Buch lesen: «Der Prinz»

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Mario Cruz

Der Prinz

Roman

Aus dem chilenischen Spanisch

von JJ Schlegel

Mit einem Nachwort

von Florian Borchmeyer


Die Originalausgabe erschien 1972 in den

Ediciones Ventana al Mar unter dem Titel El Principe.

© Mario Cruz 1972

1. Auflage

© 2020 Albino Verlag

Salzgeber Buchverlage GmbH

Prinzessinnenstraße 29, 10969 Berlin

info@albino-verlag.de

Aus dem chilenischen Spanisch von JJ Schlegel.

Übersetzer und Verlag danken

Luis del Río Donoso für wertvolle Hinweise.

Nachwort: Florian Borchmeyer

Umschlaggestaltung: Johann Peter Werth unter Verwendung

eines Motivs aus dem Film Der Prinz von Sebastián Muñoz

Satz: Robert Schulze

Printed in Germany

ISBN 978-3-86300-294-7

Mehr über unsere Bücher und Autoren:

www.albino-verlag.de

INHALT

Mario Cruz DER PRINZ

Florian Borchmeyer MARIO LEBT HIER IMMER NOCH EINE SPURENSUCHE

GLOSSAR

Wenn ich jetzt im Knast landete, dann aus reiner Blödheit. Aber was hätte es gebracht abzuhauen? Alle hatten mitbekommen, wie ich dem Zigeuner* den Stich versetzt hatte. Ich bin am Arsch, dachte ich noch, während die Blutlache immer größer wurde.

Die Leute in der Kneipe waren zur Tür gerannt und hatten von dort aus zugesehen. Sie tuschelten und rempelten sich gegenseitig an. Von hinten hörte man das Feixen der Witzbolde, die nie fehlen.

Der Zigeuner* lag da und starrte zur Decke. Ich wollte ihm die Augen schließen. Hab mich nicht getraut. Ich nahm einen Stuhl; griff mir eine Flasche Bier. Ich hatte das Verlangen, etwas Starkes zu trinken. Die komplette Bar stand zu meiner Verfügung: Pisco, Rum, Branntwein, Anisschnaps. Aber dass die Leute mich anglotzten, verunsicherte mich. Ich empfand weder Schmerz noch Reue. Das war seltsam, weil ich den Zigeuner doch bewunderte, ja sogar liebte. Ich beschloss zu warten. Und setzte mich. Die Jukebox spielte weiter.

Die Bullen glaubten mir nicht, als ich dem Suff die Schuld gab. Sie vermuteten, dass ich ihnen die wahre Geschichte verheimlichte. Und vermöbelten mich gründlich. Dann warfen sie mich in eine Zelle, in der schon ein anderer saß. Ein Einbrecher. Wir redeten kaum. Jeder war mit seinem eigenen Problem beschäftigt. Es stank widerlich nach Pisse. Vom Gang drang etwas Licht von einer schmutzigen Birne in die Zelle. Die Bullen am Eingang verfolgten ein Fußballspiel im Radio. Sie schlossen mit lautem Geschrei Wetten ab.

Der Einbrecher war klein und hatte drahtiges, fast pechschwarzes Haar. Er saß auf dem feuchten Boden, mit ausgestreckten Beinen, an die Wand gelehnt. Trug ein gelbes T-Shirt und eine hellblaue Hose – fast so eine, wie ich sie vor zwei Jahren gehabt hatte.

Mit welchem Genuss hatte ich damals die alte ausgezogen. Sie war zu weit gewesen, am Hintern geflickt und schon so oft gebügelt, dass sie glänzte. Ich schlüpfte in die neue und lief ins Zimmer meines Vaters, um mich im großen Spiegel des Kleiderschranks zu begutachten. Die neue Hose war ganz leicht. Es war angenehm, ihren geschmeidigen, kühlen Stoff auf der Haut zu spüren. Sie saß schön eng. Hinten zeichnete sich die Unterhose ab, vorne beulte sie sich kräftig aus. Mann, war ich stolz!

Ich hab keinen hässlichen Körper. Hübsch bin ich natürlich auch nicht. Aber schlank. Und muskulös. Ich würde gern behaarter sein. Aber im Großen und Ganzen bin ich ganz zufrieden mit mir. Man sagt, dass ich mich lässig bewege.

Ich hab es schon immer gemocht, mit halboffenem Hemd herumzulaufen, sodass man meine Brust sieht. Zugeknöpfte Typen mag ich nicht.

