Kreuzwege unter der Sonne

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Jere stürzte auf mich zu und umarmte mich. Ich spürte, dass er richtige Muskeln bekommen hatte.

Eine Woche brauchten wir noch, dann hatten wir aufgeräumt – unsere kleine Wohnung, unsere Jobs, uns selbst. In São Paulo hielten uns alle für verrückt. Und wenn schon! Wir fuhren los.

Drei Tage und zwei Nächte lang träumten wir vor uns hin, schmiedeten Pläne und waren entschlossen, unser Glück nie mehr aus der Hand zu geben. Nie mehr! Um keinen Preis der Welt!

ZINNSOLDATEN

Volle Deckung! Oberhalb der Schutthalde verschwinden zwei Dutzend Köpfe. Knallrote Schutzhelme leuchten in gleißender Sonne. Atemmasken und Brillen in dicken Gummifassungen verdecken angespannte Gesichter. Die Muskeln sind bis zum Zerreißen angespannt. Drüben winken sie mit roten Fahnen. Dann ertönt ein letzter Warnruf aus dem Megafon: »Atensçao … Atensçao … Atensçao!« Die Kette der Explosionen zerbricht minutenlanges Warten. 400 Kilo Dynamit reißen die Felswand auseinander. Schutt schiebt sich über die Halde, Riesenbrocken, grausilbern schillernde Kassiterit-Blöcke donnern in die Tiefe, bleiben dann plötzlich liegen und wälzen sich schließlich weiter, irgendwohin.

Über dem Abgrund treiben stechend ätzende Wolken, Nebelschwaden in giftigem Graugrün kriechen durch die Schneise und legen sich über das Land. Dann stampfen die Bulldozer wieder. Stoßend und stöhnend schieben sie das Gestein vor sich her, türmen Erz auf Erz, verändern, was Minuten zuvor unveränderlich schien. Titanische Stahlschaufeln schwenken aus, zuerst nach links, dann im Kreisbogen auf Felsen aufschlagend, schließlich steil in den Himmel gereckt als protestierten sie, jammernd und kreischend in Achsen und unter pausenlos rotierenden Ketten, um hochwertiges Zinnerz auf die lange Reihe wartender Kipplaster zu schütten.

Vor der Zufahrt zur Mine zittert das von glühender Sonne geschundene Tor. Immer zittert es hier, wenn es mit der Wucht der ohrenbetäubenden Schläge und dem Krachen und Stoßen und Stampfen zu viel wird, während sich hundert schürfende Stahlketten ins Gestein fressen und jeden Schrei ersticken.

»FORTUNA NOVA – ZUTRITT VERBOTEN«

Unkenntlich wie Schemen im Zwielicht, verhüllt im Staub unter glühender Sonne stehen Männer zwischen den Lkws und einer fast endlos scheinenden Kette aus Erzcontainern. Verstaubte knöchelhohe Stiefel – Männer in Overalls verpackt. Dahinter Spitzhacken, Blechkanister in Kinderhänden. Da und dort haben die kleinen Burschen Bastkörbe und ausgediente Säcke aufgetrieben. Lärmend und schwitzend, mit braunen sonnenversengten Gesichtern umhertobend, oft lachend wie im Spiel und über mannshohe Brocken kletternd, beim Hupen einer unerwartet daherstampfenden Zugmaschine aufschreckend, retten sie sich hundertmal am Tag vor krächzenden Geröllschiebern, flitzen kaum einen halben Meter vor den Giganten auf die andere Seite, um sich in der nächsten Minute auf einen vermeintlich wertvollen Fund zu stürzen. Aufpassen müssen sie und rennen und schuften, wenn es vielleicht schon am Mittag richtig Moos geben soll. Nach jeder Sprengung liegt das Kleinzeug, das die Abraumtrecker nicht erfassen, in der Schlucht herum.

Cassiterita! Container auf Container. Brasilianisches Zinnoxyd auf dem Weg zum Weltmarkt. Hochprozentig schillert es im gleißenden Licht des unerbittlichen Tropenmorgens. Vor morgen Mittag wird nicht mehr gesprengt. Nur die Bagger werden den Abhang bis zur Unkenntlichkeit zerreißen, stählerne Riesen auf Kettenrädern werden Schuttberge vor sich herschieben und Kinder werden über die Wüste aus Geröll und Steinen kriechen und das verheißungsvolle Zinnoxyd zusammenklauben. Pausenlos. Von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. FORTUNA NOVA im Zehnstundentakt. 36 Grad im Schatten, brennende Sonne auf nackten Rücken, nicht die Spur einer Wolke am Himmel, Staub im Gesicht und in der blutenden Nase, im Rachen, in den Lungen. Es ist doch nur für ein paar Jahre. Dann werden sie, so Gott will, noch leben, und bis dahin hätten sie eine Menge Geld verdient. So hieß es in der Grube. Fast einen Dollar gab es pro Kilogramm. Vorausgesetzt, dass das Zeug, das sie anschleiften, auch gut genug war, um die Grube zu verlassen.

