Im Zwielicht der Vergangenheit

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Nach Weihnachten, also im Januar, da bin ich ja sicher schon ganz schön dick, da kann er mich unmöglich über die Schwelle …

„Nun mach doch mal endlich auf, Annemie!“

Obwohl sie am Fenster steht, hat sie Sieglindes Kommen nicht bemerkt, hastig öffnet sie ihr die Tür.

„Tag, Mutter. Entschuldige, ich habe dich nicht gehört.“

„Du standest doch am Fenster! Träumst du, was ist los mit dir? Nun lass mich doch erst mal vorbei. Hier, nimm den Koffer und stell ihn in die Küche. Der ist schwer, in Frankfurt gab es gestern Apfelsinen. Hedi und ich haben eine Stunde angestanden, das war eine Schlange, sag ich dir.“

„Wie geht es denn Hedi?“

„Ach, du weißt doch, wie sie ist. Immer am Jammern, seit Onkel Karl tot ist. Na ja, und dann ihr Rheuma. Ich soll dich schön grüßen von ihr. Wo sind denn meine Pantoffeln? Hast wieder alles verkramt hier, Annemie.“

„Mutter, die hattest du doch mitgenommen, die sind im Koffer. Hier, zieh die anderen an. Und komm in die Stube, es ist kalt. Lass uns erst mal Kaffee trinken, ich habe Kuchen gebacken.“

„Ach! Du hast gebacken? Hast du Langeweile gehabt?“

„Napfkuchen, mit sechs Eiern. Die Eieraufkaufstelle hatte nämlich gestern schon zu.“

„Bist zu spät los gegangen, nicht wahr, das sieht dir ähnlich.“

„Nun reg dich nicht gleich wieder auf, Mutter. Die anderen hat mir Onkel Otto abgekauft.“

„Ausgerechnet der … Hm, der Kaffee ist gut, Hedi kann keinen Kaffee kochen, ihrer ist die reinste Plürre. Der Kuchen schmeckt auch ganz ordentlich. Na ja, ein Rührkuchen, da kann man nicht viel versauen. Da esse ich gleich noch ein Stück, frisch schmeckt er am besten.“

Mit gutem Appetit essen sie den Kuchen, trinken andächtig und schweigend ihren Kaffee und denken beide zugleich, das ist die Ruhe vor dem Sturm. Und als die Standuhr zur vierten Nachmittagsstunde schlägt, da schiebt sich Sieglinde die letzten Bröselchen ihres dritten Kuchenstücks in den Mund, richtet sich auf und sagt mit leicht bebender Stimme, „du bist schwanger, das bist du doch, oder?“

„Wenn du es sowieso schon weißt, wieso fragst du dann noch?“

Trotzig wirft Annemarie ihren Kopf in den Nacken und meidet Sieglindes Blick.

„Hast mir doch die ganze Zeit schon nachspioniert, Mutter. Denkst du, ich habe es nicht gemerkt? Sogar im Abfalleimer hast du rumgewühlt wegen der Monatsbinden.“

„Sei bloß nicht so frech zu deiner Mutter, noch lebst du unter meinem Dach. Lässt dir von diesem Tunichtgut ein Kind andrehen und spuckst hier große Töne. Ein Bernard, ha! Die taugen doch alle nichts.“

„Woher willst du denn das wissen.“

„Pass mal auf, was ich weiß, das kannst du dir in deinen kühnsten Träumen nicht vorstellen. Und hör jetzt mal auf, so bockig zu sein, lass uns vernünftig reden, Annemarie. Hast du denn noch Kontakt mit ihm?“

„Nein.“

„Na, Gott sei Dank. Es wird ja nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird. Du musst das Kind ja nicht behalten. Für eine Abtreibung ist es zu spät, aber du kannst es ja zur Adoption frei geben.“

„Bist du wahnsinnig, Mutter? Was denkst du dir eigentlich, das ist mein Leben! Warum soll ich denn mein Kind weggeben? Nenn mir einen Grund, weshalb ich so etwas tun soll.“

„Wie du meinst“, sagt Sieglinde, „du musst es ja wissen.“

Hohl klingt ihre Stimme, sie starrt auf das Tischtuch, nervös glättet ihre Hand immer und immer wieder eine Falte.

„Ich habe dir was zu sagen, Mutter. Es gibt Neuigkeiten.“

Sieglinde schaut auf, grau und alt sieht sie aus und ihr Blick ist seltsam stumpf. Annemarie fühlt sich nun unsicher, aller Triumph schwindet vor diesem Blick. Sie schluckt und räuspert sich und strafft ihren Oberkörper.