An diesem Abend brachte mich der Gedanke an die Witze, die die Jungs über mein neues Outfit reißen würden, schon im Voraus zum Lachen. Es war klar, dass sie mich aufziehen würden. Mit Pfiffen, blöden Sprüchen und Sticheleien, die mir zu verstehen gaben, dass ich super aussah. Meine Leute erkannten erst jetzt, dass ich einen Körper besaß … mehr oder weniger. In meiner alten abgerissenen Kleidung hatte ich überall hingehen können, ohne dass mich jemand bemerkte. Es stand also außer Frage, dass die Jungs mir die neue Hose niemals kommentarlos durchgehen lassen würden, aber das war mir recht; ich wollte, dass sie mich im Gedächtnis behielten wie den Zigeuner. Wenn der auf seinem brandneuen chromblitzenden Motorrad aufkreuzte und mehr Lärm machte als der Teufel, guckten alle. Auch er trug sein Hemd immer offen, und der Wind fuhr hinein und ließ es flattern. Er hatte fast blonde Haare auf der Brust und ein goldenes Medaillon. Und eine elegante Art, vom Motorrad abzusteigen, sich zu strecken, zu lächeln und mit seinen bernsteingrünen Augen zu blinzeln. Er genoss es, sich an die Wand oder einen Baum zu lehnen, und das tat er so, dass der Stoff seiner Hose sich straffte. So konnte jeder seine kräftigen Beine sehen. Und das Paket dazwischen, das den Stoff fast zum Platzen brachte.

Wenn wir anhielten, um am Rande des Platzes miteinander zu reden, beobachteten ihn die Frauen aus der Ferne. Und wenn sie an ihm vorbeigingen, senkten sie die Blicke und kicherten albern und nervös.

Ich verbrachte die Nacht auf dem feuchten Zement. Immer noch besser als auf einer verlausten und verwanzten Strohmatratze. Ich war halbtot vor Kälte. Von Fußtritten geschunden. Ich hasste die brutalen Bullen. Ich krümmte mich auf dem Boden zusammen und flehte sie an, mich um Himmels willen nicht so heftig zu schlagen, wenigstens nicht auf den Kopf. Aber sie beschimpften mich nur, Hurensohn und so, um dann plötzlich wieder ganz sanft zu werden. Schließlich nahm der Chef die Sache in die Hand, ein Dicker mit Schnurrbart und Säufernase. Er trug Weste und schlug zu, ohne den Hut abzunehmen. Er sah aus wie ein Orientale.

«Sieh mal, Kleiner, wir sind gut informiert. Wir wissen alles, aber wir wollen es aus deinem Mund hören, dadurch wird es einfacher. Keiner hier ist scharf drauf, dich zur Sau zu machen. Erspar dir einfach die Unannehmlichkeiten. Hinterher streichen wir ein bisschen was aus dem Protokoll. Ehrenwort … Sonst verplempern wir hier doch alle unsere Zeit!»

«Aber warum glauben Sie mir denn nicht? Ich hab ihn tatsächlich nur deshalb umgebracht, weil ich so besoffen war, ich schwör’s bei Gott, das war ein Wutanfall!»

«Soso, dann bist du also ein ganz Harter!»

Und dann hagelte es Fußtritte und Faustschläge. Das hörte gar nicht mehr auf. Sie brachten mich in die Zelle und holten mich wieder raus. Einmal sagten sie, dass sie mich an den Strom anschließen würden. Ich musste mich nackt ausziehen, zitterte vor Angst.

«Jetzt wirst du singen, Unglücksvogel.»

Doch ich kam drum herum. Der Chef wurde wegen irgendwas nach oben gerufen und die anderen ließen mich in Ruhe. Ich hab dann so steinerweichend geheult, dass ein jüngerer Bulle mich eine Weile ansah.

«Zieh dich besser wieder an.»

Und dann brachte er mich in die Zelle zurück. Am folgenden Tag übergaben sie mich dem Anwalt.

Sie packten mich in die Abteilung von Gang sechs. Ich kam da völlig ausgehungert an, unrasiert und mit verdrecktem Hemd. In meiner Zelle saßen schon vier andere. Keiner muckte auf. Sie waren junge Leute wie ich. «Leg dich ein Weilchen hin!», sagte einer zu mir. Sonst nichts. Ich dankte ihm. Es musste so gegen zehn Uhr vormittags sein, ein klein wenig Sonne kam herein. Es war Dezember und wurde gerade warm.

Keiner fragte, was mich hergebracht hatte. Sie wollten nur meinen Namen wissen und ob ich aus Santiago kam. Man bot mir Tee an. Ich sagte, wie nett. Dann zündeten sie den kleinen Paraffinkocher in einer Ecke an, und während das Wasser kochte, schmierte mir jemand ein riesiges Käse-Sandwich. «Mach dir keinen Kopf, so schlecht ist es hier gar nicht!», sagte einer mit nacktem Oberkörper zu mir. Er hatte mehrere Stichnarben am Bauch und an den Armen. Er war ein Weißer mit Locken. So um die dreißig. Ich fand, er sah aus wie der Boss. Und damit täuschte ich mich nicht.

