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Zombie-Ideen und Bullshit

„Mögen hätt’ ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut.“

Karl Valentin

Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman, der sich seit Jahren in einer eigenen Kolumne der New York Times mit der Wirtschaftspolitik der USA und anderer Staaten auseinandersetzt, brachte auf eine Frage des KI-Forschers Lex Fridman nach dem Respekt vor anderen Meinungen das Konzept der „Zombie-Ideen vor.45 Zombie-Ideen und -Argumente sind diejenigen, die durch Fakten und wissenschaftliche Studien (längst) widerlegt sind und trotzdem wie Zombies von deren Anhängern am Leben erhalten werden. Hier ist eine kleine Auswahl der klar belegten Widerlegungen:

•Homöopathie funktioniert über den Placeboeffekt hinaus nicht.

•Die Erde ist keine Scheibe.

•Impfungen funktionieren und retten bei Weitem mehr Menschenleben, als sie durch Impfschäden zu gefährden.

•Der Klimawandel ist real und durch Menschen verursacht.

•Die Wirtschaftskonzepte von Ayn Rand sind Humbug.

•Der „Trickle-down-Effekt“ bei Steuernachlässen für Reiche existiert nicht.

•Die Erde ist klar älter als 5.000 Jahre.

•Die Mondlandungen haben stattgefunden.

Eine respektvolle, wenn auch kontroverse Diskussion kann nur dann stattfinden, wenn sie auf Fakten und der Akzeptanz wissenschaftlicher Methoden basiert. Alles andere wäre Krugman zufolge Unsinn und stelle nur eine Zeitverschwendung dar. Solchen Diskussionen müsse man keinen Respekt entgegenbringen.

Richard Dawkins beispielsweise, Biologe und bekannter Atheist, der die Absurdität eines Gottesbegriffs oder des Glaubens an Schöpfung sehr kämpferisch vertritt, scheut nicht davor zurück, mit Kirchenvertretern zu diskutieren. Ein amerikanischer Bischof drückte in einem Interview seinen tiefsten Respekt vor Dawkins aus, weil er in den Diskussionen durchaus die Position des anderen zu verstehen versucht. Dem Bischof gefielen diese intellektuell sehr ansprechenden Diskussionen mit Dawkins, hingegen hat er selbst ein Problem mit religiösen Eiferern seines eigenen Glaubens, denen Vernunft und Ratio fremd sei.

Einige der von Krugman genannten Zombie-Ideen kommen uns sicherlich bekannt vor und betreffen nicht nur amerikanische Vertreter dieser Ideen. Auch bei uns gibt es ein zahlreiches Angebot solcher Ideen, die uns Zeit und Kapazität nehmen, die wirklich relevanten Probleme anzupacken. Beispiele gefällig von klaren Widerlegungen?

•Elektroautos sind in der weiten Mehrheit der Fälle umweltfreundlicher als Verbrenner.

•Die Datenschutzgrundverordnung hat vor allem heimischen Unternehmen geschadet.

•Chemtrails gibt es nicht.

•Der Dieselskandal wurde nicht deshalb von den Amerikanern aufgedeckt, weil sie den deutschen Automobilherstellern schaden wollten.

Wer meint, dass sich einige dieser Zombie-Ideen nicht von Verschwörungstheorien unterscheiden lassen, liegt nicht ganz falsch. Verschwörungstheorien liefern noch Gründe in Bezug auf die Schuldigen und deren Motiven nach. Die globale Pharmaindustrie versuche, die Homöopathie zu vernichten, weil sie um ihre Milliardenerlöse fürchte. Der Klimawandel sei von schwedischen Aktivistinnen erfunden worden, um der Wirtschaft zu schaden und Jobs zu vernichten. Der Dieselskandal sei von den Amerikanern zur mutwilligen Schädigung der deutschen Autoindustrie losgetreten worden. Chemtrails werden von der Bundesregierung versprüht, um uns zu kontrollieren. Covid-19 stamme aus chinesischen Giftlaboren und sollte die Wiederwahl Trumps verhindern.

Medien, die solchen Stimmen aus falsch verstandener Sorge um eine ausgewogene Berichterstattung Raum geben oder um Leser- oder Zuschauerzahlen zu steigern, machen sich mitschuldig am Fortbestand von Zombie-Ideen.

