoralbildes der pianischen Epoche mit ihrer weit reichenden volkskirchlichen Grundstruktur, einer vielgliedrigen Pfarreistruktur der Nachkriegszeit (Gemeinden, Schulen und Verbände als Bollwerke gegen die Säkularisierung bzw. die Errichtung von Kirchen „in Ruf- und Reichweite“), in der die Frömmigkeitsformen des 19. Jahrhunderts fortdauern (durchaus in moderner Variation), eines nicht vollständig eingelösten diakonischen Kirchenverständnisses des Zweiten Vatikanischen Konzils (LG1) und einer Gemeindeidee, in der die „Hoffnungsgemeinschaft“ der Würzburger Synode vielfach in einem pfarrfamiliären Teilhabe- und Mitmachdiskurs aufgegangen ist. Das heißt: In dieser Regelform von Pfarrei, Gemeinden und Verbänden spielen Familien- und Harmoniewerte, flankiert von einem postmateriellen Wachstumsverständnis der ausgehenden 1980er Jahre, die zentrale Rolle und weisen trotz der rasanten gesellschaftlichen Entwicklungen der Spätmoderne/Nachmoderne eine erstaunliche Stabilität auf – bei sinkenden Partizipationszahlen.

Es wundert kaum, dass die Kernzielgruppe kirchlicher Personalgewinnung, die hier empirische eingekreist wird in Bezug auf Religiosität und die damit korrespondierenden konventionellen Formen kirchlicher Gemeinden dem sozialen Feld dieser kirchlichen Gemeinden sehr nah ist. Das lebensstilistische Religiositätsparadigma der Kernzielgruppe junger Erwachsener scheint mit dem sozialen Feld von „Gemeinde“ und den darin praktizierten Vollzügen in den Bereichen Liturgie, Diakonie, Verkündigung und Vergemeinschaftung sehr kongruent zu sein. Das heißt aber auch, dass die prophetische Kraft und das ekklesiogenetische Potenzial derjenigen, die sich in der Phase der biografischen Offenheit befinden, von Seiten der kirchlichen Personalgewinnung (Berufungspastoral) praktisch kaum abgerufen werden kann. Denn die Zielgruppe junger, moderner, akademisch-intellektueller Frauen und Männer, die sich als moderat religiös bezeichnen (Intellektuelle, Avantgardisten, Leistungsorientierte und Pragmatische, jeweils ca. 14%) kommt für kirchliche Personalgewinnung grundsätzlich in Frage. Wenn das gegenwärtige kirchliche System mit Blick auf den Zulassungs- und Erlaubnisdiskurs kirchlicher Zugehörigkeit innerhalb der Pfarreien und Gemeinden jedoch verlangt, dass hohe Religiosität und das korrekte Glaubensbekenntnis die zentralen Schlüssel sind, um in diesen (Ausbildungs-)Diskurs einsteigen zu können, sind hier die Chancen der Personalgewinnung als schwach einzuordnen. Die qualitativen Befunde unserer Studie weisen diesbezüglich deutliche Exit-Tendenzen auf.11

Zu diskutieren wäre auch der Zulassungs- und Erlaubnisdiskurs innerhalb der kirchlichen Dienste hinsichtlich der Lebensformen, insbesondere mit Blick auf die zölibatäre Lebensform und mit Umgang der Vitalitätsthemen junger Erwachsener.

Schlussfolgerungen

Es ist genau zu schauen, mit welchen psychosozialen Ressourcen junge Frauen und Männer kommen, die sich für einen kirchlichen Beruf interessieren. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass vielfach junge Leute in die Studiengänge, Seminare und Institute kommen, die nach außen einen sehr reifen, erwachsenen Eindruck machen, nach innen jedoch ein hohes Entwicklungspotenzial bzw. einen hohen Entwicklungsbedarf haben. Personalauswahl muss bereits vor Studienbeginn die individuelle Reife in den Blick nehmen. Justierungen wären möglich durch: a) Festlegung eines Mindestalters, b) Überprüfung der Standards im Auswahlverfahren (psychologische Tests, u.a.), c) Studiendauer, besonders mit Blick auf die KatHO Paderborn (lediglich sechssemestriges Studium), d) offensives Werben über die Aufnahme eines (geförderten) Zweitstudiums.

