Grundlagen der Visuellen Kommunikation

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4 Von der Bildbeschreibung zur Bildinterpretation
4.1 Wie beschreibe ich Bilder?

Als wissenschaftliches Handwerk, das von jedem Menschen erlernt werden kann, ist die Bildbeschreibung keine natürlich gegebene Fähigkeit, sondern ein komplexer Prozess, der bis zur Kunstfertigkeit gesteigert werden kann. Dabei ist die Bildbeschreibung kein Selbstzweck, sondern ein Schritt auf dem Weg zur Bildinterpretation. Der Kunsthistoriker und Begründer der ikonografisch-ikonologischen Methode, Erwin Panofsky (1892–1968), widmete dem »Problem der Beschreibung und Inhaltsdeutung von Werken der bildenden Kunst« bereits 1932 einen vielbeachteten und noch immer aktuellen Aufsatz. Darin schlägt er für die Bedeutungsanalyse von Kunstwerken ein Dreischrittschema vor, beginnend mit der Beschreibung, gefolgt von der Bedeutungsanalyse (vgl. Kapitel 4.2) und abgerundet durch die Interpretation (vgl. Kapitel 4.3). Diese Trennung in drei Ebenen ist idealtypisch, denn in der Praxis gibt es oft Überschneidungen zwischen den Beschreibungs-, Analyse- und Interpretationselementen. In Panofskys Worten (1932/1987: 187) wird jede »Deskription […] – gewissermaßen noch ehe sie überhaupt anfängt – die rein formalen Darstellungsfaktoren bereits zu Symbolen von etwas Dargestelltem umgedeutet haben müssen; und damit wächst sie bereits, sie mag es machen wie sie will, aus einer rein formalen Sphäre schon in eine Sinnregion hinauf.«

Hier wird auch deutlich, dass es bei Bildbeschreibung, Bilddeutung und Bildinterpretation um eine interpretative Sinnentschlüsselung von Bildkommunikation geht. Bilder werden als Kommunikate vom Visuellen Kommunikationsforscher analysiert, um Erkenntnisse über den Kommunikationsprozess sowie die kommunizierten Bildbedeutungspotenziale zu gewinnen. Ausgehend von einer theoretischen Fundierung führt der Weg über die Arbeit am Bild und seinen Vorbildern über die Bildbeschreibung und Bedeutungsentschlüsselung zu dessen Interpretation. Dabei ist die Bildanalyse aber keine Einbahnstraße. Bilder enthalten grundsätzlich viele potenzielle Bedeutungs- und Sinnschichten. Die Komplexität dieser Sinnesebenen spiegelt sich in Panofskys Dreischrittschema wider, das auf der folgenden Abb. 14 auf die Bildinterpretation allgemein und nicht nur auf die Interpretation von Kunstwerken angewandt wird.

Die in diesem Kapitel gestellte Frage »Wie beschreibe ich Bilder?« bezieht sich auf die erste Sinnesebene, d. h. auf den Phänomensinn. Als Handwerkszeug basiert diese auf der »vitalen Daseinserfahrung«, die jedoch in der Gestaltungsgeschichte – das bedeutet in Vergleichen mit ähnlichen Motiven und Darstellungsstilen – ihr Korrektiv findet. Denn das Ziel einer wissenschaftlichen Bildbeschreibung ist keine subjektive Deskription des Forschers, sondern eine objektivierbare, für Dritte nachvollziehbare Beschreibung des visuellen Kommunikats. Anders als bei der künstlerischen Bildproduktion, bei der sich die Künstlerin ganz ihrem subjektiven Ausdruckswillen hingeben kann, zielt die Visuelle Kommunikationsforschung auf Bildbeschreibungen, die jenseits eines subjektiven Gefallens oder Missfallens auch Anderen den Inhalt des Bildes und dessen potenzielle Bedeutungen vermitteln können. Dabei setzt die »rein phänomenale Beschreibung […] nun wirklich nichts weiter voraus, als dass wir uns das Bild gut ansehen und es auf Vorstellungen beziehen, die uns aus der Erfahrung geläufig sind« (Panofsky 1932/1987: 190). Für den Einstieg in die Bildbeschreibung ist diese Einsicht motivierend. Was aber heißt, sich das Bild »gut anzusehen«?