Es ist verständlich, dass manche der Diskussionen um Zombie-Ideen für den Laien nicht leicht durchschaubar sind. Ein befreundeter Arzt zeigte mir ein während der Covid-19-Krise veröffentlichtes halbstündiges Video, in dem die ergriffenen Maßnahmen kritisiert wurden und scheinbar gut recherchierte und vertrauenswürdige Quellen herangezogen worden waren. Als Arzt an der Front der Pandemie war er beeindruckt, wie seriös und wissenschaftlich die Argumentationskette schien, hätte er es nicht besser gewusst und seinen Bullshit-Detektor eingeschaltet gelassen. Und da meinte er, wäre es ihm klar gewesen, wie leicht es sei, Laien zu beeindrucken und zu verwirren.

Der Philosoph Harry Frankfurt beschrieb Bullshit als das, was Menschen erzeugen, wenn sie versuchen, jemanden zu beeindrucken oder zu überreden, ohne sich darum zu kümmern, ob das, was sie sagen, wahr oder falsch, korrekt oder inkorrekt ist. Üblicherweise folgt solch Bullshit Brandolinis Gesetz, benannt nach dem italienischen Informatiker Alberto Brandolini, der nach der Beobachtung einer Talkshow mit dem ehemaligen italienischen Premierminister Silvio Berlusconi Folgendes sagte:46

Die Menge an Energie, die benötigt wird, um Bullshit zu widerlegen, ist um eine Größenordnung größer als [die, die benötigt wird], um ihn zu produzieren.

Bullshit und Zombie-Ideen sind keine Erfindungen der Neuzeit. Francis Bacon, der als Vater der empirischen Wissenschaften angesehen wird, warf den Magiern, Wunderheilern und der Religion nicht vor, dass sie von den beobachteten Phänomenen besessen gewesen wären, sondern dass sie nicht nur nicht daran interessiert waren, diese zu verstehen oder erklärbar zu machen, sondern sie im Gegenteil sogar teilweise noch zu vernebeln, um selbst daraus einen Vorteil zu ziehen. Bacon meinte in seinen „The Refutations of Philosophies“:

Das Kennzeichen der echten Wissenschaft ist, dass ihre Erklärungen den Dingen das Geheimnisvolle nehmen. Schwindelei kleidet die Dinge so, dass sie wunderbarer erscheinen, als sie es ohne das Kleid wären.

Obwohl sich die Wissenschaften bemühen, den gegenteiligen Ansatz zu vertreten, gelingt das nicht immer. Selbst in der Wissenschaft werden die Teilgebiete mittlerweile so obskur, dass nicht einmal mehr Fachkollegen alles verstehen, was in ihrem Feld geschieht. Es überrascht nicht, dass es der Mehrheit der Bevölkerung schwerfällt, wissenschaftliche Methoden zu verstehen und Argumenten zu folgen.

Eine Anekdote eines Neurowissenschaftlers soll das verdeutlichen. Auf einem Flug saß er neben einem Rechtsanwalt, der ihn erkannt hatte. Vor zehn Jahren habe er ihn auf einem Kongress bei einem Vortrag zu den letzten Ergebnissen seines Forschungsgebiets über das Funktionieren des menschlichen Gehirns gehört. Der Anwalt fragte ihn, woran er denn jetzt forsche. Auf die Antwort des Neurowissenschaftlers, dass er nach wie vor Gehirnforschung betreibe, reagierte der Anwalt völlig perplex. Immer noch? War das etwa noch nicht gelöst? Dem Neurowissenschaftler fiel wie Schuppen von den Augen, dass der Rechtsanwalt, ein studierter und intelligenter Mann, offensichtlich nie gelernt und verstanden hatte, was wissenschaftliche Forschung umfasste und wie sie funktionierte.

Wissenschaftliche Neugierde kann auch bei Laien zu Interesse an neuen Fakten führen. Untersuchungen des Rechtsprofessors Dan Kahan mit seinem Team an der Yale University zeigten, dass weniger an Wissenschaft interessierte Versuchspersonen wenig Offenheit gegenüber Fakten zeigten, die ihrer eigenen politischen Gesinnung widersprachen.47 Nicht das Wissen über die Art, wie Wissenschaft funktioniert, sondern die wissenschaftliche Neugierde beeinflusste die Auswahl an Informationen.

Und das ist ein Problem. Wenn die Mehrheit nicht mehr versteht, was die Aufgabe der Wissenschaft ist, was sie leistet und wie sie funktioniert, und wenn die politische Gesinnung nur die Rosinen aus den wissenschaftlichen Fakten pickt, die der eigenen Überzeugung entsprechen, wird der Wert der Wissenschaften nicht richtig erkannt und wertgeschätzt und dies kann zu demokratischen Entscheidungen und einer öffentlichen Meinung führen, die die Wissenschaften – eine der größten Errungenschaften der westlichen Welt – in ihrer Arbeit behindern oder im Extremfall abschaffen und in den Untergrund treiben.