Wenn die Befunde grundsätzlich stimmen, dann scheinen vor allem Frauen für das Religiositätsthema affin zu sein, weniger Männer. Das hat Auswirkung auf die Priesterberufungen (mit Blick auf die wenigen Männer!) und Laienberufungen. Besonders mit Blick auf Priesterberufungen unter jungen Männern ist hier höchste Sorgfalt auf die Personalauswahl zu legen, denn aus dem Pool der wenigen Kandidaten müssen auf absehbare Zeit Führungskräfte hervorgehen können. Führungskräfteentwicklung fängt mit Berufungspastoral an.12

Damit verbunden ist auch eine (kritische) Beleuchtung des Images und der Imageentwicklung pastoraler Berufe, vor allem mit Blick auf die Tendenzen der Feminisierung der Spiritualität im Zuge der pianischen Epoche und der Prägung priesterlicher Rollenmuster an der Schnittstelle von Männlichkeit/Weiblichkeit (Androgynität), Sexualität/Zölibat, und der Alltagsinszenierung (auch im liturgischen Feld).

Es ist zu konstatieren, dass die derzeitigen Modelle kirchlicher Gemeinden mit hoher Wahrscheinlichkeit eine hohe Anziehungskraft auf religiös-gläubige junge Frauen und Männer ausüben. Diese Gruppe des kirchlichen Mainstreams befindet sich gesamtgesellschaftlich jedoch in der Minderheit. Es besteht die Gefahr, dass die Reproduktion konventioneller kirchlicher Vollzugs- und Vergemeinschaftungsformen (Stichwort: Pfarrfamilie) ungefiltert weiterlaufen wird. Vor dem Hintergrund des Forschungstitels „Diversity Management als Dimension kirchlicher Personalentwicklung“ muss hier in besonderer Weise interveniert bzw. investiert werden.

Daher muss genau betrachtet werden, wie die Muster der beruflichen Motivation in der Zielgruppe aussehen, auf welche Leitidee junge Frauen und Männer Seelsorgende werden möchten.

Ein Kennzeichen gegenwärtiger Hauskulturen in den Ausbildungsstätten ist ein Rollen- und Beziehungssystem, das autoritative und hierarchische Merkmale aufweist. Subkutan haben wir es in vielen Fällen mit infantilisierten Bildungsund Erziehungsmustern zu tun, die sich in entsprechenden Interaktionen aller Akteure (Studierende, Hausleitung, usw.) niederschlagen. Mit Blick auf die Entwicklungsaufgaben junger Männer und Frauen müssen die Hauskulturen sich von den überkommenen, nachtridentinischen Mustern seelsorglicher Ausbildung verabschieden und sich zum Ziel setzen, autonome, freie und reife Persönlichkeiten zu erziehen.

Es ist unerlässlich, im Rahmen der gesamten derzeitigen Ausbildung das Thema der Persönlichkeitsentwicklung und der menschlichen Reife sehr genau und kontinuierlich in den Blick zu nehmen. Die Ausbildungshäuser dürfen nicht Komfortzonen mit einem sehr komfortablen, bekömmlichen Ausbildungssetting sein. Dies gilt auch für studienbegleitende kirchliche Institutionen (Studierendengemeinden, Kollegs, Wohnheime). Ausbildungsinstitutionen bieten ein höchst produktives Reizklima als Lern –und Reifungsklima an.

Der gesamte Ausbildungsbereich der Persönlichkeitsentwicklung nimmt daher die Vitalitätsthemen menschlicher Entwicklung in den Blick. Aus unserer Erfahrung speilen hier Leitung, Macht, Spiritualität, Sexualität, Sein und Haben in der gesamten Interaktionsbreite eine fundamentale Rolle. Dazu zählt auch der konstruktive und produktive Umgange mit Homosexualität. Die konstruktive Bearbeitung dieser Themen ist in der Phase der Postadoleszenz nicht nur unvermeidlich, sondern mit Blick auf die gesunde und ganzheitliche Persönlichkeitsentwicklung mit dem Ziel einer umfassenden psychosozialen Beziehungsfähigkeit unerlässlich. Diese Themen dürfen weder spiritualisiert noch marginalisiert werden noch andere Themen zum Oper fallen. Das heißt genau: diese Themen sind nur bedingt im Forum internum zu bearbeiten, sondern haben ihren sinnvollen Ort im Forum externum; auch in entsprechenden Studienfächern. Es geht um die zentrale Frage der individuellen psychosozialen Befähigung zum pastoralen Dienst, der in vielfacher Hinsicht Beziehungsarbeit ist.