Abb. 14: Sinnebenen der Bildinterpretation


Praxistipp: Bildbeschreibung

Notieren Sie Ihre ersten Bildeindrücke noch bevor Sie mit der Bildbeschreibung beginnen. Die Spontanbeschreibung kann ein hilfreiches Korrektiv bei der späteren Bedeutungsentschlüsselung sein, aber auch bei der Interpretation, wenn Sie das Bild schon so verinnerlicht haben, dass das zunächst Neue oder Ungewöhnliche aus dem Blick geraten ist.

Während Sie in der Spontanbeschreibung jedes Detail und jeden Eindruck notieren sollten, ist für die eigentliche Bildbeschreibung nicht jedes Detail gleichermaßen relevant. Konzentrieren Sie sich auf das Wesentliche: Format, Motiv, Komposition, Technik und Qualität. Auch die Blick- und Aufmerksamkeitslenkung sowie die Größenverhältnisse des Dargestellten können in die Beschreibung einbezogen werden.

Sparen Sie sich langwierige Beschreibungen, was Sie tun. Dies gehört, wenn gefordert, in die Einleitung zu Ihrer Hausarbeit. Steigen Sie gleich in die Bildbeschreibung ein. Seien Sie vorsichtig bei der Benutzung von »rechts« und »links«. Wenn es sich bei dem Bild um eine zweidimensionale Fläche handelt, benutzen Sie Richtungsangaben aus Ihrer Perspektive. Wenn Sie allerdings Körperteile beschreiben, dann benutzen Sie die bildimmanente Perspektive der abgebildeten Person und nicht diejenige des Betrachters. Bei Bildpräsentationen vor einem Publikum sollten Sie Seitenzuweisungen – mit Ausnahme von Körperbeschreibungen, wie beispielsweise »ihre linke Hand, sein rechtes Ohr« –immer aus der Sicht des Publikums schildern. Und bedenken Sie bei der Präsentation: Beschreiben Sie nur etwas, das Sie Ihrem Publikum auch zeigen – Bildbeschreibungen ohne die Möglichkeit der eigenen Anschauung sind nicht nur langweilig, sondern meistens auch unsinnig!

Der häufigste Fehler bei der Bildbeschreibung ist die Überinterpretation. Achten Sie daher auf eine sorgfältige Trennung der Beschreibung des Bildinhalts von dessen Interpretation und Bewertung. Versuchen Sie in der Beschreibung so exakt wie möglich zu sein und bei der Begriffswahl so vorzugehen, dass das Beschriebene deutungsoffen bleibt, denn noch befinden Sie sich auf dem Weg zur Bildanalyse und -interpretation. Zentral für eine umfassende Bildbeschreibung sind Format, Technik, Farbigkeit und Qualität des Bildes.

An dem folgenden Beispiel soll die Beschreibung eines Bildes veranschaulicht werden. Zur Interpretation vgl. Kapitel 4.3.

Bildbeschreibung zu Abb. 15

Der hochformatige Stich zeigt zwei menschliche Figuren vor einem Himmel als Hintergrund. Die Bildkomposition ist durch dynamische Diagonalen und einen bildimmanenten Perspektiven- und Schattenwechsel geprägt. In der linken oberen Bildecke ist ein Auge im Dreieck dargestellt, das durch eine Sonnenaureole umgeben ist. Aus dem Auge entspringt ein Lichtstrahl, der auf das Brustamulett einer geflügelten Figur gerichtet ist, die in Richtung des himmlischen Auges blickt. Die weibliche Figur ist in weite, wallende Gewänder gehüllt und trägt zwei Flügel auf dem Kopf. Ihre bloßen Arme ragen unter dem Gewand hervor und sind zur Seite ausgebreitet, während ihr linker Fuß auf einer großen Kugel steht, die mit einem figurenverzierten Band geschmückt ist. Der aus dem Himmel kommende Lichtstrahl wird durch das Brustamulett der weiblichen Figur gebrochen und strahlt von rechts oben nach links unten auf eine ebenfalls stehende männliche Figur auf einem steinernen Sockel. Auch diese statuenhafte Figur ist mit einem weiten Umhang bekleidet, wobei die Beine jedoch nackt sind. Der dargestellte Mann ist bärtig. Er hält den Kopf leicht gesenkt und blickt auf den Boden. Dort liegen mehrere an die Antike erinnernde Symbole: links ein Flügelhelm, ein Schlangenstab, eine Waage, ein Geldsäckchen, Fasces mit Axt sowie ein Dolch oder Schwert. Rechts dahinter ist ein liegender kannelierter Säulenschaft und darauf eine Schrifttafel mit den beiden Aufschriften »ABK« und »ABC« zu sehen.