„Ich werde Manfred heiraten“, sagt sie mit bebender Stimme.

„Bist du jetzt total bekloppt! Wie kommst du denn auf so was?“

Sieglinde schlägt sich die Hand vor den Mund, mit großen Augen schaut sie ihre Tochter an,

„Er hat mir einen Antrag gemacht und ich habe ja gesagt, so einfach ist das. Nächste Woche bestellen wir das Aufgebot.“

Sieglinde schweigt, ganz weit weg scheint sie zu sein und schließlich sagt sie mit seltsam verloren klingender Stimme: „Und das Kind? Willst du das wirklich tun, Annemarie?“

Hilflos sieht sie aus, hockt da mit hängenden Schultern und starrt ins Leere.

„Mutter! Er weiß doch, dass ich schwanger bin. Was denkst du denn von mir, dachtest du etwa, ich … ich kann es nicht fassen!“

Bitter klingt Sieglindes Lachen auf.

„Wärst ja nicht die erste, die es so macht“, sagt sie leise, „was denkst du, wie oft so was vorkommt. Wenn eine Frau schwanger ist, dann denkt sie nur an ihr Kind, dann will sie dem Kind das Nest sichern.“

„Aber es ist doch nicht so! Er hat gesagt, er will der Vater des Kindes sein. Er liebt mich und eine Wohnung hat er uns auch schon besorgt, in Angermünde, eine Neubauwohnung. Freust du dich denn gar nicht, Mutter?“

„Das geht mir alles zu schnell. Kaum bin ich mal weg, da stellst du unser ganzes Leben auf den Kopf. Mein Gott, die Sache hat doch sicher einen Haken, Annemarie!“

„So ein Blödsinn. Weißt du was, das sieht dir so richtig ähnlich, dass du mir die Freude vergällst. Ich räum jetzt mal ab.“

„Nun warte doch, Annemarie, ich habe das ja nicht so gemeint, ich mache mir eben Sorgen! Komm, setz dich wieder, wir müssen doch über alles reden. Ich kann ja nichts Schlechtes über ihn sagen, er ist ein fleißiger und strebsamer Mann … Nur dieses übertriebene Parteigetue, das gefällt mir nicht.“

„Aber er ist doch Chef, Mutter, da muss er doch in der Partei sein.“

„Das sind andere auch, aber sie kehren das nicht so nach außen. Sie tun nicht so eifrig damit. Was weißt du eigentlich über seine Eltern, was sind denn das für Leute? Kommt er nicht aus der Greifswalder Gegend?“

„Ja, aus Neuhof, das liegt direkt am Bodden. Sein Vater und sein Bruder sind Fischer in einer Produktionsgenossenschaft.“

„Na, ja, die werden ja auch nichts an Sack und Zippel haben. Fischer, einfache Leute sicher. Aber du kannst ja froh sein, dass er dich nimmt.“

„Bin ich auch! Und stell dir vor, ich bin sehr glücklich. Aber du redest, als wenn du mir mein Glück nicht gönnst.“

„Das stimmt doch gar nicht, nun hör mal auf. Ich hoffe nur, das geht gut. Da willst du mich also hier allein sitzen lassen, na ja, so ist das. Die Hühner und die Kaninchen werde ich abschaffen, das ist mir alles zu viel, wenn du nicht mehr da bist.“

„Und wenn du nun das Haus verkaufst, Mutter? Zieh doch auch nach Angermünde, da hast du die ganze Arbeit nicht mehr.“

„Du spinnst wohl! Verkaufen, nie und nimmer, das hier ist mein Leben! Aber das kannst du nicht verstehen, dazu bist du noch zu jung. Du wirst noch froh sein, dass wir den Garten hier haben, wenn das Kind da ist. Ein Kind braucht Auslauf und vor allem frisches Obst und Gemüse.“

So reden die beiden noch eine ganze Weile hin und her. Sie sprechen von der Hochzeit, die natürlich nur im kleinen Kreise stattfinden wird, denn bis Januar wird man deutlich sehen, dass Annemarie schwanger ist. Zum Standesamt im Jackenkleid, vielleicht weinroter Samt oder blaue Seide. Nein, lieber Samt, es ist ja Winter. Und dann die Schuhe, am besten ein hoch geschlossener Pumps, den kann man später immer noch tragen. Die Blumen, das wird ein Problem im Winter, die muss man rechtzeitig bestellen.