Die einzelnen Etappenwechsel im Rahmen pastoraler Ausbildung müssen formal (Studienabschlüsse, Prüfungsleistungen usw.) und informell (Übergänge, Ortswechsel) deutlich stärker als mögliche Exit-Punkte markiert werden. Dazu gehört entsprechende Gesprächsbegleitung bzw. ein Mentorat/Coaching durch Fachkräfte, um von beiden Seiten zu entsprechenden Zeitpunkten eine Exit-Strategie zu entwickeln.

Die gesamte Berufungspastoral darf sich nicht ausschließlich auf den Komfortbereich der ohnehin Berufenen verlassen, um hier zukünftig Mitarbeitende zu gewinnen. Der Berufungsbegriff – auch der Berufungsbegriff in der Nachfolge Jesu – muss auf Postmodernität hin variiert und optimiert werden, um das Potenzial der Zielgruppe in der Phase der biografischen Offenheit zu entdecken. Hier muss Berufungspastoral intelligent kampagnenfähig werden. Die gegenwärtigen Ansätze eines freiwilligen sozialen Jahres in der Seelsorge sind begrüßenswert, jedoch ist auch hier genau zu schauen, auf welche Leitidee von Kirche-Sein dieses FSJ inhaltlich, formal (Einsatzbereich) und hinsichtlich der Begleitung junger Frauen und Männer abzielt. Gleiches gilt für die Ausrichtung studentischer Wohnheime in kirchlicher Trägerschaft.

Das Pastoralbild muss zudem vielfach dekliniert werden, um Seelsorge auch für diejenigen als attraktives Arbeitsfeld anzubieten, die nicht im kirchlichen Mainstream der „Religiös-Gläubigen“ befinden. Hierzu wurden schon im Pilotbericht Hinweise auf den unlängst fälligen Kulturwandel einer diversen, diakonischen Sozialgestalt kirchlicher Orte und Gelegenheiten gegeben. Ein Paradigmenwechsel in der gesamten pastoralen Strategie im deutschsprachigen Katholizismus ist unabdingbar und muss von Kirchenleitung wie –basis gewollt sein und gefördert werden.

 

Literatur

Crottogini, J., Werden und Krise des Priesterberufes. Eine psychologischpädagogische Untersuchung über den Priesternachwuchs in verschiedenen Ländern Europas, Einsiedeln 1955.

Feeser-Lichterfeld, U., Berufung. Eine praktisch-theologische Studie zu Revitalisierung einer pastoralen Grunddimension, Münster 2004 (Theologie und Praxis 26).

Oerter, R., Montada, L. (Hgg.), Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch. Weinheim 1998 (4. Auflage).

Pollack, D., Müller, P., Religionsmonitor, Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland, Bielefeld 2013.

Schmidtchen, G. Umfrage unter Priesteramtskandidaten. Forschungsbericht des Instituts für Demoskopie Allensbach über eine im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz durchgeführten Erhebung, Freiburg i.Br. 1975.

Zulehner, P.M., Priester im Modernisierungsstress. Forschungsbericht der Studie Priester 2000©, Ostfildern 2001.

Tabellen

Tabelle 2: Lebensstile und Religiosität (Daten: best4planning II 2014)



Tabelle 3: Konfigurationsfrequenzanalyse: Religion und Wertedimensionen. Quelle: best4planning II 2014




Zur Erklärung:

Konfigurationsfrequenzanalysen (KFA): Mit Hilfe der KFA wird anhand der beobachteten (empirical cell counts) und erwarteten (expected cell counts) Zellenbelegungen (zellinternes chi2) analysiert, ob die Häufigkeit eines Merkmals in einer bestimmten Gruppe im Vergleich zu anderen Gruppen signifikant überoder unterrepräsentiert ist und damit kennzeichnend (Type/Antitype) ist oder zufällig. In der Spalte p-value ist das Signifikanzniveau ablesbar. Die auffälligen Werte sind fett gedruckt.