Dahinter sind zwei eigentümliche Gerätschaften abgebildet. Links und leicht verdeckt durch die männliche Statue, lehnt ein Pflug oder ein Ruder. Bei dem Stab direkt hinter der ABC-Tafel könnte es sich um einen Anker handeln. Am rechten Bildrand, vor angedeuteten Bäumstämmen im Hintergrund, steht auf einem eckigen Sockel ein bauchiges Gefäß mit spitz zulaufendem Deckel. Das Zentrum des Bildes wird durch einen altarähnlichen Steinquader eingenommen, auf dem ein Füllhorn mit dampfender Substanz, ein weiteres kleines Gefäß sowie flackerndes Feuer dargestellt sind. Unmittelbar dahinter türmen sich dunkle Wolken auf, die den mittleren Bildgrund beherrschen. Lediglich die linke obere Ecke mit dem himmlischen Auge ist heller gestaltet.

Abb. 15: Frontispiz zu Giovanni Battista Vico, »Principi di una scienza nuova d’intorno alla communa natura delle nazioni«


So oder ähnlich könnte die idealtypische Beschreibung von Abb. 15 lauten, die zugegebenermaßen den Beschreibenden einigen Zwang antut, besonders wenn die abgebildeten Personen bereits erkannt wurden. Allerdings ist gerade diese bewusste Form der Neutralisierung des eigenen Blicks eine gute Schule, verhindert sie doch allzu voreilige Schlussfolgerungen und Wertungen des Dargestellten. Dabei sollte nicht vergessen werden, dass die Bildbeschreibung der erste Schritt auf dem Weg zur Interpretation ist. Bildbeschreibung ist durchaus mit der ersten Auswertung von wichtigen Hinweisen in einem Kriminalfall vergleichbar. Werden relevante Details bei der visuellen »Spurensicherung« (Ginzburg 1988) übersehen oder fehlerhaft bezeichnet, kann dies leicht auf eine falsche Fährte führen.

 

Bildbeschreibung ist eine forensische Methode.

Der italienische Historiker Carlo Ginzburg (1988) verglich in einem seiner Artikel des noch immer lesenswerten Bändchens »Spurensicherung. Über verborgene Geschichte, Kunst und soziales Gedächtnis« die Vorgehensweise des Bildinterpretierens mit der Methode eines Sherlock Holmes. Tatsächlich birgt die Bildgestaltung visuelle Indizien zur Beantwortung einer größeren Frage oder zur Lösung eines Problems. Zugleich verfolgt der Bildforschende, beinahe detektivisch und kaum weniger akribisch, eine bestimmte, meist aus der Theorie abgeleitete, These über die Bedeutungen, Funktionen und Wirkungspotenziale der analysierten Bilder. Diese Thesen zu erhärten oder sie zu widerlegen ist Aufgabe der Bildinterpretation, die jedoch nur nach ausgiebiger Bildanalyse erfolgen kann. Dieser zweite Schritt, der nicht ohne die Kenntnis schriftlicher Quellen sowie der Bildtypengeschichte möglich ist, wird im folgenden Kapitel behandelt. Zuvor sollten Sie jedoch noch an zwei weiteren Beispielen den ersten Schritt, die vor-ikonografische Beschreibung, üben.

Übung 1

Dieses Mal handelt es sich nicht um abgebildete Personen, sondern um Objekte, die in zwei fotografischen Darstellungen vorliegen. Bitte gehen Sie folgendermaßen vor: Zunächst notieren Sie sich auf einem separaten Blatt (oder in einem neuangelegten Word-Dokument) Ihre spontanen ersten Eindrücke und mögliche spontane Assoziationen und/oder emotionale Reaktionen. Decken Sie mit weißen Blättern den Umgebungstext des Bildes, das Sie beschreiben, ab. Nun versuchen Sie möglichst neutral, und möglichst präzise Abb. 16 zu beschreiben. Dann wiederholen Sie das Prozedere mit Abb. 17.