Der an der Yale University lehrende Mediziner und Sozialwissenschaftler Nicholas A. Christakis meint, wir sollten uns weniger vor den schlechten Dingen fürchten, die die Wissenschaft in einer Gesellschaft anrichten könnte, als vielmehr davor, was eine Gesellschaft der Wissenschaft antun kann.48 Einen Vorgeschmack darauf gab es während der Covid-19-Pandemie, als Wissenschaftler wie der deutsche Virologe Christian Drosten in der Öffentlichkeit Anfeindungen der übelsten Sorte bis hin zu Morddrohungen über sich ergehen lassen musste, nur weil er in seiner Funktion als Leiter der Berliner Charité als wissenschaftlicher Berater der Bundesregierung hinzugezogen wurde und Maßnahmen zur Eindämmung der Seuche vorschlug. Seinem US-amerikanischen Pendant, dem Immunologen Anthony Fauci, ging es nicht anders. Fauci hatte es allerdings einen Deut schwerer, weil seine eigene Regierung alles tat, um ihm zu widersprechen, und teilweise entgegengesetzte Maßnahmen ergriff.

Ohne die Wissenschaften und ein umfassendes Verständnis von deren Funktionsweise und Wert würden Gesellschaften ohne Zweifel einen Rückschritt in ihrer Entwicklung machen. Der Aberglaube würde wieder vorherrschen, Religionen würden uns wieder die Welt zu erklären versuchen und nicht auf Fakten basierende Entscheidungen würden zum Schaden der Allgemeinheit getroffen. Daraus folgende Handlungen und Vorschriften würden jenen gleichen, die wir bei Cargo-Kults beobachten.

Digitaler Cargo-Kult

Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.

 

Arthur C. Clarke

Als ich neun Jahre alt war, zog meine Familie von einem Randbezirk Wiens in die Mitte der Stadt. Anstatt uns ein Zimmer zu teilen, bekamen meine Geschwister und ich nun jeder unser eigenes Refugium. Die Wohnung war zwar größer geworden, doch aufgrund ihres Grundrisses fanden die Bücherregale und Bücher meines Vaters keinen Platz mehr im Wohnzimmer und wurden in meinem Zimmer untergebracht. Ist meine Bibliothek in den Jahrzehnten seither auf mehr als 3.000 Bände angewachsen, so beschränkte sich die Sammlung damals auf vielleicht ein Zehntel. Unter den Büchern meines Vaters zum Weltall und den Sternen befand sich auch ein Band eines Bestsellerautors, der es mit steilen Thesen und gewagten Narrativen zu einem gewissen Ruf gebracht hatte.

In seinen Werken verwob der Schweizer archäologische Funde und Legenden aus aller Welt mit moderner Technologie und spann daraus Geschichten, die beweisen sollten, dass die Erde bereits vor vielen Tausend Jahren von Außerirdischen besucht worden war und diese Kontakt mit der Menschheit aufgenommen haben mussten. Als Beweise führte der Autor beispielsweise die Anordnung von Pyramiden auf allen Kontinenten an, die ihm zufolge den Zweck gehabt haben mussten, außerirdischen Raumschiffen die Navigation zu erleichtern, oder die Abbildungen mysteriöser, menschenähnlicher Figuren, die aussahen, als hätten sie Raumanzüge getragen. Eine feuerspeiende und vertikal angeordnete Schlange auf einem antiken Bauwerk interpretierte er als Darstellung einer startenden Rakete.

Erich von Däniken, so der Name des Autors der millionenfach verkauften Werke, ließ sich nie durch wissenschaftliche Argumente in seinen Thesen beirren. Als Inspiration diente ihm der sogenannte Cargo-Kult.49 Dieses Phänomen war zum ersten Mal einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden, als während des Zweiten Weltkrieges zuerst die Japaner und dann die Amerikaner Militärbasen auf der südpazifischen Insel Tanna des Inselstaats Vanuatu eingerichtet hatten. Beide Seiten hatten zur Vorbereitung der Landung und zur Unterstützung ihrer Truppen mit Flugzeugen per Fallschirm Fracht abgeworfen, die Nahrungsmittel, medizinische Ausrüstung und Waffen umfasste. Fahrzeuge, Panzer und Flugzeuge wurden ebenso auf die Insel geschafft und Flugfelder, Unterkünfte und Verteidigungslinien eingerichtet.