In dicken roten Buchstaben stand es über dem Tor des Schuppens, den sich Jaime aus zwei vergessenen Containern zusammengeschraubt hatte. Auch wenn die meisten nicht lesen konnten. 92 Centavos per Kilo! Das verstand jeder.

Kurz vor zwölf, noch bevor Jaime den Eintopf in seinem verbeulten Blechgeschirr aufwärmte, standen die Kinder in der Schlange und maunzten und kniffen sich und schrien, wer diesmal die besten Brocken habe und wie viel es dafür geben werde.

Immerhin, es lohne sich doch für die Kerlchen, behauptete Jaime, wenn er abends mit den Fahrern beim Zuckerschnaps hockte. Auch für ihn sei es doch ganz annehmbar. Vier Dollar achtzig bewilligte ihm die Direktion für den Kleinkram. Und wenn das mit den Bürschchen noch ein paar Jahre so liefe, dann werde er das Geld für die beiden Lkws endlich zusammenhaben und aus dem Loch herauskommen. Und droben im Büro dürfe sich auch niemand beklagen. Wie hätten die denn ohne die Kinder das ganze Kleinzeug verladen sollen? »Ist das vielleicht kein Zinn?«, lachte er und goss sich noch einen von dem Klaren ein.

Marcelino stand am Straßenrand. Vor ein paar Tagen war er neun geworden. Groß genug für den Job, wie er meinte. Klein-Sonja wird es schon lernen. Sie war doch auch schon sieben.

»Da runter. Geht doch gut. Rutsch mal durch.«

Klein-Sonja krabbelte unter dem aufgebogenen Drahtverhau ins Minengelände. Fast eine Woche lang waren sie unterwegs gewesen. Zuerst ging’s mit dem Ochsenfuhrwerk ab, dann hockten sie einen halben Tag auf der alten Kiste der Zuckerrohrschneider. Bis sie der Fahrer des Überlandbusses aus lauter Mitleid aufgeladen hatte. Als die Grube in Sicht kam, gab er den Kleinen einen freundlichen Klaps auf die knöchernen Schulterchen und setzte sie ab.

»Guck mal, Sonjazinha«, rief der Bub und kam gar nicht los von den Baggern und Zugmaschinen. »Guck doch! Einer hinter dem anderen.«

Schuttberge aus Zinngestein, dampfende Leiber, schweißnass und staubverkrustet, braun gebrannte Kinder in ausgefransten Shorts, nackte Rücken, Gummischlappen, Wickeltücher um blutende Füße. FORTUNA NOVA! Für einen Moment vergaß Marcelino das bohrende Gefühl im Magen.

»Guck doch, dort«, begeisterte er sich. »Dort stehen sie!«

Nebeneinander, hintereinander, gebückt, kniend, mit bloßen Fingern im Schutt wühlend, dann plötzlich aufspringend und auseinanderjagend, wenn eine der gelben Maschinen herüberstampfte. Jubel, Schimpfsalven, Flüche, Gelächter, im nächsten Moment verstummend, dann und wann umarmten sich zwei Freunde. Mancher schaffte es doch.

»Vai ficar bom aqui!« Marcelino streichelte Klein-Sonja. Es werde schon werden, versprach er ihr.

Ein heiserer Ruf unter einem Schutzhelm drang zu den beiden herüber: »Aufpassen!«

Oft verschluckte einen der Staub, die Fahrer der Trecker sahen die Kleinen kaum, und dann war es auch schon passiert. Aber dort, von wo sie herkamen, sah es nicht besser aus.

Seit Monaten hatte es nicht mehr geregnet, das Land war versteppt und verwüstet und ohne einen Halm im Boden, und Vater hatte auf den paar Hektar fremden Landes doch nur geschuftet und geschuftet. Und jetzt quälten sie Vater wegen der Pacht, das Futter für die beiden Ziegen war am Ende und der Wasserwagen kam nicht mehr. So wie damals, als Mutter starb, erinnerte sich Marcelino. Sein Schwesterchen war noch zu klein und wusste nichts davon.

Seit letzter Woche war mit dem Maisbrei Schluss. Der kleine Weiher und die beiden Tümpel, an denen Marcelino immer fischte, waren ausgetrocknet, die Geier hatten die Knochen der letzten Zebus blank genagt und die Erde war so weit aufgerissen, dass der Bub sein Ärmchen bis zum Ellbogen hineinstecken konnte.