Nachdem Sie beide Bildbeschreibungen fertiggestellt haben, folgt die Vorbereitung auf die ikonografische Analyse: Vergleichen Sie Abb. 16 mit Abb. 17 und Ihre beiden vor-ikonografischen Beschreibungen. Was ist den beiden Bildern gemein, worin unterscheiden sich die beiden Übungsbilder? Notieren Sie zum Schluss, ob Sie irgendwelche emotionalen Assoziationen und Reaktionen auf eines der beiden oder auf beide Bilder haben. Dies können ganz persönliche Assoziationen sein, weil sie der dargestellte Gegenstand an eine bestimmte Person erinnert. Es ist genauso möglich, dass Sie beide Übungsbilder in keiner Weise ansprechen. Wichtig ist lediglich, dass Sie notieren, was Sie bei der Betrachtung und Beschreibung der beiden Bilder empfunden haben. In Kapitel 4.3 werden wir dann auf Ihre Beschreibungen zurückkommen.

Abb. 16: Ring


Abb. 17: Armbanduhr


4.2 Wie analysiere ich Bilder?

Bildanalyse ist im Wesentlichen Bedeutungszuweisung durch den Forscher. Als Handwerkszeug dienen dabei Schriftquellen, die Typengeschichte sowie der »Bedeu-tungssinn« (vgl. Abb. 3, S. 27). Die analytische Beschreibung konzentriert sich auf die wesentliche Aussage und die relevanten Besonderheiten des Bildes. Möglichst objektive Beschreibungen, wie sie im vorangehenden Kapitel geübt wurden, sind für das Sehtraining und das Schärfen des begrifflichen Instrumentariums notwendig und hilfreich. In der wissenschaftlichen und journalistischen Praxis lässt es sich oft nicht vermeiden, dass die Bildbeschreibung auch analytische und interpretative Elemente enthält. Dabei sollten Sie sich allerdings vor begrifflicher Überspitzung sowie vor der Vorwegnahme Ihres Interpretationsergebnisses hüten. Bereits auf der analytischen Ebene beginnen Sie zu recherchieren, nach der Bildquelle zu fahnden, Vorbilder oder ähnliche Bildmotive zu suchen sowie sich näher mit dem gewählten Gestaltungsgenre des Bildes zu befassen. Zunächst sollen Sie jedoch eigenständig an einem neuen Bildbeispiel die analytische Beschreibung üben.

Übung 2

Beschreiben und analysieren Sie Abb. 18. Achten Sie dabei auf das Wesentliche. Formulieren Sie einfach, aber präzise. Vermeiden Sie komplizierte Schachtelsätze. Recherchieren Sie die wichtigsten biografischen Daten des Porträtierten und lassen Sie diese Information in Ihre Beschreibung einfließen. Versäumen Sie dabei nicht, Ihre jeweiligen Schriftquellen genau zu notieren. Bei Zeitungsartikeln sollten Sie den Namen der Zeitung, das Datum der zitierten Ausgabe und die Seitenzahl nicht vergessen; bei Internetquellen die URL-Adresse, sowie bei elektronischen Artikeln aus Fachzeitschriften die Angabe des DOI (Digital Object Identifier). Für Blogs und Websites gilt es zudem, zusätzlich das genaue Datum Ihres letzten

Abb. 18: Der frühere französische Präsident François Mitterrand am Meer


Zuganges festzuhalten. Diese Quellen müssen in der Beschreibung selbst nicht genannt werden. Sobald Sie jedoch auf die Interpretationsebene (Kapitel 4.3) gelangen, müssen Sie Ihre Argumente belegen und da brauchen Sie dann Ihre Schriftquellen. Also ersparen Sie sich doppelte Arbeit und halten Sie die Quellenangaben von Beginn an detailliert fest! Zur korrekten Angabe der Literatur gibt es auf www.utb-shop.de einen Praxistip.

Ein Beispiel für eine analytische Beschreibung findet sich in Kapitel 4.3 auf S. 62–63.