„Zu Mittag gibt es Hühnerfrikassee mit Fleischklößchen. Und Spargel, ich habe genug eingeweckt. Hach, als wenn ich es geahnt hätte! Dann backe ich natürlich einen Frankfurter Kranz, eine Obsttorte und Blechkuchen und abends gibt es Kartoffelsalat mit Kasslerbraten, dazu vielleicht noch Fisch. Was hältst du von Räucheraal, Annemarie? Ich kenne da jemand, der könnte uns welchen besorgen, der hat Beziehungen zum Fischladen und ich gebe ihm ein Kaninchen dafür, die müssen ja nun sowieso weg. Wir werden rechtzeitig eine Gästeliste machen, damit wir wissen, wie viel wir brauchen. Und dann muss ich die Tafeltücher durchwaschen und mangeln lassen.“

„Ja, Mutter. Es ist ja noch ein bisschen Zeit.“

„Die Zeit läuft schnell davon, du wirst dich wundern. Wer kommt denn alles von seiner Familie?“

Sieglinde ist ganz in ihrem Element, rote Bäckchen bekommt sie und sie redet ohne Unterlass. Annemarie wundert sich. Das ist eine ganz neue Mutter, eine Pläne schmiedende Mutter, eine lebhafte Frau, die nun sogar lacht, als sie von ihrer eigenen Hochzeit erzählt. Vom Tanz in der Scheune erzählt sie, von fünfzig geladenen Gästen, eine richtige große Bauernhochzeit war das und ihr Vater hätte sich nicht lumpen lassen. Dann aber seufzt sie tief auf und sagt: „Das war eine andere Zeit, die kommt nie mehr zurück.“

Annemarie ist längst zu Bett gegangen, selig ist ihr Schlaf und süß ihre Träume. Ihre Mutter jedoch steht noch immer allein am Fenster und starrt in die Nacht.

„Lass es bloß gut gehen! Bitte, bitte, lieber Gott, bitte hilf.“

So betet sie flehentlich in kindlicher Art und nur sie allein weiß, was der liebe Gott gut gehen lassen soll.

Berlin/Charlottenburg, am ersten Weihnachtstag 1961

Sacht schließt Lucie von Mahlendorff die Tür hinter ihm und wendet sich wieder ihrem Schreibtisch zu. Alles läuft nach Plan, so denkt sie und es ist einfacher, als ich dachte.

Wie konnte ich nur befürchten, dass er Skrupel hat, wo ich ihm doch die Chance seines Lebens auf einem silbernen Tablett serviere.

Während Lucie ihren Tresor aufschließt, um ihr großes Geheimnis, welches heute notariell beglaubigt wurde, verschwinden zu lassen, greift nebenan in seinem Zimmer Henry Bernard zum Telefonhörer, um seiner Mutter Käthe ein frohes Fest zu wünschen.

 

„Frohe Weihnachten, Mutter … Mutter? Hörst du mich?“

„Ja! Warum brüllst du denn so?“

„Weil ich dich so schlecht verstehe, da sind so komische Geräusche im Hintergrund.“

„Ich versteh dich gut, Junge. Ja, frohe Weihnachten. Ich soll dich auch schön grüßen von Tante Amalie, sie sitzt hier neben mir.“

„Ja danke, grüß sie zurück. Jetzt versteh ich dich gut. Alles in Ordnung bei dir? Schneit es?“

„Bis jetzt nur ein bisschen, ich hoffe, es bleibt so. Wer soll mir denn beim Fegen helfen, wo du nicht mehr da bist.“

„Du hast doch den Radloff, den Friedhofsgärtner. Oder kommt der nicht mehr?“

„Doch. Aber auf den ist doch kein Verlass!“

„Ach Mutter!“

„Weiter fällt dir nichts ein, was?“

„Jetzt hör auf, mir Vorwürfe zu machen. Du wolltest doch selbst, dass ich rübergehe.“

„Da wusste man ja noch nicht, dass die alles dicht machen.“

„Hör zu, Mutter. Nächsten Sommer komme ich nach Heinrichshagen und dann werde ich mich um so einiges kümmern, das verspreche ich dir. Wir lassen das Dach neu decken. Noch ist nicht aller Tage Abend, die Zeiten werden sich ändern, verstehst du, Mutter?“

„Aber das geht doch nicht, Henry! Die werden dich gleich verhaften, wenn du hier auftauchst, die lassen dich gar nicht erst über die Grenze, Junge! Und wovon willst du den Dachdecker bezahlen? Und erst mal einen finden. Was redest du denn da!“

„Sie lassen mich rüber, Mutter, sei ganz unbesorgt. Ich habe jetzt einen bundesdeutschen Pass und ich bin noch vor dem Mauerbau getürmt. Sie können mir gar nichts. Und das mit dem Dach ist gar kein Problem, sagt Lucie. Sie übernimmt das Finanzielle, das soll ich dir ausrichten. Für harte Währung bekommst du jeden Dachdecker.“