Am anderen Morgen, als sie vor dem Ochsenkarren standen, glaubte der Bub, eine Träne in Vaters Auge gesehen zu haben. Doch außer der Mine gab es in der ganzen Gegend nichts, so sehr der Mann auch grübelte. Nur die Zinngrube! Die Kinder sollten doch überleben und nicht dabei sein und mit ansehen müssen, wie alles zu Ende ging, wenn die Glut der Sonne den letzten Tropfen Blut verdampfte und nur noch die Geier über ihren Köpfen kreisten.

»Einen Sack und eine Hacke!«, rief Marcelino. »Schnell, Sonja, schnell! Dann sammeln wir auch!« So wie alle, die er von Stein zu Stein springen sah. Schnell, bevor der Nächste da war und einem den schönsten Brocken vor der Nase wegschnappte. Stöbern, absuchen, finden und aufklauben. Ab sieben war man schon dabei.

Vorgestern hatte es Frederico erwischt. Ein einziges Mal war er nicht flink genug gewesen. Ein einziges Mal hatte er dem stählernen Arm nicht rechtzeitig ausweichen können.

»Wir passen ja auf … mit den Kleinen«, entsetzt sich Reinaldo und dann weint er selbst wie ein Kind. Ein halbes Leben lang fährt er schon Zugmaschine. »Aber manchmal …« Und dann schreit es in ihm und seine Wut bricht durch die Tränen. »Manchmal … wie sollst du wissen, was die Kerlchen grad im Kopf haben?« Für einen Augenblick nimmt er den Helm ab und wischt den Schweiß aus der Stirn. Abgekämpft stapft er zum Wassertank hinüber und dann kraxelt er mit dem AluBecher in der Hand gleich wieder auf seinen Fahrersitz. »Die Kinder dürften doch gar nicht in der Grube sein«, wettert er von der Zugmaschine herunter und legt den Ganghebel ein. Siebzehn ›Requeiros‹ hatten sie dieses Jahr weggetragen. »Siebzehn!« Seine Schreie gehen im hustenden Lärm der Dieselmaschine unter. Baggerschaufeln, Stahlketten, Detonationen nach Steinschlag, Verschüttete. Und Kinder!

Steinschlag, Explosionen, Verschüttete. Und Kinder.

 

Immer wieder Kinder! In Scharen kamen sie von überall her. Wie sollte man es verhindern? »ZUTRITT VERBOTEN« stand vor der Einfahrt auf der gelbroten Tafel! War das nicht klar genug?

Jenseits des Hanges hatten sie Notquartiere in den Boden gerammt. Blechbaracken, Holzschuppen. Eine Containerbude mit Zuckerschnaps und Bier und eine Handvoll aufgedrehter Mädchen für die Jungen. Meistens schliefen sie im Freien. Es war ja nicht für immer. Und es erwischte nur diejenigen, die nicht genug aufpassten.

Bulldozer … Explosionen … Bagger … Steinschlag? Und wenn schon! Wovor sie sich fürchteten und was manche bis in die Träume verfolgte, das waren ihre Armut und das Elend dort, von wo sie herkamen, und das Unrecht und das Nicht-Weiterwissen. Samantha hatte vor ein paar Jahren ihre beiden Kinder verloren. Und Miguel seinen Arbeitsplatz. Dann war er in die Mine gewandert und Samantha kam hinterher. Nachts schliefen sie im Zelt, das ihnen einer hinterließ, dem es gereicht hatte. Tagsüber wurde in den Steinen gewühlt. Immerhin holte Miguel jeden Monat gute 250 Dollar heraus. Dreimal mehr, als sie ihm in Porto Velho auf dem Bau bezahlten. Und ganz so kompliziert war das hier gar nicht. Die Maschinen zerschlugen doch alles. Man musste nur die besten Brocken kriegen, damit in den Schuppen rennen und das Zeug auf Jaimes Waage schmeißen.

»Kommt in unser Zelt, bevor es Nacht wird«, sagte Samantha zu Marcelino und Klein-Sonja. »Wir haben noch Platz für euch … wenn ihr uns helft?« Dann zeigte sie den Kindern, welche Brocken die guten waren und was sie tun mussten, wenn die Bulldozer hupten, während sie beim Klauben waren.

Daheim wartete Vater auf den Regen. – Zutritt verboten! – Ich zeig euch, wie man’s macht. – Marcelino kroch mit Klein-Sonja über den Schutt. Es war doch nur für ein paar Jahre. Und die Männer unter den roten Helmen passten schließlich auf.