Berechnet mit SPSS 23 und dem KFA-Dialog für SPSS von Hans Grüner, TU Berlin:

* Dialog for a configural frequency analysis according to von Eye and Krauth.

* Notes: 1. A maximum of five controls is possible.

* 2. The dialog can deal with sampling and structural zeros.

* Author: Hans Grüner (http://gruener.userpage.fu-berlin.de)

* Last change: December 17, 2014.

Tabelle 4: Soziodemografische Daten; Quelle: best4planning II 2014.


Tabelle 5: Religiosität und Geschlecht im ALLBUS: Maße der zentralen Tendenz. Quelle: GESIS- Datenarchiv, ALLBUS 2012 (Studiennummer 4614).




1 Crottogini, J., Werden und Krise des Priesterberufes. Eine psychologisch-pädagogische Untersuchung über den Priesternachwuchs in verschiedenen Ländern Europas, Einsiedeln 1955. In den Studienberichten dieses Bandes wird des Öfteren auf die Pionierarbeit Crottoginis verwiesen.

2 Schmidtchen, G., Umfrage unter Priesteramtskandidaten. Forschungsbericht des Instituts für Demoskopie Allensbach über eine im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz durchgeführten Erhebung, Freiburg i.Br. 1975.

3 Zulehner, P.M., Priester im Modernisierungsstress. Forschungsbericht der Studie Priester 2000©, Ostfildern 2001.

4 Feeser-Lichterfeld, U., Berufung. Eine praktisch-theologische Studie zu Revitalisierung einer pastoralen Grunddimension, Münster 2004 (Theologie und Praxis 26).

5 Vgl. hierzu und im Folgenden die Tabelle im Anhang.

6 Mithilfe der Konfigurationsfrequenzanalyse (KFA) wird auf chi2-Basis für jede einzelne Item-Konfiguration die rechnerisch erwartbare und die tatsächlich gemessene Verteilung (Frequenz) ermittelt. Signifikante Abweichungen können als typisches Syndrom bzw. Merkmal für die jeweilige Gruppe betrachtet werden.

7 Vgl. hierzu klassisch die Entwicklungsaufgaben nach Havighurst, in: Oerter, R., Montada, L. (Hgg.), Entwicklungspsychologie. Ein Lehrbuch. Weinheim 1998 (4. Auflage), S. 120ff.

8 Pollack, D., Müller, P., Religionsmonitor, Religiosität und Zusammenhalt in Deutschland, Bielefeld 2013, S. 19.

9 GESIS-Leibniz Institut für Sozialwissenschaften (2013): Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften ALLBUS 2012. GESIS Datenarchiv, Köln ZA4614, Datenfile Version 1.1.1, doi:10.4232/1.11753. Tabelle im Anhang.

10 Siehe Tabellen im Anhang.

11 Vgl. hierzu den Teilbericht zu Kirchenkulturen und Kulturen der Ausbildungshäuser.

12 Vgl. hierzu auch den Studienbericht 6 zu den Ergebnissen der deutschen Seelsorgestudie, besonders hinsichtlich der sozial-emotionalen Bindung.

Menschliche Reife: Persönlichkeitsentwicklung und (Homo-)Sexualität

Abstract: Das Themenfeld „Sexualität, Kirche und kirchliche Berufe“ wird im Lauf der Geschichte der kirchlichen Professionsforschung unterschiedlich intensiv betrachtet. Die qualitativen Interviews in unserer Studie zeigen, dass vor allem das Thema Homosexualität in der Ausbildung von Seelsorgenden, besonders mit Blick auf die Priesterausbildung, eine essentielle Rolle spielt und daher besondere Beachtung verdient. Der hier vorliegende Artikel beinhaltet zwei Schwerpunkten. In einem ersten Teil zeigt der Beitrag den gegenwärtigen Erkenntnisstand der humanwissenschaftlich-epigenetischen Forschung zum Phänomen „Homosexualität“ auf. In einem zweiten Teil werden die qualitativen Befunde aus den Interviews mit Blick auf die jeweilige Berufungsbiografie und mit Blick auf kirchliche Unternehmenskultur, wie sie exemplarisch in der Ausbildungskultur sichtbar wird, dargestellt und analysiert.

Einleitung: Kirche und Sexualität

Das Themenfeld „Sexualität, Kirche und kirchliche Berufe“ ist in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer wieder in den Mittelpunkt der kirchlichtheologischen Diskurse gerückt.