Er war eher hager. Wenn er lächelte, dann mit einem halb traurigen, halb überlegenen Ausdruck. Man nannte ihn El Potro, den jungen Hengst. «Zieh dein Hemd aus!», sagte er plötzlich. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, aber ich tat es. «Geh es waschen!», sagte er zu einem anderen Typen. Und der gehorchte auf der Stelle. El Potro schaute mich die ganze Zeit an. Das Gesicht, die Brust, den Bauch, die Arme – er musterte mich von oben bis unten. Um meine Verlegenheit zu überspielen, sah ich mich in der Zelle um. In der Mitte hing ein leerer Kanister als Lampenschirm von der Decke. Aber es gab keinen Strom. An der Wand ein paar ausgeschnittene Fotos alter Fußball-Legenden. Pedro Araya* und Juanito Soto* waren dabei, zur Zeit ihrer großen Triumphe, und die ganze alte Mannschaft des Colo-Colo*. Auch die Sportunion und einige junge Boxer. An einer anderen Wand die Madonna del Carmen* in Farbe, mit einem Soldaten und einem Matrosen, die vor ihr knieten. In einer Ecke ein Zopf Knoblauch und jede Menge Zwiebeln, die in Dreier- oder Viererbünden von einer Schnur baumelten, die durch den gesamten Raum gespannt war. Zwei Betten. Doppel-stöckig. Wie Kojen auf einem Schiff. Mit alten Decken und hübschen bunten Tüchern. Die Laken waren schön weiß. Auf der Küchenseite ein paar Dosen, zwei Bananen, Zitronen und ein halbes Kilo Kartoffeln. Als Sitzgelegenheit eine Kiste und zwei aus Holzresten gezimmerte Höckerchen. Hinter der Tür ein kleiner Spiegel.

«Du hast Glück», sagte El Potro. «Wir sind hier sauber, haben zu essen und keiner ärgert dich. Klar, wer nicht weiß, was Respekt ist, verzieht sich besser schnell woanders hin.» Er zückte eine Schachtel und bot mir eine Zigarette an. «Nein, danke», antwortete ich kurz angebunden. «Etwa Nichtraucher?», fragte er beharrlich. Dann schwiegen wir eine Zeit lang. El Potro musterte mich immer noch, während einer der Jungs wiederum ihn nicht aus den Augen ließ. «Bist du sehr müde?» Ich verneinte. «Lass uns einen Spaziergang machen», schlug er vor. Ich folgte ihm. Wir gingen den Gang entlang, von einem Ende zum anderen. «Hola, El Potro», grüßten die anderen Insassen. Man sah ihnen an, dass sie ihn mochten und respektierten. Später erfuhr ich, dass er kein schlechter Kerl war; wenn er aber mit jemandem in Streit geriet und wütend wurde, was nur selten passierte, endete derjenige entweder im Krankenhaus oder auf der Leichenbahre.

Er ging gern schnell. War nervös, auch wenn man es ihm beim Reden nicht anmerkte. Wir gingen unter Leinen hindurch, die am Geländer des zweiten Stocks befestigt waren, und an denen frische Wäsche zum Trocknen hing: Socken, Hemden, Unterhosen, sogar ein riesiges Laken. Manche Typen drehten wie wir ihre Runden. Andere standen beieinander und unterhielten sich; wieder andere lasen oder kümmerten sich ums Abendessen.

Ganz hinten mittig war das Klo. Wer es benutzte, musste sich vor aller Augen draufsetzen. Seitlich befanden sich schimmelige Duschen, aus denen nicht mehr als ein dünnes Wasserrinnsal tröpfelte. Ein stämmiger Kerl erschien, zog sich aus und begann, sich einzuseifen. Er war so behaart, dass sich sofort jede Menge Schaum bildete.

El Potro war nett und nach dem zu urteilen, was er erzählte, ziemlich gutmütig. Er wartete auf eine Verurteilung wegen einer schlimmen Sache. Hatte zwei Männer schwer verletzt, einem davon einen bösen Schnitt verpasst. Die waren ein bisschen zu überheblich gewesen. Er wollte in den Vollzug verlegt werden; dort war vieles besser. Gebürtig war er aus Curicó*, kannte aber fast das ganze Land. Er erzählte mir, dass ihn die Polizisten fast totgeschlagen hätten, um ihn zu zwingen, einen seiner Kumpels zu verraten. Sie schlugen ihn sogar mit Ketten. Ihm lief das Blut aus Mund und Nase, und seine Eier waren ganz geschwollen von den vielen Fußtritten. Aber er hatte nichts verraten. Deshalb betrachteten ihn alle als ihren Boss. Weil er gerade und aufrecht war. In Santiago hatte er nur einen Bruder, der aber nicht einen Besuchstag versäumte.