Aber immer konnten sie es nicht verhindern.

RIO, MORGENS UM FÜNF

Heller und klarer als an den anderen Abenden hing der Mond über der See. Mit der klebrigen Hitze war es noch immer nicht besser geworden. Dampf, nichts als heißer beißender Dampf, nass und tonnenschwer, lastete über der Stadt. Nur hier, abseits vom Trubel der Asphaltschluchten, blies lauer Nachtwind über zertrampelten Sand, zaghaft zunächst, so als ob er sich nicht recht getraute.

»Selmiiira… Selmira!« Der Donner gewaltsam aufklatschender Brandung verschluckte die vergeblichen Schreie, die das Mädchen zum Umkehren zwingen sollten. »Selmira! Selmira!« Immer wieder, unablässig, sinnlos im Zorn in die Nacht hinausgestoßen. Zuletzt versuchte der brüllende Verfolger den kleinen Flüchtling mit heiserer, sich gewaltsam überschlagender Stimme zur Umkehr zu bewegen. Doch schneller, als es zu erwarten war, verwehte die Spur, die das davonrennende Kind im Sand hinterließ. Renn, Mädchen, renn! Renn bloß, wenn du keine Dresche willst!

Selmira schnappte nach Luft. Dann verstummte das Gebrüll. Die fiebrigen Augen des Kindes tasteten sich entlang des glitzernden Schaums, den das heranrasende Seewasser auf den Strand warf. Das rassige haselnussbraune Gesicht und die langen unter ausgeblichenen Shorts hin- und hertanzenden Gazellenbeine, das zerzauste, im Schimmer der Mondnacht blauschwarz glänzende Haar, wirr über den Schultern flatternd, verbargen das Kindesalter.

Renn, Selmira, renn! Wie oft schon war sie den engen Pfad durch die Favela hinunter zum Meer gehetzt und dann nach dort, wo sie die Freiheit vermutete. Freiheit! Irgendwo musste die Freiheit wohnen! Doch bis jetzt hatten sie die Kleine immer wieder zurückgebracht. Und jedes Mal tanzte der Lederriemen auf ihrem Rücken. Sogar an den Dachpfosten hatte sie Vater schon gebunden. »Dass du es lernst«, hatte er die halbe Nacht lang auf sie eingeschrien und immer wieder zugeschlagen.

Joana hatte es doch viel besser. Selmira hielt an und sah zurück. Wie war sie denn mitten in dieser Hetze ausgerechnet auf ihre Freundin gekommen? Joana sah natürlich viel älter aus und konnte auch so raffiniert lachen, und jeden Abend brachte sie genug Geld nach Hause. Letztes Jahr hatten sie sich drüben sogar einen neuen Kühlschrank anschaffen können. Außerdem hatte ihre Freundin einen ganz vernünftigen Vater. Und Andreia erst. Nur eifersüchtig war sie bis zum Gehtnichtmehr. Deshalb schlug sie sich dauernd mit Jacobine herum. Jacobine mit ihrem Engelsnäschen.

Selmira atmete durch. Um diese Zeit hockten die Freundinnen wieder oben vor den Hütten und erzählten sich die seltsamsten Geschichtchen. Nur Selmira rannte wieder am Strand entlang. Ewig und immer den gleichen Weg, kilometerweit, irgendwohin. Nach nirgendwohin! Nur nicht mehr dort hinauf in die Favela, jenseits des steilen Abhangs, an dem die Baracken und Buden Wand an Wand nebeneinanderstanden, die meisten nur lose ins Erdreich geschoben, bis sie vielleicht in einer dunklen Regennacht, wenn niemand damit rechnete, von Wassermassen und unter Bergen von Schlamm und Morast in die Tiefe gerissen würden.

Nur weg von dort! Weg, weit weg. Immer wieder riss Selmira aus. Flucht von klein auf. Flucht und Angst. Grenzenlose Angst! Angst! Angst! Angst! Angst vor den schrecklichen Prügeln des jähzornigen Mannes, bebende Angst vor dem heißen Bügeleisen, vor bösen giftigen Blicken, wenn sie geduckt vor der frostigen Ziehmutter stand, weil sie nicht genug Geld zusammengebettelt hatte und weil keine Milch für die Brüderchen da war und weil Vater die paar Kröten, die am Morgen noch in der Schublade gelegen hatten, beim Zuckerschnapstrinken verpulvert hatte.

