Tödliches Saisonende

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Marion Mollenhauer + Ingrid Siano

Tödliches Saisonende

Comer See Kurzkrimi

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Tödliches Saisonende

Impressum

Tödliches Saisonende

Lautlos schwebte ein Käuzchen über dem Burghof des Castello di Vezio am Comer See. Doch es war nicht auf der Jagd. Laute menschliche Stimmen und ungewohnte Geräusche hatten die Stille der Nacht unterbrochen und es aufgeschreckt. Auch die gezähmten Raubvögel, die in einer Voliere hinter dem Burgturm lebten, waren alarmiert. Minuten lang hallte das aufgeregte Kreischen und Krächzen der Tiere durch das alte Gemäuer. Dann beruhigten sie sich wieder und es wurde totenstill. Eine vermummte Gestalt eilte den schmalen Weg zum Burgtor hinunter. Im Schein des blassen Mondes blieben ein paar bewegungslose weiße Figuren im Burghof zurück, die misstrauisch von dem Käuzchen beäugt wurden.

“Porca miseria!” Marco Pollini zog die Schirmmütze tiefer ins Gesicht, um sich vor den dicken Regentropfen zu schützen, die an diesem frühen Oktobermorgen auf Varenna herunter prasselten. Noch am Vortage hatte die Herbstsonne die phantastische Landschaft des Comer Sees vergoldet. Doch heute Morgen war, so weit das Auge reichte, alles diesig und grau. Verdrossen schob Marco eine große, dreiräderige Karre über den Burghof des ehrwürdigen Castello di Vezio, das hoch über dem malerischen Städtchen Varenna aufragte.

Aus dem Dunst tauchten jetzt die Umrisse einiger weißer, gespenstischer Gestalten auf. Regungslos saßen sie auf der Brüstung der Burgmauer oder auf den steinernen Bänken. Manche lehnten sich an die alten Olivenbäume im Burghof, als suchten sie Schutz vor dem Regen. Nur eine der Gestalten lag in merkwürdig verkrümmter Haltung auf dem Boden.

„Na Kollege, du hast wohl gestern Abend zu viel getrunken und bist von der Bank gerutscht?“, grinste Marco und tätschelte der weißen Figur gönnerhaft den Kopf. Dann stellte er seine Karre neben der steinernen Bank ab und schaute sich prüfend um. Auf der anderen Seite des weitläufigen Burghofes war sein Kollege Luca Mazzotta bereits emsig bei der Arbeit. Doch von Giovanni, der erst seit ein paar Wochen hier arbeitete, war weit und breit nichts zu sehen. Sofort sank Marcos Laune wieder auf den Gefrierpunkt und das Grinsen verschwand aus seinem Gesicht. Verärgert schob er seine Schirmmütze wieder in den Nacken und fluchte sofort laut los: „Porco dio!“ Ein Schwall Regenwasser war in seinen Kragen gelaufen und hatte ihn bis aufs Hemd durchnässt. Er schüttelte sich wie eine dicke, nasse Katze und machte sich daran, die unheimlichen Gestalten auf seine Handkarre zu laden.

Die „Gespenster“ wurden alljährlich im Sommer, während des Burgfestivals, von jungen Künstlern hergestellt. Besucher der Burg, die sich freiwillig zur Verfügung stellten, wurden in jeder nur möglichen Körperhaltung mit feuchten Gipsbinden umwickelt. Nachdem der Proband vorsichtig aus dem Gips heraus geschnitten wurde, fügte man die so entstandene Skulptur wieder kunstvoll zusammen und stellte sie als „Schlossgespenst“ im Hof des Castello aus. Jeder, der von Varenna oder vom See aus zum Castello hinauf sah, konnte die gruselig-skurrilen Gestalten schon von Weitem sehen.

Jetzt war die Sommersaison endgültig vorbei. Nur noch wenige Touristen machten sich auf den kurvenreichen Weg zum Castello di Vezio hinauf. Deshalb sollte Marco zusammen mit seinen Kollegen Luca und Giovanni die Figuren einsammeln und entsorgen, bevor Regen und Schnee sie völlig aufweichten und nur eine schlecht zu entfernende, matschige Gipsmasse von ihnen übrig blieb.