„Die katholische Kirche hat sich in vielfacher Weise zu Fragen der Sexualität geäußert. In ihren sozialethischen Rundschreiben der letzten Jahrzehnte bekundet sie durchaus eine Offenheit für progressive Wege; im Bereich der individuellen Sexualmoral jedoch scheint sie eher eine idealistische, von der Realität abgehobene menschenferne Position zu beziehen“1

schreibt der Moraltheologe Johannes Gründel Mitte der 1990er Jahre.

„Dabei steht das Thema Homosexualität in der Ethik in besonderer Weise zur Diskussion. Angesichts der vielschichtigen möglichen Ursprünge einer homosexuellen Ausrichtung bedarf es einer neuen, differenzierten Bewertung.“2

Mit Blick auf die Geschichte der christlichen Sexualmoral schreibt Gründel, dass der biologische Akzent menschlicher Sexualität insgesamt zu stark betont wurde, der personale Gehalt als der eigentlich wertende Faktor aber zu kurz kommt. Biologische Gegebenheiten sind vielfach der Maßstab sittlicher Wertungen; gleichwohl muss, so Gründel, der eigenverantwortlichen kulturellen Formung und Gestaltung der eigenen Sexualität Raum gegeben werden:

„Dem Menschen ist nach allgemeinem und auch christlichem Verständnis die kulturelle Formung und Gestaltung der Naturgegebenheiten als ethische Aufgabe zugewiesen. Dies bedeutet, daß er auch die ihm zukommende Sexualität zuinnerst anzunehmen und zu formen, d.h. im Rahmen personaler Beziehungen entsprechend ‚human’ zu gestalten hat. Für die sittliche Bewertung solcher Beziehungen spielen die zugrundeliegenden personalen Beziehungen zwar nicht die einzige, aber doch eine entscheidende Rolle.“3

Die deutsche Seelsorgestudie stellt fest, dass hinsichtlich des Verzichts auf Sexualität, der Zölibat mehrheitlich positiv gesehen wird, gleichwohl ein Viertel der befragten Priester die zölibatäre Lebensform nicht wieder wählen würden und knapp ein Drittel der Priester im Umgang mit dem Zölibat bzw. Verzicht auf Sexualität Probleme hat.4 Der Verzicht auf Sexualität stellt aber für mehr als die Hälfte der befragten Priester eine große Herausforderung dar. Der renommierte Pastoralpsychologe und Psychotherapeut Wunibald Müller beschreibt, dass die Gefahr seelischer Erkrankung im Zuge des Verzichts auf genitale Sexualität darin besteht,

„…wenn jemand für eine lange Zeit oder gar ein Leben lang auf die Erfahrung von Intimität verzichten muss. Für den Priester ist es daher wichtig, nicht nur Beziehungen in seiner Pfarrei zu unterhalten, sondern auch in innigen Beziehungen zu Männern und Frauen zu stehen, die ihn herausfordern, in denen er so sein darf, wie er ist, in denen er auch die Möglichkeit hat, in seiner Beziehungs- und Intimtitätsfähigkeit zu wachsen und sich verwundbar zu machen. Das gilt für den heterosexuellen wie für den homosexuellen Priester. Sie sollten eine mit ihrem Amt und ihrem Auftrag in Einklang zu bringende legitime Form von Intimität erfahren und eine Lebenskultur entwickeln, die dazu beiträgt, dass diese Erfahrung von Intimität sich segensreich für ihren Dienst und ihre zölibatäre Lebensform auswirkt.“5

Kirche und Homosexualität

Dass das Thema Homosexualität gegenwärtig in der Personalentwicklung von Seelsorgenden eine wichtige Rolle spielt, zeigt exemplarisch eine aktuelle Publikation von Gerhard Schneider, in der er die Institution des Priesterseminars in den Blick nimmt und auf die Tauglichkeit für die Priesterbildung hin befragt. Das Themenfeld Homosexualität gerät dabei vor allem vor dem Hintergrund des sozialen Systems des Seminars an sich und vor dem Hintergrund des Missbrauchsskandals 2010 (der die gesamte Dekade andauern wird) in den Focus seiner Darstellungen.6