„Lucie … So, so. Meine gute alte Freundin Lucie. Hast du denn schon … Du weißt, was ich meine. Bist du einverstanden?“

„Ja. Sie hat es mir vorige Woche gesagt, das heißt, sie hat mich gefragt. Da habe ich erst mal eine Weile drauf rumgekaut, Mutter … Aber wenn es dir recht ist. Es ist ja nur auf dem Papier. Mit meiner Arbeit läuft auch alles gut. Hast du Lucies Weihnachtspaket schon bekommen?“

„Ja, danke, sag ihr herzlichen Dank … für alles. Ich werde ihr in den nächsten Tagen schreiben.“

„Nein Mutter, lieber nicht! Nichts Schriftliches, hörst du? Ich richte ihr Grüße aus. Und ich soll dir sagen, sie kommt natürlich im Sommer mit, sie freut sich schon darauf.“

„Ach, das wäre ja wunderbar! Und sag ihr, die Gräber von Parchims sind abgedeckt. Mit Blautanne. Den Stein habe ich auch geputzt und den Affen vom Bauamt, dem hab ich was erzählt. Du weißt doch, die wollten den Stein entfernen, weil er angeblich wackelig war.

Ich habe ein Gutachten erstellen lassen, vom Steinmetz in Angermünde, das stimmt ja alles gar nicht, der Stein steht fest wie ne Bombe.“

„Gut, Mutter … Hast du mal was von Annemarie Giese gehört? Ich schrieb ihr einige Male, aber sie hat mir nie geantwortet.“

„Sie hat dich anscheinend schnell vergessen, Henry. Wie ich gehört habe, heiratet sie demnächst und schwanger ist sie auch.“

„Wie soll ich das verstehen, Mutter?“

„Ach, Henry, es ist, wie es ist! Vergiss das Mädchen, sie heiratet ihren Chef, den Manfred Poltzin, den kennst du doch, den Küchenchef aus der Papierfabrik.“

„Was? Ausgerechnet diese rote Socke? Ich fass es nicht!“

„Ist ja gut, Henry, ich versteh dich ja. Aber jetzt musst du nach vorn schauen, hörst du.

Grüß Lucie von mir, ja? Und bleib gesund. Tschüs, Junge!“

Henry lässt den Hörer sinken und er starrt auf das Telefon, als würde er weitere Nachrichten erwarten. Erklärungen, Ergänzungen, Aufklärung darüber, dass es sich nur um einen von Mutters dummen Scherzen handelt, dass Annemarie sehr wohl noch immer auf ihn wartet … Und schöne Grüße soll ich dir von ihr ausrichten, Junge …

Unruhig läuft er hin und her, bleibt zwischendurch am Fenster stehen und sieht, es hat geschneit. Neuschnee nun auch in Berlin, der Wintersturm aus den eisigen Weiten Russlands trieb über Nacht die Schneewolken gen Westen. Ohne sich um Mauer und Stacheldraht zu kümmern, hüllt der Schnee die geteilte Stadt in ein weißes Kleid, weiße Weihnacht hüben und drüben.

… „Leise rieselt der Schnee … nun schweigt Kummer und Harm.“ …

Die weiße Pracht deckt barmherzig zu, was hässlich und betongrau die Stadt verschandelt. Leiser die Schritte, leiser die Befehle der Grenzoffiziere, leiser das Bellen der Hunde am Todesstreifen. Rot leuchtet frisches Blut im frischen Schnee.

Männer weinen nicht. Schon gar nicht um ein Mädchen …

Nun weine doch nicht, Annemie, du kommst ja nach … An ihren hübschen langen Wimpern, da haften die Tränen, winzig kleine Perlen, sie leuchten im Sommermittagslicht. Er küsst sie weg und flüstert: „Du riechst nach Sehnsucht. Schon jetzt habe ich Sehnsucht nach dir.“

Die Sehnsucht, schon längst verblasst im Zwielicht der Vergangenheit, gleicht einem Foto, das man lange Zeit in einem Album aufbewahrte. Wenn man es nach vielen Jahren wieder einmal sieht, weht ihr Duft vergissmeinnichtblau in die Gegenwart. Dies ist der Moment des vergangenen Glücks, der Moment der verpassten Gelegenheiten, an die man sich mit sachter Trauer erinnert … Ach hätte ich doch, ach wäre ich doch … Es ist die Melodie des Schicksals, nicht mehr und nicht weniger.