4.3 Wie interpretiere ich Bilder?

Zur Interpretation benötigen Sie Ihren Dokumentsinn (vgl. Abb. 1, S. 25), Kenntnisse über den spezifischen sozio-kulturellen Bildkontext, in dem sich politisches und soziales Handeln vollzieht sowie das auf Basis Ihrer Recherche angeeignete Wissen über die Produktionsstrukturen (Produktionsanalyse), die Gestaltungs-, Typen- und Motivgeschichte des von Ihnen zu interpretierenden Bildes (Produktanalyse) sowie ggf. Instrumente zur Ermittlung eigener Daten, wenn Sie sich auf die Interpretation der Bildrezeption konzentrieren (Wirkungsanalyse). Einen Einstieg in die Wirkungsanalyse gibt das nachfolgende Kapitel 5. Neben der Kommunikationswissenschaft sind es vor allem die Psychologie, die Kognitionswissenschaft und die Werbewirkungsforschung, die sich mit den Wirkungsaspekten von Bildern auseinandersetzen. Auch wenn hier noch Forschungsbedarf besteht, liegen mittlerweile vielversprechende Ansätze vor, die in Kapitel 5 ausführlicher behandelt werden.

Im Folgenden liegt der Schwerpunkt auf der Bildinterpretation im Rahmen von Produkt- und Produktionsanalysen. Die beiden Letztgenannten sind im Vergleich zur Wirkungsanalyse insofern voraussetzungslos, als dass zusätzlich zur Bildvorlage lediglich die üblichen Recherchemittel Internet und Bibliothek benötigt werden. Wirkungsanalysen sind hingegen meist komplexe empirische Forschungsvorhaben, die selten von einer Einzelperson durchgeführt werden können, da die Entwicklung eines Fragebogens oder eines Experiments und die Durchführung der Befragung bzw. des Experiments, sowie die Auswertung der so generierten Daten sehr arbeits-, zeit- und kostenintensiv sind. Bildwirkungsforschung findet daher oft im Team statt. Leider sind nicht alle Studien zu Bildwirkungen öffentlich zugänglich, da sie Auftragsarbeiten für die Werbewirtschaft sind.

Zudem ist die Wirkungsanalyse in gewissem Sinn abhängig von einer vorausgegangenen Produktions- und Produktanalyse.

Produkt- und Produktionsanalyse sind Voraussetzungen der Wirkungsanalyse.

Für die meisten Fragestellungen zur Wirkung von Bildern ist eine profunde Produktund Produktionsanalyse wichtige Voraussetzung. Während die Wirkungsanalyse die Adressaten und Rezipienten Visueller Kommunikation erforscht und dabei die Frage klärt, wie Bilder auf welche Personengruppe wirken, fragt die Produktanalyse nach den bildimmanenten Bedeutungspotenzialen: Was ist auf dem Bild wie dargestellt? Die Produktionsanalyse konzentriert sich auf die Bildproduzenten und den Entstehungskontext: Wann ist das Bild wie und warum entstanden? Produkt- und Produktionsanalyse stellen also eine wichtige Voraussetzung der Wirkungsanalyse dar, denn nur wenn die Bedeutungspotenziale der Bilder und ihre Funktionen ermittelt sind, kann zielgerichtet nach den Wirkungen der Bilder geforscht werden. Auch für die Erstellung von wirkungsorientierten Erhebungsinstrumenten (z. B. Fragebögen) kann eine Produktionsanalyse hilfreich sein. So lassen sich beispielsweise bei qualitativen Interviews mit den Bildproduzenten leicht der Adressatenkreis sowie die intendierten Rezeptionseffekte in der bestimmten Zielgruppe ermitteln – und dann entsprechend empirisch testen.

Praxistipp: Bildinterpretation

Klären Sie von Beginn an für sich, auf welchen Aspekt der Visuellen Kommunikationsforschung Sie sich konzentrieren möchten – Produkt-, Produktions- oder Wirkungsanalyse –, denn Ihre Schwerpunktsetzung ist ausschlaggebend für die Wahl Ihres methodischen Vorgehens.

Hüten Sie sich vor Überinterpretationen und Überfrachtungen. Nicht jedes Detail ist gleichermaßen relevant. Entscheidend ist, dass Sie bei der Interpretation die forensisch ermittelten Indizien zu einer sinnvollen, intersubjektiv nachvollziehbaren Erklärung zusammenfügen. Diese kann durchaus ambivalent sein. Erscheinen Ihnen zwei »Interpretationsfährten« relevant, dann verfolgen Sie beide und wägen Sie beide Varianten gegeneinander ab. Behalten Sie auch Gegen-Standpunkte im Blick. Die beiden der Interpretation vorangehenden Schritte, Bildbeschreibung und Bildanalyse, sind dabei wichtige Voraussetzungen, um nicht zu Kurzschlussinterpretationen zu gelangen. Bedenken Sie auch, dass Ihre eigene Bildinterpretation nicht unbedingt von anderen Rezipienten geteilt wird. Versuchen Sie daher selbstkritisch zu bewerten, wie stichhaltig Ihre eigene Beschreibung, Analyse und Interpretation ist und auf welche Quellen und »Beweise« Sie sich dabei stützen.