«Und wie haben die Bullen dich behandelt?», fragte er. Und ich erzählte ihm, dass sie mir sogar Stromschläge verpasst hatten. Und zwar mehrmals. Er wollte wissen, warum. Ich gab dann ein bisschen an. Hab’s ihm erzählt, aber leicht ausgeschmückt. Ich fasste Vertrauen zu ihm, wurde richtig übermütig. Das Schlimmste lag schließlich hinter mir. Ich hatte jetzt einen Freund. Ich schaute ihn mir genauer an. Er war weder hässlich noch hübsch. Mir gefiel, dass er weiß war. Und das Wichtigste: seine entschiedene Art, sein Verhalten. Ich fühlte mich sicher bei ihm.

«Komm, wir besuchen die Wimper», sagte er, und wir gingen zu den Zellen im zweiten Stock. Wimper war etwa so alt wie er und ziemlich galant. Hatte ein riesiges Transistorradio. Trug Manschettenknöpfe und Krawatte. Ein Blick genügte, um zu kapieren, dass er seinen Spitznamen nicht bekommen hatte, weil er eine Schlafmütze war: Seine Wimpern waren tatsächlich lang und dicht; so hübsch, dass sie unweigerlich Aufmerksamkeit auf sich zogen. Er hatte einen jungen Burschen, der ihn bediente. Bot uns was zu trinken an, und der Kleine kredenzte uns eiskalte Cola, die in einem Eimer mit Wasser gebunkert wurde.

Sie redeten über das, was auf dem Gang so alles vorfiel. Ich spitzte die Ohren. Erst verstand ich nicht richtig, worum es ging. Schlägereien, Eifersüchteleien, Diebereien. Nach und nach begriff ich dann mehr.

Später fand ich heraus, dass zwischen El Potro und Wimper etwas vorgefallen war. Als sie selbst noch Jungen waren. Im Erziehungsheim in der Calle Lira. Dort schliefen sie zusammen. Bis Wimper in den Jugendknast verlegt wurde. Danach nahm El Potro eine Rasierklinge und schlitzte sich den Bauch auf. Aus Kummer. Hinterher hatte er einen, der die Geschichte weitererzählte, fast kaltgemacht. El Potro wurde bestraft und war fortan eine Respektsperson.

Am Nachmittag wurde es richtig heiß. «Gehen wir duschen», sagte El Potro zu mir. Ich wollte nicht. «Sei nicht so zimperlich. Du musst dich waschen, damit du nicht das Bettzeug verdreckst.» Und so gingen wir. El Potro zog die Schuhe aus, die Socken, die Hose und die Unterhose. Ich musste das Gleiche tun. Und dann seifte er mich ein. Unvermittelt trat er zur Seite und schubste mich unter das Wasserrinnsal. Dann machte er mit meinem Rücken weiter.

Als wir zurückkamen, zog der Typ, der El Potro zuvor nicht aus den Augen gelassen hatte, ein langes Gesicht. Die Bullen kamen, um uns einzuschließen. Wir aßen Tomatensalat mit Zwiebeln. Hatten Tee mit viel Brot und einem Stück Käse, und rauchten eine Zigarette. Danach unterhielten wir uns ausgiebig. Wir lachten über jeden Mist. Bis es dunkel wurde und sie eine Kerze anzündeten. Von überall her hörte man leises Flüstern. Es kam uns vor wie ein Trauergesang. Mein Blick schweifte zu der Kerze und den tanzenden Schatten. El Potro erinnerte sich an einen Film und wurde sentimental. Der Typ, mit dem er am engsten befreundet war, rückte näher an ihn heran, aber El Potro beachtete ihn nicht. Und dann fingen sie an, über Mode zu reden. Alle standen auf langes Haar. Und darauf, Kohle zu haben und die besten Klamotten zu tragen, die so eng wie möglich saßen. Nach einer Weile gab auch ich meinen Senf dazu. Und dann redeten wir über Sänger. Über Gardel*, Sandro*, Raphael*, Adamo*, aber vor allem über Leonardo Favio*. Darüber, dass der ja auch wie wir im Knast gewesen war. Und dass er seinen Freund nie verraten hatte. Das kam in mehreren Liedern vor. Der Freund hieß Carlos. Dann fingen wir mit den Tangos an. Und einer fing ganz leise an zu singen.