Heinrichshagen, am zweiten Weihnachtstag 1961

„Ich habe mir das Saufen angewöhnt, Amalie.“

Käthe trinkt einen großen Schluck Weinbrand und sie stellt das Glas recht unsanft auf den Tisch zurück.

„Pass doch auf, schade um das schöne alte Glas.“

„Ist das alles, was dir dazu einfällt?“

„Hör zu, Käthe. Ich weiß, es ist nicht leicht für dich. Wir haben uns das beide anders vorgestellt, dein Sohn bei Lucie und wir zwei dort zu Besuch, so wie früher …

Es konnte ja keiner ahnen, dass die alles dicht machen! Aber du musst jetzt an Henry denken, an seine Zukunft. So ist es wirklich das Beste für ihn.“

„Du hast gut reden. Wenn ich daran denke, was sie da ausbaldowert hat, dann wird mir ganz schlecht, Amalie. Nee, irgendwie ist es nicht richtig, es fühlt sich nicht gut an, verstehst du, was ich meine?“

„Du warst doch einverstanden. Katharina, jetzt reiß dich aber mal zusammen.“

„Immer, wenn du mich Katharina nennst, dann kehrst du die ältere Schwester heraus.

Hör bloß auf, Amalie! Ich hätte nie damit einverstanden sein dürfen, das weiß ich jetzt.

Du hast doch gar keine Ahnung, wie mir zumute ist. Du kannst das nicht verstehen, weil du keine Kinder hast, genau wie Lucie. Mein Sohn ist nicht mehr mein Sohn, er ist jetzt ein Herr von Mahlendorff. Mein Gott, was habe ich da angestellt! Wenn Wilhelm das wüsste, würde er sich im Grabe herumdrehen.“

„Lass Wilhelm aus dem Spiel. Warum, muss ich dir ja nicht sagen, Schwesterherz. Da breiten wir mal lieber den Mantel des Schweigens drüber aus …

Und außerdem ist das alles Blödsinn, Käthe. Er bleibt dein Sohn, du hast ihn geboren, du hast ihn groß gemacht! Diese Adoption, was ist das schon, es steht doch nur auf dem Papier. Fang bloß nicht an zu flennen, du bist doch sonst immer so taff …

Mädchen, weißt du noch, damals im Internat? Lucie, du und ich und die kleine Parchimsche, einer für alle und alle für einen. Wir müssen jetzt zusammenhalten, so wie früher und der Lucie kannst du voll vertrauen, sie ist doch eine von uns. Henry wird ein schönes Leben haben, freu dich darüber! Du aber bist und bleibst seine Mutter.“

„Hast ja recht, da ist nur so ein dummes Gefühl … Ich bin ja froh, dass er es so gut getroffen hat. Ich möchte nur nicht, dass mein Junge zum Spielball dieser Mahlendorffschen Familienintrige wird.“

„Aber du weiß doch, Lucie war am Boden zerstört, als ihr Mann starb. Erst die Vorwürfe seiner Familie, dass sie angeblich nicht rechtzeitig den Notarzt gerufen hat und dann dieser uneheliche Sohn, dieser geldgierige Bastard. Ihr Mann hätte ihn nie in die Firma nehmen sollen. Er hat Lucie fast bankrott gemacht. Der hat Geld rausgezogen ohne Ende!“

„Blödsinn, bankrott, nun übertreibst du aber. Lucie doch nicht, ein Stehaufmännchen ist sie, unsere Lucie. Weißt du noch, was sie immer gesagt hat? Es gibt einen Plan A und einen Plan B und das Alphabet hat noch viele Buchstaben. Eigentlich kann man sie nur bewundern.“

„Genau. Die macht das schon. Den Bastard hat sie nach Buenos Aires geschickt, in diese Filiale, damit er nichts mitbekommt, bis es amtlich ist und dein Henry ist Prokurist bei Pfeiffer und Sax! Wenn der Bastard eines Tages wiederkommt, dann hat Lucie einen Adoptivsohn. Und wenn unsere Lucie mal das Zeitliche segnet, dann erbt dein Sohn. Prost, Käthe, darauf trinken wir noch einen!“

„Ach Amalie, wie schön, dass du da bist … Vielleicht hätte ich ihm das nicht erzählen sollen, das von der Giesetochter. Aber so bin ich nun mal, immer geradeheraus. Ich denke, sie war nur eine von seinen Liebeleien. Sie war ja mal hier drüben, da habe ich ihr gesagt, dass sie nicht die Einzige ist, der er den Kopf verdreht hat. Er ist doch genau wie Wilhelm.“

