Wer braucht schon Zauberworte?

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Vielleicht wars wieder der Einbrecher.

Blitzschnell zerknüllt mein Onkel das Blatt. „Welcher Einbrecher?“, will Lucien wissen, der die Worte wohl noch aufschnappen konnte, bevor sich die Nachricht „von selbst“ zerstört hat. Ich halte ihm meine bandagierte Hand hin. Meine Cousinen wimmern aufgebracht.

„Da war kein Einbrecher. Das hat sie uns nur erzählt, damit sie ihren Wutausbruch vertuschen konnte. Die Verletzungen hat sie sich selbst zugefügt“, erklärt Onkel Tim. Ich schüttle den Kopf und schreibe:

Wieso glaubst du mir nicht?

Seine Antwort kommt prompt: „Weil du eine Verrückte bist, die nach dem Unfall ihrer Eltern durchgedreht ist.“ Wow, das hat gesessen.

Ich hätte so richtig Lust, ihm einen meiner Wutausbrüche hautnah zu demonstrieren, entscheide mich aber dagegen. Das wäre Energieverschwendung. Stattdessen verschwinde ich in mein Zimmer. Was für ein Haufen Schisser.

Fuchsteufelswild schlage ich die Tür hinter mir zu. Der Strom scheint hier oben auch ausgefallen zu sein. Egal wie wild ich auf den Lichtschalter einschlage, es will einfach nicht hell werden. Na toll.

Hinter mir ertönt ein Knurren, das mich zusammenzucken lässt. Okay, was um alles in der Welt könnte hier drin sein und knurren. Hat Onkel Tim etwa einen Hund? Unwahrscheinlich. Das wäre mir nicht entgangen.

Ich will schon nach der Türklinke greifen und abhauen, da wird mir von hinten der Mund zugehalten. Mein Herz bleibt fast stehen, doch ich schaffe es noch, dem Angreifer meinen Ellbogen in die Seite zu rammen. Der Einbrecher lässt kurz von mir ab. Ich nutze die gewonnene Freiheit, um zur Tür zu gelangen. Mit übermenschlicher Kraft unterdrücke ich einen Schrei, nachdem ich erneut von hinten gepackt und quer über den Boden geschleift werde.

Das Fenster ist offen, er will mich anscheinend da rauszerren. Der ist doch total übergeschnappt. Als er sich, im Licht des Mondes klar erkennbar, über mich lehnt, trete ich ihm den Fuß in den Magen, was ihn ein wütendes Brüllen ausstoßen lässt.

Sein Schlag trifft mich hart ins Gesicht. Ich habe es nicht kommen sehen, dementsprechend benommen bin ich auch. Ich atme tief durch, um nicht das Bewusstsein zu verlieren und greife nach einer der Holzdielen, die hier überall rumliegen. Der Mond beleuchtet den Körper des Kerls schemenhaft. Mit letzter Kraft ziele ich direkt auf seinen Kopf, nachdem er sich zu mir runterbeugt. Ein dumpfer Laut, gefolgt von einem tiefen Stöhnen hallt durch das Zimmer.

Im nächsten Augenblick wird die Tür aufgestoßen und jemand poltert herein. „Hope?“ Es ist Lucien. Grelles Licht blendet mich. Toll, wieso funktioniert das auf einmal wieder, ist einer meiner letzten, klaren Gedanken, bevor ich irgendwie benommen werde.

Hope!“ Mein Atem geht stoßweise. Ich spüre, wie ich angehoben werde und über die Treppe schwebe.

„Sie braucht einen Arzt.“ Alles dreht sich. Ich kann kaum meinen Kopf halten, also lege ich ihn auf die Brust von Lucien.

„Was zum …?“ Mein Onkel ist wohl wenig begeistert über meinen Zustand. „Was hat sie nun schon wieder angestellt, um unsere Aufmerksamkeit zu erregen? Das Kind treibt mich noch in den Wahnsinn. Am besten man sperrt sie wieder in eine Gummizelle.“ Wie überaus nett. Danke, dass du mich schon wieder als Irre hinstellst. Was bist du denn für ein Onkel?

Ich stöhne, weil meine Hand schmerzvoll pocht. Die Autofahrt bekomm ich bloß bruchstückhaft mit. Ausschließlich der Nähe zu Lucien, in dessen Nacken mein Kopf ruht, bin ich mir nur allzu bewusst.