Dass auf der Insel Eingeborene lebten, die noch nie mit Menschen aus anderen Kulturen Kontakt gehabt hatten, ging im Eifer des Gefechts der Weltkriegsparteien beinahe unter. Die Melanesier waren allerdings mehr als beeindruckt. Die vom Himmel fallenden Reichtümer, die unbekannten Objekte, die sie da sahen, die Maschinen und die Bräuche dieser weißhäutigen Menschen mussten ihnen wie Zauberei vorgekommen sein. Was sie da genau sahen, blieb den Melanesiern verborgen, dazu fehlte ihnen der Kontext. Was bedeuteten die Rituale der Menschen, die in die metallenen und lärmenden Riesenvögel stiegen und abhoben? Wozu dienten diese gläsernen Gestelle, die sich die Piloten auf die Nasen setzten und die Augen verbargen? Und wie ging der Hüftschwung der weiblichen Armeeangehörigen?

Als mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Frachtlieferungen aufhörten, fanden sich rasch einige charismatische Inselbewohner, die den Leichtgläubigen versprachen zu wissen, was man tun müsse, um die Götter gnädig und zur Aufnahme der vom Himmel fallenden Reichtümer zu bewegen. Man musste Flaggen setzen und die Rituale der Soldaten sowie die Einrichtungen der Amerikaner mit eigenen Mitteln nachahmen.

Das ist ein sogenannter „Cargo-Kult“, der seinen Namen aus dem englischen Wort für „Fracht“ ableitet. Darunter versteht man den Aberglauben, dass gewisse Rituale und Nachahmungen von Gegenständen, deren Zweck man nicht versteht, die Götter oder Ahnen zur Lieferung von ebendiesen Objekten und anderen Reichtümern bewege.

Der britische Science-Fiction-Autor Arthur C. Clarke beschrieb im Eingangszitat, wie solche Gegenstände – vulgo „Technologie“ – auf die weniger entwickelte Zivilisation wirken mussten: wie Zauberei.

Für unsere Vorfahren um das Jahr 1800 müsste die Begegnung mit einem Smartphone einen ähnlichen Effekt haben. Dass wir damit die Stimme einer Person auf einem anderen Kontinent hören, mit der Person sprechen und wir sie auch sehen können und mit demselben Gerät auf das gesamte Wissen der Menschheit Zugriff haben, ist absolute Magie. Ein paar Jahrzehnte früher und wir wären wegen dieses Teufelswerks auf dem Scheiterhaufen wegen Hexerei gelandet. Unsere Vorfahren 100 Jahre später um das Jahr 1900 wären davon zwar immer noch beeindruckt, aber es wäre für sie technisch bereits vorstellbar gewesen. Die ersten transatlantischen Kabel waren unter anderem von Siemens bereits verlegt worden, Rechenmaschinen bereits im Einsatz und Ton- und Filmtechnik dank Thomas Edison der letzte Schrei.

Während wir die einfältigen Melanesier belächeln und Dänikens Ideen als unterhaltsam, aber blühende Fantasie einordnen, sind wir selbst auf dem besten Weg, zu einer Gesellschaft mit reichen Biotopen an Cargo-Kulturen zu werden. Immer mehr der von uns genutzten Erfindungen und Innovationen unserer Vorfahren und Zeitgenossen verstehen wir immer weniger. Weder unsere Smartphones, unsere Flugzeuge noch unsere Computer oder Autos begreifen wir heute noch zur Gänze, viele nicht einmal im Ansatz.

Das an sich wäre nicht so schlimm, denn dazu ist die Welt und sind die vom menschlichen Erfindergeist geschaffenen Technologien zu komplex geworden. Das Problem beginnt dann, wenn es zu einer kognitiven Dissonanz zwischen diesen Technologien und unserem Streben kommt.

Es ist mehr als Ironie, wenn Fundamentalisten im Namen eines unsichtbaren und eingebildeten höheren Wesens – auch bekannt als Gott oder Allah – ihre Gesellschaft in eine vermeintlich einfachere mittelalterliche Zeit zurückbringen wollen und dazu Satellitentelefone verwenden und soziale Medien für die weltweite Rekrutierung von Unterstützern einsetzen. Dieselbe kognitive Dissonanz findet sich in unseren Reihen, wenn Menschen nicht an die Evolution, dafür aber an intelligentes Design glauben und sich trotzdem jedes Jahr brav zur Grippeimpfung anstellen.

Es stimmt schon: Göttliche Wesen verhalten sich auf genauso mysteriöse Weise wie Smartphones, Satellitentelefone und Impfstoffe. Und je weniger wir davon verstehen, desto mehr steigt die Gefahr, dass wir neue Möglichkeiten und Anforderungen nicht erkennen. Wenn wir aber nicht mehr erkennen können, woher der Fortschritt kommt, dann sehen wir ihn nicht mehr als von Menschen geschaffen, sondern als Übernatürliches an. Die kausale Verbindung zwischen Wissenschaft, Forschung und Innovation und Fortschritt geht verloren.