«Wir legen uns jetzt besser hin!», sagte El Potro. Alle stimmten zu. «Du pennst bei mir!» Damit meinte er mich. Der andere Typ, der so was schon hatte kommen sehen, protestierte: «Und ich?» – «Hau dich auf den Boden. Hier hast du eine Decke. Die Jungs oben sollen dir noch eine geben.» Der Kleine wurde puterrot vor Wut, wagte aber nicht zu widersprechen.

«Dreh dich zur Wand», sagte El Potro zu mir. Sein Bett war das untere. Die Kerze wurde gelöscht, und es war nun sehr dunkel. Aber sie redeten weiter. Über irgendeinen Western. Und während sie redeten, fing El Potro an, meine Beine zu reiben. Die waren sehr behaart. Innerlich schwankte ich zwischen Ruhe und Angst. Vor allem aber schämte ich mich. Wegen des Spotts, der kommen würde. Ich war wirklich zu bedauern. Morgen würden es alle wissen.

El Potro drängte mich, mich näher an ihn zu schmiegen. Mir blieb nichts anderes übrig als zu gehorchen. Dann schob er seine Hand in meine Unterhose und fing an, mich hinten zu massieren. Ich hätte mich gerne fallen lassen, aber, weil ich daran denken musste, wie ich bluten würde, gelang es mir nicht. El Potro streichelte, presste und rieb an mir herum, bis er plötzlich meine Hand an sein Ding führte. In meinem Schreck erschien es mir riesig. Er säuselte mir ins Ohr, ich solle keine Angst haben. Ich spürte seinen Atem, seinen Mund, der mich biss, den Bart, der mich kitzelte – und ließ es geschehen.

Die Jungs im anderen Bett machten offenbar dasselbe. Und was den Pechvogel auf dem Boden anging: Der hörte uns garantiert verbittert zu und wäre am liebsten gestorben.

Als El Potro schlief, überkam mich der Ekel, und ich grübelte vor mich hin. Bis ich irgendwann, ich weiß nicht wie, selbst einschlief. Vier, fünf Stunden später wachte ich auf. El Potro schnarchte. Und ich ekelte mich nicht mehr. Im Gegenteil. Fast sehnte ich mich nach einer Umarmung. Aber nicht aus Geilheit. Mir war klar geworden, dass ich es sicher und ruhig haben würde, solange ich mit ihm zusammen war. Niemand würde es wagen, mich zu beleidigen. Man würde mich respektieren. Weil mich das sehr froh machte, und vielleicht auch, um meine Nerven zu beruhigen, begann ich leise zu weinen.

Am nächsten Morgen weckte mich ein vielstimmiges Raunen. Erst dachte ich, es wäre etwas passiert. Aber es waren nur die Typen, die in ihren Zellen auf den Aufschluss warteten. Der Verschmähte auf dem Boden sah aus, als ob er die ganze Nacht kein Auge zugetan hätte. Allmählich wachte auch El Potro auf. «Hola», sagte er mit einer gewissen Zuneigung zu mir. Da konnte sich der Typ nicht länger zurückhalten. «Jetzt grüßt man also nur noch den Prinzen.» – «Und was geht dich das an, du Unglückswurm?», antwortete El Potro und stand auf, nackt wie er war. Ich dachte, er würde dem anderen eine verpassen, doch er griff nur nach der Bettdecke, zog sie zurück, packte mich am Arm, drehte mich auf den Bauch und sagte spöttisch zu ihm: «Klar ist der ein Prinz! Siehst du das denn nicht?» Damit gab er mir einen Klaps auf den Hintern: «Zieh dich an, mein Junge!», und lachte lauthals los.

Auf einem Hocker stand ein Becken mit Wasser. «Zuerst der Prinz», sagte El Potro, um den Typen noch mehr zu ärgern. Die anderen lachten. Ich wusch mir Gesicht und Haare. Weil es in der Zelle relativ dunkel war, fand ich mein Spiegelbild sehr schmeichelhaft. El Potro, der meine Gedanken erahnte, rief mir zu: «Ja, doch, du bist ein Hübscher.» Man hörte, wie Türen geöffnet wurden. Der Aufschluss begann. «Alle raus, Kinder!», brüllte ein Wärter. Wir stellten uns in einer Reihe auf. «Abzählen!» Und wir legten los: «Eins, zwei …» Das musste sehr ernsthaft vor sich gehen, mit so lauter Stimme, dass es deutlich zu hören war. Wer zu leise sprach, bekam die Faust zu spüren. Danach verteilten sie heißes Wasser in Kanistern. Da sie aber wussten, dass El Potro einen Kocher hatte, boten sie ihm keines an. «Gut, mach das Frühstück fertig», sagte El Potro zu dem, der ein langes Gesicht machte. «Ist das jetzt nicht sein Job?», antwortete der. «Schon, aber er ist der Prinz, und du musst ihn bedienen.» Der andere sagte kein Wort mehr und setzte das Wasser auf. Dann schmierte er eine Reihe von Käse-Sandwichs und bediente einen nach dem anderen. Als er mir die Tasse reichte, schaute er in die andere Richtung. «Auch noch die kalte Schulter zeigen?», sagte El Potro und ließ sich Tee nachschenken. Der arme Tropf verzog sich in eine Ecke. «Und du, kein Frühstück?» Keine Regung, keine Antwort. El Potro wurde wütend.