Der Kälteschock vor dem Haus des Arztes reißt mich aus meinem Schlummern. Haben die mir etwa keine Jacke angezogen?

„Was ist denn mit deiner Nichte passiert, Tim?“, höre ich den Doktor rufen.

„Sie hat sich selbst verletzt“, stößt mein Onkel ärgerlich aus. Ja genau, ich hab mir selbst eine verpasst.

„Fynn, leg sie ins Behandlungszimmer.“ Na toll. Ich werde in die Arme seines Schülers übergeben. Eigentlich wollte ich wütend knurren, wie mein Angreifer, aber mehr als ein Stöhnen ist nicht dabei herausgekommen.

Unter mir spüre ich ein Bett. „Hope, kannst du die Augen aufmachen?“ Ich versuchs. Sie wollen einfach nicht offenbleiben, daher verschwindet Fynn die ganze Zeit wieder. Ich spüre, dass mein Kopf am Kinn zur Seite gedreht wird. Energisch stoße ich seine Hand weg – zumindest glaube ich, das zu tun.

„Schon gut. Beruhige dich.“ Er spricht mit mir, als wäre ich eine Zwangsjackenträgerin. Das macht mich so wütend, dass ich die Augen aufreiße und ihn am Kragen packe. Dabei hinterlasse ich rote Spuren auf seiner Kleidung. Verblüfft erkenne ich, dass in meiner Hand zahllose Holzsplitter stecken. Abrupt lasse ich von ihm ab. Immer noch benommen versuche ich, mich aufzurichten.

„Ganz langsam, Hope. Du bist verängstigt und solltest dich beruhigen.“ Fuchsteufelswild kralle ich mir den Kugelschreiber aus seinem weißen Mantel und schreibe auf die Papierauflage des Behandlungsbettes:

Hör auf, mit mir zu sprechen, als wär ich verrückt. Ich wurde angegriffen.

Fynn liest es und sagt: „Natürlich. Komm, lass mich dir helfen.“ Er glaubt mir kein Wort. Seine Hand will nach meiner greifen, aber ich stoße ihn weg und schreibe:

Hör auf damit.

„Ich will dir nur helfen, Hope.“ Kopfschüttelnd kritzle ich.

Nein, willst du nicht.

„Hope, bitte lass mich deine Hand jetzt verarzten.“ Ich nicke und höre auf, mich dagegen zu wehren. Ich muss mich schön langsam damit abfinden, dass mich hier alle für geistesgestört halten.

Ich schnaube, als er den ersten Splitter rauszieht. Toll. „Ich werde ganz vorsichtig sein.“ Ja, das nützt mir auch nichts. Meine Hand zuckt schon, bevor er den nächsten herauszieht, aber ich beiße die Zähne zusammen.

Nach einer gefühlten Stunde voller Qualen ist er dazu übergegangen, meine Schläfe zu kühlen. Dabei weicht er meinem Blick ständig aus. Auch er hat sich verändert.

Ich bin müde, enttäuscht und vielleicht grad etwas emotional, daher schafft es eine Träne, sich aus meinem Augenwinkel zu lösen.

Fynn hat es natürlich gesehen und kommentiert es mit den Worten: „Du solltest deinen Kummer jemandem anvertrauen. Der Pfarrer hört dir sicher zu. Er ist ein netter Mensch.“ Gefühlte Minuten ringe ich damit, das vorherrschende Verlangen zu unterdrücken, ihm eine reinzuhauen. Ich dachte, er schlägt sich selbst vor. War klar, dass er kein Interesse an einer Bekloppten hat. Verletzt stecke ich ihm den Kugelschreiber zurück in seine Tasche und rutsche vom Behandlungsbett.

„Hope, warte.“ Worauf denn, dass du mir Beruhigungsmittel spritzt und mich Frankenstein zur weiteren Erforschung übergibst? Genervt schlage ich die Türe hinter mir zu. Mein Onkel und Lucien warten im Nebenraum.