In zahlreichen Interviews und Darstellungen reflektiert Wunibald Müller seine Erfahrungen, die er in der therapeutischen Begleitung zahlreicher Seelsorgender im Recollectio-Haus der Benediktinerabtei Münsterschwarzach gemacht hat. Seine Reflexionen beziehen sich vielfach auf die Dynamik von Sexualität/Intimität und Zölibat, aber auch die Frage nach dem Spannungsfeld von Sexualität bzw. Homosexualität und Kirche bzw. kirchliche Berufe.7

Im Mittelpunkt der beiden von Papst Franziskus einberufenen Bischofssynoden 2014 und 2015 im Vatikan stand das Thema „Ehe und Familie“. Der Themenbereich Sexualität/Homosexualität bildete dabei ein Unterthema der synodalen Beratungen. Im Kontext der ersten synodalen Beratungsperiode erschien im Herbst 2014 ein Sonderheft der Herder-Korrespondenz, in dem verschiedene Autoren aus dem Blickwinkel ihrer jeweiligen Disziplin auf das Themenfeld „Kirche und Sexualität“ schauen. Hervorzuheben ist hierbei der Beitrag des Mainzer Moraltheologen Stephan Goertz, der für einen Perspektivwechsel in der Beurteilung von Homosexualität plädiert.8 Ähnlich wie zuvor Gründel zeichnet Goertz biblisch-theologische und lehramtliche Perspektiven in der Wahrnehmung und Beurteilung von Homosexualität nach und überprüft diese aus moraltheologischer Sicht. Dabei spielt die Kontextualisierung auf die Gegenwart eine bedeutende Rolle, nämlich hinsichtlich des Verständnisses von Liebe und Liebesbeziehung, die in der Sexualität ihre Sinnerfüllung finden – nicht nur in der Zeugung von Nachwuchs. Diese Argumentation klingt bei Gründel zwanzig Jahre zuvor schon an, nämlich die Unterscheidung von Liebe und Sexualität zwecks Zeugung von Nachkommenschaft und der Gestaltung einer ganzheitlichpersonalen Beziehung.

 

Für den gesamten Diskurs zum Themenfeld „Homosexualität und Kirche“ ist gegenwärtig die Aufsatzsammlung Goertz’ aus dem Jahr 2015 relevant, in der diese Fragestellung aus exegetischer, humanwissenschaftlicher und theologischethischer Sicht beleuchtet wird.9 Hier scheint ein bedeutender Aufsatzband vorzuliegen, der das Ziel hat, den moraltheologischen Diskurs weiter zu entwickeln. Wunibald Müller zeichnet in einer Buchrezension die wesentlichen Linien der Buchpublikation Goertz’ nach:

Aus exegetischer Sicht wird oftmals ignoriert, in welchem Zusammenhang homosexuelle Handlungen im ersten und zweiten Testament gesehen werden müssen.

„Hier, so stellen sie (die Autoren, MS) fest, ist nicht von Homosexualität, wie wir sie heute verstehen, die Rede. Die biblischen Autoren kennen nicht unser Verständnis von Homosexualität als eine sexuelle Identität oder Orientierung, die nicht veränderbar ist – und demzufolge verurteilen sie nicht Homosexualität, wie wir sie heute verstehen.“10

Aus humanwissenschaftlicher Perspektive kann „an der Existenz einer biologischen Prädisposition der sexuellen Orientierung, ob heterosexuell oder homosexuell (manche würden auch bisexuell ergänzen), kein vernünftiger Zweifel bestehen.“11

Aus sexualmedizinischer Sicht ist hervorzuheben, dass Homosexualität nicht krankhaft ist. „Homosexuelle Menschen“, so Müller, „leiden nicht an der Ausprägung ihrer sexuellen Orientierung, sondern an den Folgen einer gesellschaftlichen Norm darüber, die die homosexuelle Orientierung als anormal, krankhaft, widernatürlich einstuft.“12

Müller stellt als wesentliche Linie für die ethische Bewertung von Homosexualität heraus, Sexualität insgesamt vor dem Paradigma der Personalinterpretation genitaler Komplementarität, zu betrachten. Das bedeutet, die körperlich-genitale Sexualität in den Kontext der ganzen Person zu setzen und nicht nur im biologisch-physischen Kontext des genitalen Geschlechtsakt (mit dem Ziel der Fortpflanzung bzw. Zeugung von Nachkommen) zu sehen und zu bewerten. Der Begriff „Personale Komplementarität“ umfasst dabei die ganzheitliche Anerkennung, Integration und das Teilen des personalverkörperten Selbst mit einem anderen verkörperten Selbst.13