«Antworte, verdammt noch mal.» Aber nichts. Da stellte El Potro seine Tasse ab, sprang auf, packte den Schmollenden am Kragen und zog ihn hoch. «Hab ich nicht mit dir geredet?» Der Typ begann zu flennen. El Potro versetzte ihm einen Faustschlag, der ihn gegen die Wand taumeln ließ. Der Typ ging auf die Knie und umschlang die Beine seines Peinigers: «Schlag mich doch nicht, mein schöner Robertito.» Jetzt wusste ich El Potros richtigen Namen. Nach einer Salve Fußtritte schleifte er den Typen zur Tür. «Und jetzt hau ab. Kannst dir heute Nachmittag, wenn ich nicht da bin, deine Sachen abholen.» Der andere rannte weg. El Potro packte seine Tasse, trank den restlichen Tee in einem Zug aus, zog die Schachtel raus, bot uns Fluppen an. Wir rauchten, und das war’s.

Nach etwa einer Woche hatte ich mich völlig daran gewöhnt, mit El Potro zu schlafen. Aber es gab mir zu denken, bereitete mir, wie man so sagt, «Kopfzerbrechen». Nach dem Einschluss, wenn wir zur Ruhe kamen, El Potro und ich, begannen meine Gedanken zu schweifen. An anderen Abenden erzählte ich ihm mein Leben.

Ich bin aus San Bernardo. Ein Dorf, in dem so wenig passiert, dass die Nachbarn am Nachmittag ihre Stühle rausstellen, um auf dem Bürgersteig zu plaudern, die Passanten zu beobachten und dem Geschrei der Vögel zu lauschen. Hin und wieder kommen Züge vorbei, auch Lastwagen und Busse in Richtung Süden. Aber die Jungs interessiert es nicht, auf Reisen zu gehen oder auch nur ein bisschen auszubrechen. Und das, obwohl Santiago ganz nah ist. Doch man meint, es wäre achtzig, neunzig Kilometer entfernt. Die Häuser sind riesig, manche aus Lehmziegeln, mit sehr hohen Wandelgängen, deren Putz fast überall vom Regen abgewaschen wurde, die Farben von der Sonne gebleicht. San Bernardo ist nicht arm, auch nicht bedrückend. Nachts spazierte ich gerne pfeifend durch Straßen, die finster waren, weil die Bäume die Laternen verdeckten. In den Gärten mit ihren Blumen, die sich ganz von allein vermehrten, fehlte weder der steinerne Löwe mit abgesprungener Nase noch der halb verbeulte eiserne Schwan.

Als Kind ging ich gerne zum Friedhof der Lokomotiven. Sie standen am Eingang der Maestranza, unserer großen, im ganzen Land bekannten Werkshalle beim Bahnhof: verrostet, weitgehend demontiert, in allen Größen und bis hin zu den ältesten Modellen. Eingehend sah ich mir die riesigen Räder an, die Glocken und Schornsteine, und hinterher stieg ich ins Führerhaus und stellte mir vor, ich würde einen sehr langen Zug mit vielen Waggons lenken, und bis in eine weit entfernte Stadt fahren. Als ich älter wurde, interessierte ich mich für Fußball.