Gerade als Marco unzufrieden vor sich hin brummend die erste Figur auf die Karre laden wollte, rief Luca: „Stopp!“ Aufgeregt mit den Armen fuchtelnd kam er auf Marco zu. „Gleich kommt noch ein Bus mit Japanern. Wir sollen noch mit dem Wegräumen der Figuren warten, bis sie wieder abfahren", erklärte er aufgeregt.

Genervt stöhnte Marco auf. Hatte sich heute denn alles gegen ihn verschworen? Ausgerechnet Japaner! Die rannten hinter allem her, was Beine oder Flügel hatte, um es zu fotografieren. Sie stiegen auf die Burgmauer, den Turm oder die Balustrade des Castello und brachten sich dabei in Gefahr. Zum Abschluss der Besichtigungstour fielen sie wie ein Heuschreckenschwarm in Paolas Bar ein. Dann verschwand der ganze Spuk so schnell, wie er gekommen war, weil man schon mittags in Milano Sushi essen wollte. Marco schaute auf seine Armbanduhr. Eigentlich war es Zeit, die Raubvögel zu füttern, die als weitere Touristenattraktion auf der Burg gehalten wurden. Aber mit Aussicht auf den japanischen Reisebus wollte er sich erst mal in der Bar ein oder zwei starke, süße Espressi gönnen. Das Gemeckere von Jan, dem deutschen Falkner, nahm er in Kauf. Der konnte sein Federvieh auch mal selbst versorgen. Das bisschen Training mit den Tieren konnte man, im Gegensatz zu dem was Marco leistete, ja wohl nicht als Arbeit bezeichnen. Aber jeden Tag war es Jan Faber, der den Applaus des Publikums einheimste.

Marco spuckte verächtlich aus. Der gut aussehende, blonde Deutsche war ihm ein Dorn im Auge. Lediglich die recht angenehme Vorstellung, dass Paola, die hübsche Bedienung, ihm bestimmt einen Grappa ausgeben würde, verbesserte seine Laune etwas. Er leckte sich genießerisch die Lippen, als er an ihre üppigen Brüste und ihr knackiges Hinterteil dachte, das sie mit gekonntem Hüftschwung in Szene setzte.

Bis vor Kurzem hatte es so ausgesehen, als würde aus ihm und Paolo ein Paar. Zwar wusste Marco, dass sein schüchterner Kollege Luca auch für Paola schwärmte. Aber den nahm er nicht ernst, der war für ihn keine Konkurrenz. Doch dieser Neue - dieser Giovanni - flirtete so unverschämt frech mit der schönen Kellnerin, dass Marco schon überlegt hatte, ihm bei passender Gelegenheit einfach mal eine reinzuhauen. Das Schlimmste war, dass Paola behauptete, Giovanni sei nur ein Kollege. Aber vor drei Tagen war sie sogar mit ihm ausgegangen. In „aller Freundschaft“ natürlich. Und auch dieser Falkner Jan machte Paola ständig Komplimente.

Unsanft wurde Marco aus seinen Gedanken gerissen. „Mamma mia, da ist er schon, der japanische Touristenschwarm!“, murmelte er. Die Japaner quollen aus dem Bus, eilten aufgeregt schwatzend den schmalen Pfad zum Burghof hinauf und durchkreuzten mit ihrem Dauerlächeln, ihren Kameras, Taschenschirmen und Kapuzenjacken Marcos Espresso- und Grappa-Pläne. Seufzend stapfte er hinter der Touristenhorde her. „Luca! Sag‘ dem Jan Bescheid, dass er sich für die Vorführung fertig machen soll.“ Luca beeilte sich, der Anweisung Folge zu leisten und eilte davon. Er hatte keine Lust, der Blitzableiter für Marcos schlechte Laune zu sein.

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