„Die Verfasser schließen daraus, dass das Urteil, ob ein bestimmter Akt moralisch ist oder nicht, auf der Grundlage seiner Konsequenzen für das menschliche Wohlergehen innerhalb einer bestimmten interpersonalen Beziehung gefällt werden muss.“14

Das Themenfeld Sexualität und Homosexualität in der Professionsforschung

In der sozialwissenschaftlichen Geschichte zur Erforschung von Dienst und Leben der Seelsorgenden spielt das Thema Sexualität als ein wichtiges Vitalitätsthema menschlicher Existenz – auch der Existenz Seelsorgender – keine zentrale Rolle.15

Priesterausbildung in den 1950er Jahren

Jakob Crottogini fragt in den 1950er Jahren für die damaligen Verhältnisse recht klar nach „Eros und Sexus“ als wesentliche Elemente der „Innenwelt“ priesterlicher Existenz.16 Gefragt wurde nach sexuellen Schwierigkeiten im eigenen Leben, darunter Onanie, sexuelle Phantasie, mangelnde Aufklärung, Verhältnis zu Mädchen, Homosexuelle Tendenzen und Ängstlichkeit. Aus den qualitativen Antworten und Kommentaren entwickelt Crottogini folgende Tabelle:

Tabelle 6: Ursachen und Erscheinungsformen der sexuellen Schwierigkeiten in der Crottogini-Studie (ebd. S 149).


Ursachen und Erscheinungsformen der sexuellen SchwierigkeitenSCHWEIZERAUSLÄNDER
abs.%abs.%
Onanie18156,06851,9
Phantasie4413,62015,3
Mangelnde Aufklärung4213,01914,5
Verhältnis zu Mädchen309,31410,7
Homosexuelle Tendenzen144,453,8
Ängstlichkeit123.753,8
Total323100,0131100,0

Die von Crottogini befragten Priesterkandidaten beantworteten für die damaligen zeitlichen Umstände überraschend offen und ausführlich die Fragen zu den einzelnen „Ursachen und Erscheinungsformen“ der „sexuellen Schwierigkeiten“, auch hinsichtlich Homosexualität. Die Anzahl der Nennungen und auch die qualitativen Informationen in den Antworten der Befragten zeigen, dass in den 1950er Jahren Themen der eigenen Sexualität und der sexuellen Entwicklung wichtig waren. In folgender Tabelle17 lassen sich die damaligen qualitativen Antworten hinsichtlich des Entdeckens und des Umgangs mit Homosexualität darstellen:

Tabelle 7: Umgang mit Homosexualität, Crottogini-Studie, eigene Zusammenfassung.


FallUMGANG MIT HOMOSEXUALITÄT: ENTDECKEN, AUSPROBIERENUMGANG ZUR REGULIERUNG, UNTERDRÜCKUNG, ORDNUNG
I 446Sexuelle Schwierigkeit nie von Seiten der Mädchen, wohl aber von Seiten gewisser Kameraden, die mir sympathisch waren. Anblick leicht gekleideter Knaben führt zu sexuellen Regungentägliche Kommunion auch in Zeiten der stärksten Krisen
I 241Ungeordnete Zuneigung zu einem Kameradenkeine Angabe
I 320Stark sexual gerichtetes Verhältnis zu einem Studienkameraden im 14. Und 15. Lebensjahr Innere Lösung schwierigerwurde von Erziehern entdeckt und gelöst
I 345besonders, aber nicht ausschließlich im Internat Hang zur Homosexualität, gewisse Zuneigungen zu jüngeren Kameradenkeine Angabe
1II 4Tendenz zur Homosexualität, die mir erst später zum Bewußtsein kamIch hatte mich aber immer so weit in der Hand, daß andere nicht gefährdet wurden.

Vom Einzelfall ausgehend kann man mindestens vier Strategien im Umgang mit Homosexualität erörtern: Spiritualisierung (tägliche Kommunion), pädagogischer Umgang im Internat/Konvikt (in welcher Form, bleibt offen), selbstständiger Umgang ohne weitere Hilfe, und mit hoher Wahrscheinlichkeit – angesichts der zeitlichen Epoche - die Tabuisierung von Homosexualität (keine Angaben).