„Stimmt. Er ist genau so ein schöner Kerl wie Wilhelm einer war … Aber vielleicht hat dein Sohn seine Noblesse aus einem ganz anderen Geblüt geerbt. Nun schau mich nicht so an, Käthe, war nur ein kleiner Scherz. Auf jeden Fall brauchst du dich nicht zu wundern, wenn die Stuten mit den Hufen vor seiner Tür scharren. Du kannst stolz auf ihn sein, Käthe, er sieht nicht nur gut aus, er hat auch was im Kopf. Pass mal auf, er macht Karriere bei Lucie. Hier durfte er ja nicht mal das Abitur machen.“

„Hör bloß auf, erinnere mich nicht daran. Ich bin ein Kapitalistenkind, hat er gesagt. Wenn ihr Arbeiter wärt, dann könnte ich studieren, aber ihr seid Ausbeuter … Ausbeuter! Das muss man sich mal vorstellen, so was haben die zu einem vierzehnjährigen Jungen gesagt, bloß weil uns ein paar Gewächshäuser gehören. Weißt du, manchmal, wenn ich bei den Gräbern der Parchims bin, dann denke ich, Lotti von Parchim, die hat es gut, die muss das nicht mehr erleben.“

„Lotti. Mein Gott, die kleine zarte Lotti. Die hatte am Wasser gebaut. Wenn irgendwas los war, dann fing sie gleich an zu heulen. Zyankalikapseln sollen sie genommen haben.“

„Ja. Ich weiß … Stirbt man da gleich oder dauert das lange?“

Und während ihr abendliches Gespräch ausplätschert wie ein Bach, der sich in der Mündung eines Flusses verliert, da verlassen wir Amalie und Käthe. Käthe pustet die Kerzen aus, Amalie bürstet ihr Haar und draußen schneit es.

Nebenan aber, auf dem Gieseschen Hof, da sitzen Sieglinde, Manfred und Annemarie traulich beisammen in der Wohnstube unterm Weihnachtsbaum. Manfred streichelt Annemaries Bauch, Sieglinde isst Konfekt und Annemarie denkt an Henry.

Angermünde, am 13. August 1963

Wenn Annemarie aus ihrem Kiosk schaut, in dem sie seit einigen Monaten arbeitet, dann fällt ihr Blick auf jene Telefonzelle, von der aus sie damals vergeblich versuchte, mit Henry Kontakt aufzunehmen. Schaut sie jedoch nach links hinauf, dann sieht sie Manfred. Das heißt, sie sieht ihn manchmal, wenn er zufällig am Fenster steht, auch bisweilen hinausschaut, um ihr zu winken. Manfred ist nun ein Mitglied der SED-Kreisleitung. Er sitzt in seinem eigenen Büro im einzigen renovierten Haus am Angermünder Marktplatz und leitet das Ressort „Handel und Versorgung“. Handel und Wandel gibt es wenig, zu versorgen viel. Aus diesem Grunde kommt er oft recht spät nach Haus, auch muss er durch das Land fahren, um dieses und jenes vor Ort zu klären.

Und während Manfred auf Dienstreise ist, wie er es nennt, wenn er schaut, ob man irgendwo was abzweigen kann, um es woanders reinzubuttern, da schlägt sich Annemarie, so gut es geht allein durch die Woche. Das Kind bringt sie morgens um halb sieben in die Krippe und dann beginnt ihr Arbeitstag. Zeitungen, Zeitschriften und Briefmarken verkauft Annemarie nun, Manfred hat dafür gesorgt, dass sie nicht mehr im Schichtdienst der Papierwerkerküche arbeiten muss.