„Du bist ja schnell wieder auf den Beinen. Ich kann mir vorstellen, dass es auf Dauer anstrengend ist, dieses Theater aufrechtzuhalten“, spottet mein Onkel. „Ach übrigens, die Arztrechnungen bezahlst ab jetzt du“, ergänzt er grinsend. Ohne Worte – echt.

Die gesamte Autofahrt spricht mein Onkel kein einziges Wort. Zu Hause angekommen lassen sie mich einfach im Flur stehen und gehen schnurstracks in ihre Zimmer.

Hey, ihr seid doch echt gemein. Ich will nicht allein in mein Zimmer rauf. Was, wenn er zurückkommt? Erschöpft sinke ich an der Garderobe entlang und kralle meine Finger in meine Haare. Etwas Schnurrendes windet sich um meine Beine. Wenigstens ein Familienmitglied, das mir glaubt.

Als die Allergie einsetzt, gehe ich rauf in den ersten Stock. Alle schlafen schon, nachdem ich aus dem Badezimmer trete. Um nichts in der Welt gehe ich da wieder hoch. Ich beschließe, heute Nacht im Wohnzimmer zu pennen. Da ist es wenigstens schön warm.

Ich will kein Licht machen, damit sich mein Onkel nicht noch mehr aufregt, wenn er mich hier unten erwischen sollte, also wärme ich mich ein bisschen am Tischherd und trete an die Couch heran. Vollkommen fertig lasse ich mich darauf fallen und vernehme ein „Uff“ unter mir. Da liegt jemand. Wie von der Tarantel gestochen hüpfe ich auf und falle vor Schreck rückwärts über den Couchtisch, was meinen Körper hart auf den Boden aufschlagen lässt. Grelles Licht blendet im nächsten Moment meine Augen.

Als ich Lucien in Boxershorts über mir erkennen kann, frage ich mich, wie viele Beinahe-Herzinfarkte ein Organismus an einem Tag verkraftet.

„Hope, hast du dir wehgetan?“ Ich schüttle den Kopf, setze mich auf und raufe mir die Haare.

Ich zeige mit einem irritierten Gesichtsausdruck auf die Couch, daraufhin erklärt er: „Es gibt nicht genug Zimmer. Ich schlafe hier unten auf der Couch.“ Wunderbar.

„Wolltest du hier unten schlafen?“ Ich hebe beide Hände abweisend hoch. Das soll heißen, dass ich mir was anderes suche, da ja hier offensichtlich schon besetzt ist.

„Hast du Angst da oben?“ Das sagt er so, als würde er mit einer geistig Zurückgebliebenen sprechen. Das hab ich echt nicht nötig. Wütend verlasse ich den Raum.

Die Badewanne ist als Schlafquartier zwar abartig, aber keine zehn Pferde bringen mich heute Nacht in mein Zimmer.

Drei

Der Vorteil, wenn man in einer zutiefst abergläubischen Kleinstadt von allen für eine verrückte Teufelsanbeterin gehalten wird, ist, dass man am rammelvollen Dorffest einen Tisch ganz für sich allein hat. Es ist mir eigentlich scheißegal. Hauptsache, sie hatten eiskalte Colaflaschen, von denen ich mir gerade eine an die pochende Birne halte. Der Einbrecher hat mich ganz schön niedergemäht.

Nach ein paar Minuten wagt sich ein Todesmutiger vor und nimmt mir gegenüber Platz. Es ist der Grapscher vom Café, der mich mit zusammengekniffenen Augen mustert.

 

„Wir haben noch eine Rechnung offen“, stößt er arrogant aus.

Vollkommen unbeeindruckt knalle ich die Cola vor ihm auf den Tisch. Dabei spritzt etwas aus der Flasche und trifft ihn am Ärmel. Ups. Das tut mir aber leid, du abartiger Idiot. Jetzt zieh Leine.

Seine Kiefermuskulatur zuckt. Der Typ hat sichtlich Mühe, mich nicht gleich über den Tisch zu ziehen, um seine Rechnung hier und jetzt zu begleichen.

„Pass auf deinen Rücken auf, du verrücktes Weib“, rät er mir und stößt sich am Tisch ab. Ich rolle mit den Augen, während ich mir die Flasche erneut an die Schläfe drücke. Pass auf deine Gehirnzellen auf, damit du nicht auch noch die letzte verlierst.