Selmira presste die Lippen zusammen. Pause machen! Durchatmen! Wenigstens schrie hier niemand mehr hinter ihr her. Irgendwo musste die Freiheit wohnen. Vielleicht dort drüben, mitten im Gewühl der lachenden Straßenbummler, sich mit einem Eis in der Hand umarmend. Zwanzig-, dreißigstöckige Luxuswohnungen, lichtüberflutete Garageneinfahrten. Avenida Atlantica! Luxuswagen, teures Blech bis hinunter nach Ipanema. Tanzmusik, ohrenbetäubende Lust, gellend schreiende Autohupen, Strandläufer, sich anbellende umherstreunende Hunde, im Sand kichernde Liebespaare. Da und dort gleichmäßiges Tapsen. Dazwischen das Geschrei der Kinder, die sich wegen eines Stückes weggeworfenen Brotes vor randvollen Abfalltonnen in den Haaren lagen.

»Träume in Rio!« Ein knallig angezogener Arbeitsloser, auf zwei Meter hohen Stelzen staksend, mit einem mannshohen Plakat auf dem Rücken brüllte es im Dreißigsekundentakt in die Ohren der Touristen, dann und wann mit den Händen zum Kopf hinauffahrend, besorgt, den blauroten Riesenzylinder zu verlieren. Träume in Rio! Nacht für Nacht sollte das aufkratzende Gebrüll der lebenden Reklamefigur gegen pfeifende Reifen ankommen, gegen Hupen und Tanzmusik, um vielleicht eine Handvoll abenteuerlustiger Touristen in das Vergnügungslokal an der Ecke zu locken.

Freiheit! Selmira flitzte zwischen zwei Stoßstangen hindurch, über die Avenida und gleich in die nachtschwarze Querstraße hinein. Keine hundert Meter mehr, dann kann sie wieder vor Joshuas Obstbude stehen. Joshua war okay! Gierig starrten Sechzehnjährige ihr hinterher. Joshua winkte ihr zu. Schnell, lauf zu, Mädchen, konnte das nur heißen.

Sein ›Laden‹, wie Joshua die sechs Pfosten mit der darüberhängenden Zeltplane mit verschmitzt fröhlichem Grinsen gerne bezeichnete, war gerade stabil genug, um häufige Windstöße, die das Meer herüberschickte, abzufangen und die Petroleumlampe zu halten, die der alte Mann an einem der Pfosten befestigt hatte. Seit Joshua seine Frau verloren hatte, war es mit dem Obstgeschäft nicht mehr weit her, und auch sonst stand er ziemlich allein in der Welt. Von sieben Buben waren noch drei am Leben. Doch sie hatten sich in dem großen Land zerstreut und Joshua wusste nicht recht, wohin es sie verschlagen hatte. Wo sollte er sie denn suchen? Außerdem – wenn er ganz ehrlich sein wollte – war es ihm nie in den Sinn gekommen, die Stadt zu verlassen. Wo hätte er denn hingehen können? Er verkaufte doch sein Obst. War das nicht gut genug? Und er war so glücklich, wenn Selmira zu ihm kam und ein paar Stunden bei ihm blieb. Meistens hockte das Kind auf einer umgestülpten Kiste und stopfte sich eine halbwegs essbare Banane in den Mund.

»Joshua! Deine Bananen sind schon wieder schwarz. Es wird nicht leicht sein, sie noch loszuwerden!«

»Ich weiß, ich weiß schon.«

Der alte Mann musste sich das alles gründlich überlegen. Mit schläfrigen Augen ließ er die paar Reais, die er tagsüber eingenommen hatte, durch seine Finger gleiten. Ob er dafür auf dem Frühmarkt noch genauso viel bekommen würde? Blieb dann doch noch ein später Käufer vor seiner Obstbude stehen, so wurde er meistens von Selmira bedient. Wenn es Nacht in Rio wurde, dann kauften sie lieber von ihr.

Joshua wühlte in den Kisten. Die Angefaulten mussten raus. Kurz vor elf kam Angelica vorbei und nahm den Kram mit. Was sie damit wohl anstellen mag?, fragte er sich, während er den Inhalt seiner Tageskasse immer wieder zählte und das Päckchen zerfledderter Scheine schließlich in einem halbvollen Sack versteckte, in dem er gewöhnlich Trockenobst verwahrte. Er musste sich vor den Jungen, die sich jede Nacht zusammenrotteten, durch die Straßen rannten und kleine Händler und wehrlose Frauen ausraubten, hüten. Was konnte man tun? Eigentlich war ihm nie etwas anderes eingefallen, als zwei, drei Scheine und etliche Münzen geringen Wertes neben der Waage liegen zu lassen. Die rissen sie dann jedes Mal herunter und weg waren sie.