So weit, so gut, ihre Freundin Marianne beneidet sie um diesen Job und eigentlich arbeitet sie recht gern im Kiosk, wenn da nicht die Sache mit den Zeitschriften wäre. Was hat sie sich nicht schon alles anhören müssen. Nie reicht die Lieferung, schnell vergriffen sind die „Wochenpost“ und gar das „Magazin“ und Annemarie wird zum Prellbock der Kundenwut. Es gibt ein System, soviel weiß sie inzwischen, ein System, erdacht und praktiziert von ihrer Vorgängerin, ein System des mündlichen Abonnements. Eigentlich ist die Sache ganz einfach. Beispielsweise Herr Müller kommt am Donnerstag um fünfzehn Uhr und erhält dann seine Wochenpost. Wohlgemerkt, seine ganz persönliche, man reserviert sie ihm vorsorglich, verbirgt sie vor den Blicken anderer Kunden, denn am Donnerstag um fünfzehn Uhr ist diese Zeitschrift normalerweise ausverkauft. Offiziell kauft Herr Müller eine Zeitschrift, die keinen regen Zuspruch findet und deren Namen ich nicht nennen möchte. Die Wochenpost aber verbirgt sich unter dieser Illustrierten, wird ihm geschickt mit herausgereicht und stillschweigend mit abkassiert. Ja, so läuft das im real existierenden Sozialismus. Dass dieser wirklich und wahrhaftig real existiert, kann Annemarie an der Hauswand gegenüber lesen, und zwar sooft sie möchte. Ein rotes Transparent hängt an der grauen Fassade und bemäntelt geschickt die Einschusslöcher der russischen Artillerie, die noch immer im siebzehnten Jahr nach Ende des Krieges Zeugnis ablegen von Kampf und Sieg. Unter diesem Transparent verkauft die HO in einem ehemals privaten Fleischereifachgeschäft Rouladen, Koteletts und Salami. Das heißt, wenn es dergleichen gibt. Wenn nicht, dann kann man sich über diesen Umstand informieren, indem man den Schriftzug am Schaufenster liest. Dort steht, gut lesbar in schwungvoller Schrift an der Scheibe: „Fleisch und Wurstwaren.“ Die Betonung aber liegt im Falle, dass in der Auslage nur ein paar Brühknochen liegen, auf dem Wort „waren“.

 

Sie waren vorhanden, solange der Vorrat reichte, die guten Waren …

Dieser Nachmittag im Hochsommermonat August zeigt sich in drohender Schwüle, es wird gleich ein Gewitter geben. Annemarie sortiert die Briefmarken, weit und breit ist kein Kunde in Sicht und sie denkt an das letzte Wochenende in Heinrichshagen. Die Sonntage bei der Mutter sind inzwischen zu einer Gewohnheit geworden zur Freude Manfreds, der neuerdings so tut, als hätte er Bauernblut in den Adern und zur Freude Ramonas, die gar zu gern auf Omas Hof die Hühner scheucht. Das Kind läuft schon wie eine Zweijährige, meinte Sieglinde stolz am letzten Sonntag und Annemarie findet, dass sie es übertreibt mit ihrer Affenliebe, wie sie es im Stillen nennt. Ramona hinten, Ramona vorne.

„Um mich hat sie nie solch ein Theater gemacht“, sagte sie zu Manfred, der ihr daraufhin lächelnd entgegnete: „Sie ist ja auch so süß, unsere Kleine.“

Er lässt sich so richtig einlullen von Mutter, denkt sie nun und sie schlägt die Mappe mit den Briefmarken wütend zu.

Das Wetter hat sich derweil ihrer Gemütsverfassung angepasst. Es donnert und blitzt, schon klatschen die ersten Tropfen auf das Auslagebrett und nässen die Zeitschriften, die sie dort werbewirksam ausgebreitet hat. Es sind die, deren Namen ich nicht nennen möchte und die keiner kaufen will. Schnell rafft sie alles zusammen und schließt ihre Luke, es donnert gewaltig.

Annemarie ist ein Landkind, Gewitter macht ihr nur mäßig Angst. Sie verzieht sich ins Innere der kleinen Bude, die von außen nicht halb so geräumig aussieht, wie sie innen ist.

Noch ist ihr Ärger nicht verraucht, so wie auch das Gewitter noch nicht weiter gezogen ist, ihre Gedanken weilen wieder beim letzten Sonntagnachmittag auf dem Gieseschen Hof.

… „Lang zu, Manfred, nimm dir, es ist genug da.“… Mutter legt ihm das vierte Stück Streuselkuchen auf den Teller. „Hm, lecker“, murmelt Manfred mit vollem Mund, „kannst du das nicht auch mal backen, Annemie? Lass dir doch das Rezept von deiner Mutter geben.“

Man hört Sieglindes schrilles Lachen. „Ach, das wird nichts, dafür ist sie viel zu nervös, da muss man eine ruhige Hand haben.“

„Du kannst mich mal, Mutter“, zischt sie wütend und murmelt allerlei sinnloses Zeug vor sich hin. Noch immer klatscht der Regen an die Scheiben. Und so sitzt sie da, wartet auf den Feierabend, nimmt einen Schluck Malzkaffee aus ihrer Thermosflasche und isst einen Keks. Rund, pappig und leicht nach Vanille schmeckend, zergeht er auf ihrer Zunge und er schmeckt erinnerungsträchtig nach Sandkuhle am See, nach Henrys Lachen, nach einer Zeit, die zerronnen ist und nie wieder sein wird. Der Zug ist abgefahren, sie aber steht noch immer auf dem Bahnsteig, Frau Schultz erscheint mit ihrem hässlichen Hund im Korb und Henry ist weg. Verschwunden ist er in einer anderen Welt, im kaum vorstellbaren Südamerika, doch wenn Ramona lacht, dann sieht sie Henry. Sie schaut in das kleine Kindergesicht und die Erinnerung schmerzt …

Jemand pocht an die Luke. Es ist Manfred, sein lächelndes, gutmütiges Gesicht tröstet sie.