Die Interpretation von Grafiken, Fotografien und Tafelbildern muss sich anderer Instrumentarien und Methoden bedienen als die Interpretation bewegter Bilder. Wenn es sich zudem bei den zu analysierenden und interpretierenden Grafiken (vgl. Abb. 15, S. 56) um historisches Material handelt, liegt die Anwendung historischer bzw. kunsthistorischer Ansätze nahe.

Das Geheimnis des Stiches kann nun gelüftet werden: Es handelt sich hier um das Frontispiz zu einer philosophisch-kulturwissenschaftlichen Abhandlung aus dem 18. Jahrhundert. Der aus Neapel stammende Wissenschaftler Giovanni Battista Vico (1668–1744) stellte der dritten Auflage seines Hauptwerkes »Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker« 1744 jenes Frontispiz voran. Dabei ließ es Vico nicht bei der bloßen Illustration seines Werkes bewenden. Er verfasste vielmehr eine beinahe 30-seitige Einleitung, welche die abgebildeten Symbole detailgenau erläutert und zudem deutlich macht, wie ein Bild Informationen verdichtet. Denn in der vorangestellten Grafik sei, so der Autor, die Idee seines gesamten Werkes enthalten. Gleich zu Beginn der »Erklärung des an den Anfang gestellten Bildes, die als Einleitung in das Werk dient«, schreibt Vico (1744/1990: 3):

»So zeigen wir hier eine Tafel der politischen Verhältnisse, die dem Leser behilflich sein soll, die Idee dieses Werkes vor der Lektüre zu erfassen und sie nach der Lektüre mit Hilfe der Phantasie leichter im Gedächtnis zu behalten.«

 

Eine analytische Bildbeschreibung, die ausdrücklich auf Vicos Kommentar Bezug nimmt, könnte folgendermaßen lauten:

Beispiel für eine analytische Beschreibung zu Abb. 15 (Frontispiz Giambattista Vico)

Das Bild ist in zwei Teile gegliedert: Der eine Bereich ist der Visualisierung der immateriellen Dinge vorbehalten, der andere visualisiert die materiellen Aspekte des menschlichen Lebens.

Die weibliche Allegorie verkörpert die Metaphysik, die, und das ist typisch für die Denkweise des Autors, als visuelle Metapher die Bedeutung des Begriffes sprichwörtlich umsetzt, denn sie steht – über der Physis – auf der Weltkugel, die die natürliche Welt symbolisiert. Ihr Blick ist gebannt durch das Auge Gottes, der in einem Lichtstrahl seine Vorsehung auf die denkende Menschheit herabschickt. Aber nicht nur diese soll in Gestalt der Metaphysik von ihr profitieren. Auf ihrem Brustamulett trägt die Metaphysik einen konvexen Edelstein, der die Vorsehung auf die Erde reflektiert und zu poetischer Weisheit inspiriert, verkörpert durch die Statue Homers, des ersten überlieferten griechischen Dichters, am linken Bildrand. Homer blickt zu Boden, auf die Instrumente zu seinen Füßen. Der Heroldsstab steht symbolisch für die Zivilisierung des Krieges durch dessen Ankündigung und Beendigung per Friedensschluss, die Waage verkörpert politische Gleichheit in demokratischen Republiken, der Beutel stellt den Handel dar, der mit Geld geführt wird, das Schwert verkörpert ein Recht der Gewalt, das durch die Religion gebändigt wird und das römische Rutenbündel symbolisiert politische Herrschaft.