Entlang der Panamericana*, wo heute Wellblechsiedlungen stehen, gab es damals nur Pferdekoppeln, auf denen man herumrennen konnte, losschreien, Spinnen, Schmetterlinge, Schlangen oder Eidechsen jagen. Dort traf ich mich immer mit ein paar Kindern und wir bolzten rum. Ich allein gegen fünf oder sechs. Klar, die waren viel jünger, aber es war trotzdem lustig. Ich musste beim Spiel alles geben. Wie so ein verzweifelter Wilder. Man endete schnaubend, schwitzend wie ein Pferd, und die Kleider klebten einem am Leib. Dann rannten die Kinder los, um in einem nahegelegenen Kanal zu baden. Sie zogen sich hastig aus und fingen an, fürchterlich zu kreischen. Ich streckte mich auf einem Sandstreifen am Ufer aus, ganz nah am Wasser. Mit ihren Kopfsprüngen spritzten die anderen mir Wasser ins Gesicht und auf die Kleidung. Ich hätte gerne mitgemacht, aber traute mich nicht. Ich war schon siebzehn, während die Kleinen noch kurze Zipfelchen und kein Schamhaar hatten. Das Problem hätte sich mit einer Badehose lösen lassen, aber woher die nehmen? Stattdessen trug ich altmodische Herrenunterwäsche. Weil mein Vater keine Slips mochte. Richtiges Rentnerzeugs! Denn geizig war er auch noch. Ich gab mir nicht die Blöße, mich in diesen Dingern zu präsentieren. Es hätte nur dazu geführt, dass ich mich lächerlich gemacht und riskiert hätte, dass bei jeder kleinsten Bewegung der Schlitz aufging und alles herzeigte.

Eine Zeit lang machte ich mir nur ein bisschen die Füße nass. Bis ich eines Abends nach der Kickerei erschöpfter war als je zuvor. Diesmal hielt ich es nicht mehr aus und fing an: «Verdammt, ein Bad könnte jetzt nicht schaden.» Die Kinder spornten mich dermaßen an, dass ich mir einen Ruck gab.

Da hörten das Herumgeplantsche und das Gelächter auf. In Nullkommanichts hatte ich mich ausgezogen. Sie schauten verlegen zu mir rüber. Er hing schlaff zwischen meinen Beinen. Aber im Vergleich zu denen der anderen war er riesig, sehr dunkel und von vielen Haaren umgeben. Sollten sie doch glotzen! Irgendwann bekamen die auch mal so einen, also sprang ich ins Wasser.

Ich war nie in einem Schwimmbad gewesen. Der Ort, der meiner Vorstellung davon am nächsten kam, war die äußerste Ecke des Grundstücks hinter meinem Haus. Dort hatte ich mir aus einem Schlauch und einer durchlöcherten Pfirsichdose eine Dusche gebastelt.

Aber der Kanal war viel besser. Ich schrie lauthals. Stieg aus dem Wasser. Hüpfte wieder rein. Wieder und wieder. Ich konnte nicht still bleiben. Sang. Irgendwelche Schlager. Ich machte den Klageruf der Mexikanerinnen, und wenn ich im Text nicht weiterwusste, erfand ich was. Die Kleinen gaben den Chor. Sie bogen sich vor Lachen. Dass ich nackt war, interessierte keinen mehr.

Aber irgendwann machten unsere Stimmbänder schlapp. Ich wollte eine rauchen, ging zu meinen Klamotten und holte die Schachtel aus der hinteren Tasche meiner Hose. Dann legte ich mich auf den Rücken, um den Himmel und die Wolken zu betrachten und mich von der Sonne trocknen zu lassen. Die Kleinen legten sich daneben, bis sie mich völlig umringt hatten. Sie sahen mich an. Ich versuchte so zu tun, als würde ich an was anderes denken, wusste aber, dass die Jungs mich so anstarrten, weil sie nur über das eine reden wollten. Der Rauch der Zigarette schmeckte mir besser als sonst. Ich schloss die Augen. Und es war, als würde ich mich selbst betrachten, nackt inmitten der Jungenschar. Ich fühlte mich wichtig. Und begann mich sehr langsam zu räkeln und vor Vergnügen zu seufzen. Dann sagte der älteste der Jungen zu mir: «Krieg ich eine Zigarette?» Ich gab ihm zwei. Damit sie sie rumreichen und gemeinsam rauchen konnten. Nach einer Weile machten sie sich einen Spaß daraus, Rauchkringel in die Luft zu pusten, aber sie dachten immer noch an das eine. Bis sich schließlich einer von ihnen dazu durchrang, mich zu fragen.

Und ich erzählte. Zunächst mit gedämpfter Stimme, stockend, ein bisschen verschämt, aber ich wurde mutiger. Kam in Fahrt. Schließlich redete ich so hastig, als würde mir die Zeit fehlen, um alle Details zu erwähnen. Und weil ich nun schon mal dabei war, erzählte ich alles, was ich wusste, und erfand das wildeste Zeug, und als ich bei den Titten angekommen war, verspürte ich einfach nur noch den drängenden Wunsch, es zu tun. Ich wollte aufhören. Aber ich war schon so aufgegeilt, dass ich gerade noch sagen konnte: «Guckt mal …», und schon kam es mir.