Es fällt in ihre Gedanken ein wie ein heller Morgen nach einer dumpfen Traumnacht. Schick sieht er aus im grauen Anzug, trägt gut sichtbar am Revers das Parteiabzeichen, dazu passt die feine rotseidene Krawatte, die sie ihm geschenkt hat. Manfred hat einen großen dunklen Schirm aufgespannt, es regnet noch immer, wenn auch mäßiger.

„Mach ruhig Schluss für heute, Annemie, es kommt doch keiner mehr. Und denk dran, ich muss gleich zur Kampfgruppe. Es wird spät werden, du brauchst also nicht auf mich zu warten. Grüß die Kleine von mir, ja? Gib ihr einen dicken Kuss von ihrem Papa!“

Kuss rechts, Kuss links, winken, Manfred verschwindet im Torweg der Kreisleitung.

Kampfgruppe, immer hat er noch was nach Feierabend, so denkt sie, während sie den Kiosk verriegelt. Er muss aber auch auf jeder Hochzeit tanzen. Wohnbezirksausschuss, Nationale Front, Volkssolidarität, Manfred Poltzin ist dabei. Und sie kann sehen, wie sie fertig wird, die Buntwäsche liegt seit gestern eingeweicht in der Badewanne und seine Hemden muss sie heute auch noch bügeln. Sicher kommt er wieder erst nach Hause, wenn sie schon zu Bett gegangen ist. Dann wird sie wach und kann nicht mehr einschlafen. Und immer kommt er mit einer Alkoholfahne. Was die da wohl machen, in dieser Kampfgruppe?

„Die spielen Krieg und saufen sich dabei die Hucke voll“, sagte Marianne mal zu ihr.

Seufzend steigt sie aufs Rad. Sie vermisst Marianne sehr, ihre Witze, ihr Lachen, ach, einfach alles …

Doch dieser Abend, der so ganz im Zeichen einer gewissen Melancholie steht, überschattet ist von sentimentaler Trauer um die verlorene Jugendzeit, er endet mit einer guten Überraschung.

Es ist schon spät, und sie will gerade zu Bett gehen, als sie draußen auf dem Flur ein lautes Gepolter hört. Ein Schlüssel dreht sich im Schloss, Manfred kommt herein, lächelt strahlend und hinter ihm poltert es erneut.

Die verblüffte Annemarie sieht zwei Männer in blauer Montur, zwischen ihnen steht eine nagelneue Waschmaschine der Marke „Schwarzenberg“.

„Wohin damit, Meister?“

„Wohin soll sie, Annemie?“

„Eine Waschmaschine! Aber Manfred, wir haben uns doch gerade erst angemeldet. Ich denke, da muss man zwei Jahre warten! Hier, gleich hier in die Ecke, einfach erst mal da hin.“

„Ich muss nicht warten, Annemarie, ich nicht“, sagt er zu ihr, nachdem die Blaumänner gegangen sind, „und dein Waschbrett, das kannst du jetzt in den Keller bringen!“

Heinrichshagen, Anfang Oktober 1963

Golden ist dieser Tag, so golden blinkend wie nur ein Oktobertag sein kann. Die Sonne lässt das bunte Laub leuchten und streichelt warm ihr Gesicht. Sie lehnt den Kopf zurück und schließt die Augen. Noch wärmt die Sonne, doch steht sie schon tief am Himmel und wenn man hinauf schaut, sieht man den Zug der Vögel. Es riecht nach Kartoffelfeuer und sie fühlt sich wieder wie einst als Kind, das den Herbst liebte und sich übermütig im Laub tummelte.

Mutter Sieglinde ist bei Tante Hedi in Frankfurt. Es geht Hedi nicht gut, seit ihr Mann starb. Sie ist ständig krank, meint Sieglinde, und ich muss mich um sie kümmern, denn was hat sie nicht alles für mich getan, damals … Mehr sagt sie nicht, beim Wörtchen damals hört es auf bei Sieglinde. Doch Annemarie ahnt, wovon sie spricht. Sie kann sich dunkel an jene Zeit erinnern, als Hedi zu ihnen kam, um in der Wirtschaft zu helfen. Man hatte den Vater abgeholt, bevor das Heu drin war.

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