Die dahinterliegenden Symbole stehen für die menschlichen Kulturleistungen – das Alphabet als Ursprung von Sprache, den Ackerbau und die Bestattungsriten. Das Steuerruder links des Altars erinnert an die Völkerwanderung, die mit der Schifffahrt begann. Der Altar in der Mitte des Bildes trennt den dunklen Hintergrund sowohl zeitlich als auch räumlich von dem aufgeklärt-zivilisierten Vordergrund. Die dunklen Wolken werden vom Autor als dunkle Urzeit gesehen und der Wald rechts verkörpert die mythologische Wildnis, den Nemeischen Wald, in welchem Herkules, der als Sternbild auf der Weltkugel dargestellt ist, den Löwen besiegte. Nicht ohne Grund ist der Altar mit den Opferinsignien Fackel, Feuer, Wasser im Zentrum des Blattes angeordnet. Denn für den Autor nahm die politische Welt ihren Anfang mit der Religion. Mit seiner »Scienza Nuova« wollte Vico das Dunkel der Urzeit durchdringen und den Menschen vor allem als soziales Wesen begreifen. In seinen eigenen Worten bestand das Neuartige seiner Wissenschaft darin, dass die Metaphysik nicht nur auf die Natur, sondern auf die politisch-soziale Welt angewandt würde. Die Weltkugel im Bild steht nur auf einer Ecke des Altars: »da die Philosophen die göttliche Vorsehung bisher nur unter dem Gesichtspunkt der natürlichen Ordnung betrachtet haben, haben sie von ihr nur einen Teil erwiesen […]; aber sie haben ihn (den Geist, A.d.V.) noch nicht von jener Seite betrachtet, die den Menschen eigentümlicher ist, zu deren Natur als Haupteigenschaft gehört, gesellig zu sein« (Vico 1744/1990, I: 3). Weiter unten fährt Vico in seiner Bilderläuterung fort: »Überdies deutet (der Lichtstrahl, A.d.V.) an, daß die Erkenntnis Gottes nicht in der Metaphysik enden soll, damit diese sich auf private Weise mit den geistigen Dingen erleuchte und somit nur ihre eigene moralische Haltung regle, wie es bisher die Philosophen getan haben; das hätte man nämlich mit einem flachen Edelstein angezeigt. Aber er ist konvex, so daß der Lichtstrahl sich bricht und nach außen ausstrahlt, damit die Metaphysik Gott erkenne, wie seine Vorsehung die öffentlichen moralischen Verhältnisse oder die politischen Sitten bestimmt« (Vico 1744/1990, I: 6/7).

Soll das Bild jedoch nicht nur vom Motiv her entschlüsselt, sondern auch hinsichtlich seiner weitergehenden Bedeutungspotenziale und Funktionen analysiert werden, reichen Bild und Primärquellentext nicht aus. Hier muss Sekundärliteratur sowie die Motivgeschichte zu Rate gezogen und in die Interpretation miteinbezogen werden.

Beispiel für eine Interpretation von Abb. 15 (Frontispiz Giambattista Vico)

Das allegorische Titelbild wurde ursprünglich von Vico bestellt und von dem Rokoko-Künstler Domenico Antonio Vaccaro entworfen (Wessely 1989: 7). Das in Abb. 15 abgebildete Frontispiz ist die erste von mehreren Versionen des Titelbildes, das nicht erst 1744, sondern bereits der zweiten Auflage des Werkes 1730 vorangestellt wurde (Wessely 1989: 7, darin Groblewski (1987) kritisierend). Während dieser ersten, mit dem Titelbild versehenen Ausgabe ein Stich von Antonio Baldi vorangestellt wurde, zeigten die meisten der späteren Nachdrucke eher unbeholfene Kopien der Baldi-Grafik (Wessely 1989: 7).

Der Produktionsprozess des Frontispizes zeigt, wie arbeitsteilig bereits im 18. Jahrhundert die Bildproduktion verlief. Die Bildidee wurde vom Autor in Auftrag gegeben an einen Künstler, der einen Entwurf ablieferte und diesen wiederum an einen Stecher weitergab. Das gestochene Bild wurde von anderen Grafikern kopiert und dabei häufig verfremdet, so dass zwar bestimmte kompositorische Grundelemente erhalten blieben, jedoch die ursprüngliche Bildaussage davon nicht unberührt blieb und an entscheidenden Stellen Veränderungen erfuhr.