Damit waren die Kleinen aufgeklärt. Wir zogen uns wieder an. Auf dem Heimweg sagte ich zu ihnen: «Ihr erzählt aber niemandem, was ihr vorhin gesehen habt!» Sie mussten mir ihr Ehrenwort geben, und wir gingen weiter. «Bei mir dauert es noch ein Jahr, dann kann ich das Gleiche machen», sagte der Älteste. «Vielleicht auch weniger.» – «Denkt an was anderes», entgegnete ich. – «Können wir aber nicht», antworteten sie.

Von diesem Tag an badete ich fast täglich im Kanal. Doch die Kinder waren nicht mehr dieselben. Sie hatten ihre Scham verloren. Zwischen Kichern und verbalen Ferkeleien langten sie sich gegenseitig an ihre Dinger. Nach meinem griffen sie nie. Aber sie baten mich, es noch einmal zu machen. Da wurde ich sehr ernst. «Jetzt aber Schluss damit!», sagte ich. Trotzdem fingen sie immer wieder an. Ich versetzte ihnen Klapse auf den Hintern und Fußtritte. Die anderen machten Witze, bis irgendwann wieder Ruhe einkehrte.

Aber manchmal erwischten sie mich auf dem falschen Fuß. Ein paar waren sehr gewitzt und löcherten mich regelrecht mit Fragen. Ich versuchte immer schnell zu antworten. Um nicht erneut einen Ständer zu riskieren. Wenn ich näher auf das Thema einging, war ich verloren. Was soll’s, dann entschuldigte ich mich. Und machte es. Um es hinterher zu bereuen. Ich fühlte mich wie einer dieser Perversen, über die die Zeitungen berichteten.

Bis ich, ohne es geplant zu haben, einen Ausweg fand. Man musste nur, Nacktheit hin oder her, ein neues Spiel beginnen. Wenn sie wieder mit den Fragen anfingen, trat ich gegen den Ball und schon vergaßen die Kleinen alles um sich herum.

Eines Abends wehte ein starker Wind den Ball gegen einen Maschendrahtzaun. Dahinter lag ein halb verwildertes Grundstück. Man sah dort nie Leute. Die Obstbäume waren bereits abgeerntet. Nur in einem besonders hohen Baum hingen in den obersten Zweigen noch große reife Pflaumen. Wir zögerten. Hunde waren keine zu sehen. Also gingen wir das Risiko ein und fingen an zu klettern. Der leichteste Junge stieg so hoch, dass die Äste gerade noch stark genug waren, um ihn zu tragen. Dann machte er sich an die Arbeit. Er schmiss die Pflaumen runter, und wir bissen gierig hinein. Der Saft floss uns vom Mund bis zum Hals, tropfte uns auf die Brust und rann weiter bis in den Bauchnabel.

Plötzlich stieß der Junge ganz oben einen Schrei aus, sprang vom Baum und rannte, ohne sich auch nur einmal über seine harte Landung zu beklagen, mit den anderen weg. Ich, der weniger schreckhaft war, blieb im Baum. Ich schaute mich nach allen Seiten um und konnte keine Anzeichen von Gefahr entdecken. Erleichtert seufzte ich auf. Doch während ich auf die Rückkehr der Feiglinge wartete, hörte ich hinter mir eine Frauenstimme. «Kommen Sie da runter», sagte sie. Das war kein Befehl. Eher schien es eine Bitte zu sein. Ich erschrak und hielt mir hastig die Hände vor mein bestes Stück. Aber ich nahm sie gleich wieder weg, weil ich an ein Gemälde denken musste, auf dem eine nackte Frau ängstlich durch einen Wald ging, die eine Hand vor der Scham und die andere vor den Brüsten. Außerdem fand ich die Stimme irgendwie seltsam. Ich rührte mich nicht. Die Frau wartete. Bis ich mich entschloss, ihr den Kopf zuzuwenden, um sie anzusehen. Und ich sah sie. Auf einer Decke sitzend an ein Kissen gelehnt. Sie musste etwa vierzig sein. War mager und hatte Augen wie ein Kind, das sich den Magen verdorben hat. Sie lächelte mir zu. War allein. Wir sahen einander an. Ich etwas verschämt. Sie glotzte mir direkt auf den Schwanz. Ich wurde wütend und sprang vom Baum, um was weiß ich was anzustellen. Die Frau presste die Lippen zusammen, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich stand am Baum wie ein Idiot, starrte Löcher in die Luft und wartete darauf, dass sie etwas zu mir sagte. So verging eine Minute. Ich verschwinde besser, dachte ich. Aber ich musste pinkeln. Also beugte ich mich vor, spreizte die Beine, um nicht nass zu werden, und ließ es laufen.

Der kostenlose Auszug ist beendet.

€12,99

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0+
Umfang:
131 S. 2 Illustrationen
ISBN:
9783863003074
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Bookwire
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