Uns geht es dabei wie den Melanesiern. Viele dieser neuen Technologien kommen plötzlich und ohne Vorwarnung über uns. Und deren Nutzen ist nicht immer gleich zu verstehen. Wenn die heutigen Technologien uns ausreichend Nahrung und Behausung, Licht und Wärme und Netflix gewährleisten, dann erscheinen weitere Innovationen nicht mehr die überlebenssichernden, großen Sprünge zu machen, wie sie in primitiveren und gefährlicheren Zeiten möglich schienen.

Das sind selbstverständlich Trugschlüsse. Unsere Welt ist nicht nur komplexer geworden, es fordern uns auch andere Gefahren und Herausforderungen heraus. Die Tatsache, dass wir in weniger als einem Jahr einen Impfstoff für eine Seuche bereitstellen konnten, sagt etwas über den Fortschritt aus, vor allem wenn wir die Auswirkungen der Spanischen Grippe 100 Jahre vorher als Maßstab heranziehen. Aber selbst diese Monate erschienen uns nicht nur zu lang, es starben auch zu viele Menschen an dem Virus. Unseren Kindern wünschen wir einen Impfstoff in kürzerer Zeit, am besten schon Stunden nach dem Auftreten eines Virus. Und das erfordert weiteren Fortschritt. Dabei können wir jedoch nicht willentlich einschränken, wo Fortschritt zu geschehen hat und wo nicht, denn die Innovationen in einem Feld können Innovation in einem anderen Bereich erst ermöglichen.

Allen gemein ist der Zugang und der Glaube an Technologie und Wissenschaft. Diese nicht zu verstehen oder sogar absichtlich missverstehen zu wollen führt dann zu solchen Beschlüssen wie dem des bayerischen Landtags, der für eine neue Studie stimmte, ob sich homöopathische Mittel als Antibiotika-Ersatz eignen.50 Und das, nachdem die Ergebnisse einer Metastudie nach der anderen die Wirkung von Homöopathie als durch die Wirklichkeit nicht belegbares Wunschdenken – als Zombie-Idee – bestätigen.

Vielleicht aber müssen wir einen anderen Weg gehen, um dem Schicksal zu entgehen, zu einem Cargo-Kult zu werden. Manche mechanischen Taschenuhren, die mich faszinieren, entblößen ihre Eingeweide durch einen gläsernen Schaudeckel. Die ineinandergreifenden Zahnräder, die Unruh, die Federn und beweglichen Teile wirken zwar kunstvoll und mysteriös, ihre Bewegungen hypnotisierend, aber sie signalisieren zugleich, dass sie von Menschen geschaffen und für mich verstehbar sind. Vielleicht ist das ein Grund, warum wir in den Ländern der Maschinenbauer und Chemiker so daran hängen: Es ist buchstäblich begreifbar.

Digitale Technologie hingegen gewährt uns diesen Einblick nicht. Immer mehr wird Technologie von uns abgeschottet, indem sie in Gehäuse ohne Schrauben vor uns versteckt wird oder Software uns den technischen Blick auf Dateisysteme vorenthält. An modernen Autos zu manipulieren ist ohne Software unmöglich und wenn, steht die Gefahr des Garantieverlusts im Raum. Die Funktionsweise neuronaler Netze – und wie sie zu ihren Ergebnissen kommen – ist selbst für Experten kaum mehr nachvollziehbar.

Dabei hilft nicht, dass diese Undurchsichtigkeit von den Herstellern teilweise so gewollt ist. Anstatt uns vor den Wundern der Technologie staunen zu lassen, wird alles getan, um uns vor den Innereien zu bewahren, vorgeblich im Namen der Sicherheit oder Benutzerfreundlichkeit, wobei tatsächlich oft nur Eigeninteressen vorliegen und man sich nicht in die Karten schauen lassen möchte.

Digitale Technologien haben etwas Geheimnisvolles an sich. Statt mechanische Teile bewegen sich Elektronen, die unsichtbar sind. Sie sind das moderne Äquivalent des göttlichen Wirkens. Vielleicht bestärkte das die Autobauer in der Illusion, deren Software, die auf mysteriöse Weise wirkt, sei anderen so fremd, dass sie die darin verpackten Schummeleien nicht erkennen würden. Diese Illusion wurde sehr öffentlich zunichtegemacht.

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