Synodenumfragen 1971-1974

In den Synodenumfragen der 1970er Jahre wird die Frage nach der eigenen Sexualität nicht gestellt. Wohl wird nach dem persönlichen Umgang mit der zölibatären Lebensform gefragt, d.h. nach Gründen, die Priesterkandidaten dazu bewegen, das Berufsziel aufzugeben, nach Faktoren für die Kirchenkrise und nach der individuellen Prognose, welche Konflikte und Schwierigkeiten im späteren beruflichen Leben auf einen zukommen.18 Der Umgang mit der eigenen Sexualität bzw. der gesellschaftliche Umgang mit Sexualität ist als Item nicht aufgeführt, wohl aber Items in Bezug auf die Lebensform, auf das Zölibat, Auffassungen über die kirchliche Lehre, Konflikte zwischen modernem Lebensanspruch und göttlichem Willen.19

Empirische Befunde zur Häufigkeit homosexueller Präferenzen unter Priester(-kandidaten)

Mit Bezug auf die Ausführungen Papst Benedikts XVI zur Priesterausbildung im Jahr 2005, in denen er festlegt, dass Männer mit homosexueller Präferenz von der Priesterausbildung und –weihe praktisch ausgeschlossen sind, erkundet Thomas G. Plante von der Santa Clara University (USA) die Häufigkeit homosexueller Präferenzen von Priesterkandidaten.20 Die Stichprobe von 63 Personen fällt sehr klein aus. Der Autor erhebt keinen Anspruch auf Repräsentativität und weist auf die entsprechenden Einschränkungen ausführlich hin. Die Stichprobe zeichnet, so Plante, jedoch aus, dass die gleichen Befragten in einer Vorstudie auf allgemeine psychologische Merkmale hin untersucht worden sind (Soziale Verantwortung, Interpersonelle Empfindsamkeit). Mithilfe des MMPI-2 (Minnesota Multiphasic Personality Inventory -2) untersucht Plante zunächst die Verteilung der sexuellen Präferenz sowie – in Abhängigkeit davon – Unterschiede hinsichtlich psychologischer Konstitutionen. Plante kommt zu dem Schluss, dass 22% der Befragten eine homosexuelle Präferenz aufweisen (78% heterosexuelle Präferenz). Es gibt keine wesentlichen Unterschiede hinsichtlich der psychologischen Verhaltens- und Einstellungsmerkmale – mit Ausnahme, dass homosexuelle Testpersonen höhere Werte auf der MF-Skala und niedrigere Werten auf der Ma-Skala gegenüber heterosexuellen Testpersonen aufweisen.21 Und: homosexuelle Testpersonen sind im Schnitt signifikant älter als heterosexuelle Testpersonen (32,4 Jahre / 27,5 Jahre).22

„Thus, these homosexual men had more gender-feminine interests than the heterosexual men but were less likely to be active, energetic, and outgoing than the heterosexual men. No differences emerged while examining the validity measures (e.g., lying, defensiveness) or any of the other clinical measures such as anxiety, depression, paranoia, social disomfort and so forth.“23

Plantes Studie ist eher als explorative Studie zu verstehen. Er weist auf die kleine Stichprobengröße24 und mögliche andere Einflüsse hin, die zu Messfehlern führen könnten. Ebenfalls ist das MMPI-2-Inventar an sich durchaus kritisch zu sehen.25 Die Befunde Plantes sind daher eher als Hypothesen zu verstehen. Er empfiehlt, ausgehend von seinen Befunden, umfassendere Studien anzufertigen, um die Befunde zu evaluieren.

Deutsche Seelsorgestudie 2012-2014

Derzeit werden die quantitativen und qualitativen Daten der Deutschen Seelsorgestudie ausgewertet. Zwar wurden keine angehenden Seelsorgenden befragt, jedoch wird den im Dienst befindlichen Seelsorgenden erstmals explizit die Frage nach dem Umgang mit der eigenen Sexualität gestellt. Homosexualität wird hingegen aus Sorge vor mangelnder Akzeptanz und Rücksicht auf bestehende Vorbehalte nicht thematisiert.26