Lange genug hatte der alte Mann an seinen Trick geglaubt. Bis sie ihn eines Nachts vermöbelten, auf seine Knie traten und in seine Ohren brüllten: »Los, Opa! Wo ist der Zaster?« Dann schlugen sie immer wieder auf ihn ein. Woher sollte Joshua denn wissen, ob sie in der nächsten Nacht wiederkamen?

»Es geht immer blitzschnell«, fügte er sich. »Und die paar Leutchen, die dann noch vorbeilaufen … die helfen mir doch nicht. Die gucken nur zu, werfen höchstens die Hände in die Luft und laufen schnell weg.« Joshua schüttelte den Kopf. »Es geht so schnell … immer so schnell.« Nie habe ihm einer geholfen, jammerte er. »Manche lachen sogar. Hier lachen sie immer«, behauptet er aus Erfahrung. Auch wenn es gar nichts zu lachen gebe. Und dann, ganz plötzlich, lacht er selber. Warum sollte er nicht lachen? »Zahlt man dafür vielleicht Steuer?«

Im Übrigen: Wer wisse schon, was uns der nächste Tag bringen wird? Für ihn liege nicht mehr viel drin, glaubte Joshua im Stillen. Sein Bauch wurde in letzter Zeit so dick. Obwohl er gar keinen Appetit mehr hatte und die Kisten kaum noch heben konnte. Vielleicht, weil seine Arme abgemagert waren und weil er so schnaufen musste, bevor es wieder weiterging.

Nachdenklich betrachtete er den Betrunkenen, der vor sich hinlallte und an den Obstkisten vorbeitorkelte. Weit wird der Bursche nicht mehr kommen, vermutete Joshua. Und Bananen wird er auch nicht kaufen. Umfallen wird er. Einfach umfallen und liegen bleiben und nicht einmal mehr den Wind spüren, der nachts von der See herüberbläst.

»Selmira!« Er wollte sie doch so lange schon danach fragen … Joshua starrte die Kiste an, auf der das Mädchen gerade noch gesessen hatte.

»Puxa!« Der Blonde kaufte also doch keine Bananen. Er wollte nur Selmira haben.

Eine glasklare Träne versickerte in dem Gesicht des alten Mannes. Warum bloß ist sie weggelaufen? Ängstlich löschte Joshua die Petroleumlampe und legte sich auf das Bündel leerer Säcke.

Das Getrappel kam aus der Nebenstraße. »Polícia, Polícia!« Schüsse, ein einzelner gellender Schrei, dann ein Körper, der über den Abflusskanal stürzte, und die Sirene eines Bereitschaftswagens, der durch die Straße heulte. Im Morgengrauen veranstalteten sie den Sturm auf die Disko. Dann stopften sie ein rundes Dutzend kahlköpfiger Dealer in den Transporter. Zusammengepfercht ging’s auf die nächste Polizeistation. Was hieß das schon? Der Leutnant im vorausfahrenden Jeep gähnte vor sich hin. Nacht für Nacht die gleiche Tour, die gleichen Straßen, kreischende Bremsen, raus aus dem Jeep, schussbereite Waffen im Anschlag und weiter. Immer weiter. In rasender Fahrt über Plätze und durch Gassen, rein in schummrige Löcher, Schlupfwinkel und Kokskeller ausfindig machen, vorbei an lebensgefährlichen Hinterhöfen, pechschwarzen Durchfahrten, an mannshohen Stahlgittern vor den Zementburgen der Reichen. Warnrufe, Hohngelächter, höllisches Echo aus finsteren Ecken, über das Pflaster klatschende Strandsandalen. Noch halbe Kinder schleiften sie jede Nacht auf die Wache. Dort ging es bis zum Morgengrauen mit den Verhören weiter. Wer stur war, kriegte seine Dresche. Mittags musste man die Kerlchen wieder laufen lassen. Schon von alters wegen. Außerdem … wohin mit ihnen? Nur die großen Haie, die ein Heer von Buben und Mädchen, die Hosentaschen voll Koks und Crack, durch die Gegend schickten, kriegten sie nie.

 

»Komm schon«, murrte der Fahrer des Jeeps. »Nix mehr los heut Morgen.« Der Motor fing an zu husten. »Merda! Das fehlt uns gerade noch.«

»Halt mal an«, befahl der Leutnant. »Dort … in der Einfahrt!« Hinter einem halb offenstehenden Hoftor erhoben sich Umrisse des Rohbauskeletts. Haarscharf am Randstein hielt der Jeep. Die Halogenlampe tastete einen Zementpfeiler nach dem anderen ab und verlor sich im schwarzen Hintergrund. Irgendwo wimmerte jemand. Oder war es nur leises Stöhnen, Ausklang einer endlos freudvollen Nacht? Wo war man denn? Also, warum nicht weiterfahren? Nichts wie weiter! In einer halben Stunde war es aus mit dem Dienst.