Über die intendierten Symbolbedeutungen in seiner Zeit zeigt die wechselseitige Analyse von Vicos Frontispiz und seiner Texterläuterung, dass im 18. Jahrhundert noch eine sehr viel stärkere Verschmelzung von Gedanke, Begriff und Bild vorhanden war, als dies heute der Fall ist. Wenn der Autor beispielsweise den Ursprung des Begriffes »ius«, das Recht, etymologisch bei »Ious«, dem lateinischen Namen für den Gott Jupiter sieht (Vico 1744/1990, I: 14) oder den Ursprung des lateinischen Begriffs für Stadt – »urbs« – aus dem Krummholz des Ackerpfluges – »urbum« – ableitet (Vico 1744/1990, I: 15), wird deutlich, dass der Autor den Einsatz assoziativer Logik bewusst intendierte. Das Interessante an dieser Form der Argumentation ist weniger die historische Korrektheit dieser Ableitungen als vielmehr der Ableitungsprozess an sich.

Gleich drei Probleme werden bei der Bildinterpretation offensichtlich: Zum einen geht mit der historischen Rückbetrachtung eines Bildes der Verlust des historischen Originalkontextes einher, in welchem das Bild entstanden ist. Zwar funktioniert die multimediale und multimodale Realität des 21. Jahrhunderts aufgrund einer ähnlich assoziativen Logik, die ebenso wie im 18. Jahrhundert nicht rational und manchmal nicht einmal richtig sein muss. Im besten Fall können assoziativ erzeugte Informationen und Behauptungen einen Argumentationsstrang untermauern. Im schlimmsten Fall zerstören assoziativ generierte Bedeutungen die argumentative Logik, indem sie sie mit emotionalen Werten überlagern und die rationale Diskussion unmöglich machen. Visuelle Assoziation an und für sich ist ein wertfreies Ergebnis eines Wahrnehmungs- und Verarbeitungsprozesses, kann jedoch instrumentalisiert werden – im guten wie im schlechten Sinn. Dabei wirken bestimmte Motivtraditionen auch in der Gegenwart fort und dies sowohl bewusst als auch unbewusst. Nichtsdestotrotz muss der jeweilige historische Kontext vom Forscher rekonstruiert werden, um das Bild und seine Bedeutungen zeitgeschichtlich einordnen zu können. Und dies trifft sowohl auf die Rekonstruktion des 18. Jahrhunderts als auch auf die Vergegenwärtigung weniger weit zurückliegender Ereignisse zu.

Zum anderen muss für eine adäquate Interpretation die Motivgeschichte des Bildes – dessen Ikonografie (vgl. Kapitel 8) – hinzugezogen werden. Ist das Motiv originär? Auf welche Vorbilder und Darstellungstypen bezogen sich Vaccaro und Baldi? Wo haben sie ihre künstlerische Ausbildung erfahren? Welche Stilelemente des Bildes lassen sich auf diese künstlerischen Traditionen beziehen? An was für einen Adresssatenkreis richtete sich Vicos Werk? Wie wandelte sich das Frontispiz und welche Bedeutungsänderungen sind mit der gestalterischen Veränderung des Frontispizes verbunden?

Zudem stellt sich nach Lektüre der Sekundärliteratur (z. B. Groblewski 1987; Wessely 1989) heraus, dass der abgebildete Stich (vgl. Abb. 15, S. 56) nur einen Ausschnitt darstellt und die Bildränder in der Abbildung beschnitten sind. Auf dem Originalstich, wie in der Abbildung bei Wessely (1989: 7) zumindest andeutungsweise erkennbar, sind Vaccaros und Baldis Namen am unteren Blattrand aufgedruckt. Auch die Größe des Originalblattes wäre für eine akkurate Interpretation wichtig. Diese Fragen können jedoch nur am Original geklärt werden, wozu zunächst zu recherchieren wäre, in welchen Bibliotheken Kopien der Stiche vorhanden sind. Unter Umständen ist also für eine kunsthistorische Bearbeitung auch die Reise in das entsprechende Archiv oder Museum erforderlich, um die Bildanalyse am Original sowie den Vergleich mit anderen Originalfrontispizen zu ermöglichen.

Das Problemfeld »Kopie – Original« ist in der Visuellen Kommunikationsforschung besonders akut und sollte bei jeglicher Bildanalyse und -interpretation bedacht werden. Handelt es sich bei dem vorliegenden Bildmaterial um ein Original oder um eine, möglicherweise modifizierte, Reproduktion? Im Forschungsprozess sollte diese Frage immer gleich zu Anfang gestellt und beantwortet werden. Die Frage nach dem Original ist eng verknüpft mit der Quellenkritik, die in Kapitel 6 ausführlich behandelt wird.