»Stopp mal!«

Der Lichtstrahl traf mitten in das Gesicht. Ein blauschwarzes Kindergesicht, verzerrt, mit dunklen Flecken gleich neben der Nase, zitternde Lippen. Jetzt hielt es die Hand über die verweinten Augen.

Wieder war sie da, die lähmende Angst, das Nicht-Wissen, wohin, nur Entsetzen pur und Scham und die Mauer, über die man nicht herüberkommt. Wo wohnte die Freiheit? Die Wunde oberhalb des Knies blutete. Warum bloß war sie mitgegangen? Wäre sie nur bei Joshua geblieben …

Misstrauisch wurde sie angestarrt, von oben bis unten. »Wer war das?«

Wer sollte es schon gewesen sein? Irgendeiner eben. Selmira schwieg und blickte vor sich hin auf den sandigen Boden, den Rücken an den Betonpfeiler gelehnt.

»Los, red schon, wo hast du dich rumgetrieben?« Fragend zeigte der Polizist in die Dunkelheit des Rohbaus. Wer weiß, was dort drin mit der Kleinen passiert ist?

Selmiras Tränen tropften in den Sand. Beim letzten Mal hatte es auch so angefangen. Jetzt werden sie wieder fragen und fragen. Und dann, wenn sie fertig sind, werden sie mit ihr hinauffahren und sie abliefern, und sie wird wieder vor ihrem Vater stehen. Wieder und wieder. Immer wieder. »Nein, bitte … bitte nicht. Nicht nach Hause!«

Die Polizisten hörten es nicht. Wozu auch? Es war kurz nach fünf, um sechs war es mit dem Nachtdienst aus. »Setz sie hinten rein und fahr los!«

Hinter der nächsten Querstraße stotterte der Motor zum zweiten Mal. Dann stand die Kiste. Endgültig und definitiv. Im Schein der Taschenlampe sahen sie Öl auf den Boden tropfen. »Ein Liter ist mal weg. Mindestens.« Das Wasser im Kühler kochte. »Merda maldita!«

»Das hast du jetzt schon zum zweiten Mal gesagt.«

Der Fahrer hörte es nicht. Vielleicht war der Motor endgültig im Eimer. Selmira weinte leise vor sich hin.

Jenseits knarrte ein Fenster. Der keuchende Atem der Frau war bis hierher zu hören. Für Sekunden zeigten sich fleischige Arme auf dem Fensterbrett. Neugierig belauschte sie das Gespräch in dem verlassenen Sträßchen und rückte dabei ihre Brille zurecht. Nachdem sie das Fenster geschlossen hatte, verlosch das Licht in der Stube.

»So früh schon auf den Beinen?«, rief der Leutnant.

Armanda sicherte sich am Handlauf der Treppe und tappte wortlos hinunter. »Was ist mit der Kleinen?«, fragte sie mit einem Blick auf den Jeep.

»Immer schön neugierig, hm! Was soll schon mit ihr sein? Ausgerissen wahrscheinlich und durch die Gegend zigeunert. So wie alle!«

»So wie alle?« Mit einem Zipfel der Schürze putzte Armanda ihre Brille. »So wie alle«, wiederholte sie leise und besah sich die Flecken in Selmiras Gesicht.

»Das Dingchen da kommt mit«, murrte der Offizier. »Auf die Wache. Sobald die Kiste wieder okay ist.« In einer Stunde sei es aus mit dem Dienst, wurde Armanda informiert. »Aus, fertig.« Er gähnte auf den Asphalt, auf dem sich der Frühnebel niedergelassen hatte.

Der Fahrer zerrte eine Dose Motorenöl unter dem Rücksitz hervor. »Na ja. Bis zum Amt dürften wir noch kommen«, hoffte er. »Dann werden wir weitersehen.«

»Trinkt erst mal eine Tasse Kaffee. Wird euch guttun«, meinte Armanda. Mit ihrem krummen Daumen zeigte sie auf die Treppe. »Und lasst mir die Kleine nicht im Wagen.«

»Wir müssen auf die Wache.« Der Fahrer klappte das Handy auf.

»Besteira!« Der Leutnant hatte den Geruch heißen Kaffees in der Nase und nahm seinem Fahrer das Handy weg.

Selmira kletterte heulend aus dem Jeep. Treppauf zerrte der Leutnant das Kind hinter sich her und orientierte sich am Gekeuche der dicken Frau, bis er die Haustür aufspringen hörte. Armanda schaltete das spärliche Licht des Lämpchens ein, das neben dem leise tönenden Radio auf einer altmodischen Truhe stand. »Sie schlafen nur mit Musik«, flüsterte sie. »Immer wollen sie Musik hören.« Ihr Blick lag besorgt auf den Mädchen, die quer übereinander mit angezogenen Beinen auf dem Sofa lagen. »Die Buben stecken dort«, sagte sie achselzuckend und zeigte unter den Tisch, wo zwei Jungen, bis an die Köpfe in Decken gehüllt, auf einer durchgescheuerten Matratze lagen. Armanda lächelte eine Entschuldigung heraus. »So viele Betten hab ich nicht … schade. Ihr wisst schon, so einfach ist’s nicht, in dieser Zeit.«

Mit einem nicht unfreundlichen »Kommt doch mit« tappte sie voraus in die Küche, um Kaffeewasser aufzusetzen. Zwischen zerbrochenen Kacheln, notdürftig mit Zement verkittet, hingen Kapuzenpullis und Nylonjacken an eisernen Haken. Tipptopp, stellte der Leutnant nach einem Blick auf den blank gescheuerten Küchenboden fest.

»Die Mädchen helfen ein bisschen und die Buben werkeln hinten im Gemüsegärtchen. Anders geht es doch nicht.«

Aus der Ecke zog ein angenehmer Geruch von frisch gebackenem Brot herüber. Zwei kleine Mulatten hatten sich die Nacht über Kopf an Kopf auf einem Notbett eingerichtet. Im Schimmer des heraufkommenden Tages vertieften sich die Falten im Gesicht der Frau.

»Alles Ihre Kinder?«, zweifelte der Polizeioffizier.

Armanda schenkte Kaffee ein und dachte über die seltsame Frage nach. Was sollte sie ihm antworten? »Unsere Kinder sind das«, sagte sie bestimmt und starrte ihn an, während kochendes Wasser durch den Kaffeefilter floss. »Unsere Kinder sind das, Leutnant! Unsere Kinder von Rio.« Immer wiederholte sie es. »Unsere Kinder«, und dabei zuckte sie mit den Achseln, schwatzte vor sich hin und lief schließlich auf den engen Gang hinaus, um nach etwas zu suchen.

»Hast du’s gehört?«, fragte der Beamte und nippte an der Tasse. »›Kinder von Rio‹ hat sie gesagt.«

»Eigentlich … wenn du’s so siehst …«

Draußen auf dem Gang murrte Armanda vor sich hin. »Sie haben sie vergessen und einfach stehen lassen. Stehen lassen wie einen alten Stuhl.«

Selmira lehnte an der gekachelten Wand neben der Feuerstelle und stopfte sich ein Stück Brot in den Mund.

Armanda kam mit einer Decke unter dem Arm und rieb sich die Augen, um den Schlaf zu vertreiben. »Die beiden Zimmer sind voll«, murmelte sie, »aber auf dem Gang draußen unter den Kleiderhaken gibt’s noch ein bisschen Platz. Für ein Kind gibt es immer noch ein Plätzchen. Es muss gehen. Es muss einfach gehen!«

»Ich seh mal nach unserem Karren«, sagte der Fahrer. »Vielleicht will er jetzt.«

Armanda stellte Teller und Milchbecher auf ihren Küchentisch. Vier … sechs … sieben zählte sie in Gedanken ab. Dann schnitt sie dicke Scheiben von den warmen Broten ab. »Sie haben Hunger, immer haben sie solchen Hunger!«

Draußen wich das Zwielicht endgültig dem kommenden Tag. »Bom dia«, sagte der Leutnant an der Tür. »Und danke auch, Frau …«

»Armanda«, sagte sie und lächelte ihn zum ersten Mal an. »Einfach Armanda.«

Unten sprang der Motor an. Die Frau tappte ans Fenster und wartete, bis die Reifen auf dem Asphalt quietschten. Dienstschluss um sechs, erinnerte sie sich. Die kleinen Mulatten auf dem Notbett neben der Kochnische kitzelten sich, pufften sich gegenseitig in die Rippen und lachten dabei. »Pst«, warnte Armanda und zeigte auf die offenstehende Küchentür. »Wir haben Besuch bekommen.« Mit einer Hand am Fensterbrett blinzelte sie hinter dem Jeep her, bis das Vehikel nicht mehr zu sehen war. Selmira lag mit angezogenen Beinen unter einer leichten Decke auf dem Boden der Diele und träumte von einem Garten voll bunter Schmetterlinge, die auf großen rosaroten Blumen saßen.

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