Natürlich sehe ich es ihm an der Nasenspitze an, dass er etwas gegen mich plant. Sie tun zwar so, als würden sie saufen, stecken aber die Köpfe tuschelnd zusammen. Das sollte einen bei Jungs immer stutzig machen. Einer von ihnen löst sich aus der Gruppe und verschwindet sogleich. Ich rolle erneut mit den Augen. Was für Matschbirnen.

Jetzt zwingen sie mich echt dazu, den Wichtigtuer raushängen zu lassen. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche und tue so, als würde ich SMS tippen. Dass ich hier nicht mal ein Signal habe, weiß ja niemand und so kann ich die App aktivieren, die mein Spiegelbild auf das Display überträgt.

Natürlich sehe ich ihn durch die Kamera schon von Weitem hinter mir auf mich zukommen. Das ist ja echt übel – er hat einen Bierkrug in der Hand, den er mir wohl „ganz unabsichtlich“ über den Schädel kippen will. Hey, in meinem Krug war nur Wasser.

Eigentlich keine schlechte Idee – er macht das sogar ganz gut. Der Krug ist so voll, dass er langsame Schritte machen muss, um nichts zu verschütten. Noch ein Stück, dann ist er bei mir. Unbeholfen stolpert er über seine eigenen Füße und wankt auf mich zu.

Im selben Moment hechte ich auf die Bank, von dort auf den Tisch und springe aus dem Stand in einen Rückwärtssalto. Im Flug mache ich eine Schraube, die mich direkt hinter ihm landen lässt. Das hat ihn so überrascht, dass er sich erst nach ein paar Sekunden umdreht. Zu meiner Verblüffung setzt er an, den Plan zu Ende zu bringen und mir den Krug dennoch überzuschütten.

Jemand zieht mich im letzten Moment aus der Gefahrenzone und ich pralle gegen einen Körper. Das Bier plätschert melodiös auf die Stelle, an der ich noch vor zwei Sekunden stand.

Tumult bricht aus und der Typ wird von ein paar Finnen abtransportiert. Erst jetzt merke ich, wer mich da vor einer Bierdusche bewahrt hat. Es ist der Gothic-Typ mit den Dreadlocks, der mich kurz mustert, mich aber einen Wimpernschlag später einfach stehenlässt. Gutes Gespräch.

Ich lasse es mir nicht nehmen, dem Grapscher einen belustigten Blick zuzuwerfen, bevor ich mich vom Acker mache. Der Kerl sieht nicht sehr begeistert aus. Ich bin gespannt, welche Gemeinheiten er noch für mich auf Lager hat.

Vor einer der Hütten erkenne ich Onkel Tim mit dem Pfarrer, die in eine rege Diskussion vertieft sind. Lucien ist auch bei ihnen. Mich würde ja brennend interessieren, über was die reden.

Ich schleiche mich an den Marktständen vorbei und trete an die Rückseite der Hütte, vor der sie diskutieren.

„Das kannst du nicht tun, Tim“, meint der Pfarrer.

„Es geht hier um meine Kinder, Josef. Du würdest auch alles tun, um dein eigen Fleisch und Blut zu beschützen.“ Mann, jetzt tritt er die Sprayer-Geschichte wieder breit.

„Aber sie ist deine Nichte.“ Hey, da geht’s um mich. Was ist denn nun schon wieder?

„Niemand wird sie vermissen. Wir sagen einfach, sie ist wieder in eine Irrenanstalt eingeliefert worden. Das würde niemand hinterfragen.“ Mein Herz pocht laut in meiner Brust. Was haben die vor?

„Sie werden sich höchstwahrscheinlich auf keinen Handel einlassen“, wendet Lucien ein. Handel?

„Ich gebe ihnen aber keins meiner Babys. Sie können die Verrückte haben, aber nicht Emma oder Lydia“, verkündet mein Onkel. Wer kann mich haben?

„Tim, jetzt beruhige dich“, beschwichtigt der Geistliche.

„Ich beruhige mich nicht, Josef. Wenn es sein muss, zerre ich sie eigenhändig zum Steinkreis.“ Was? Welcher Steinkreis?

„Tim“, stößt Lucien aus. „Wir bewachen deine Töchter Tag und Nacht. Ihnen kann absolut nichts passieren. Deshalb sind wir hier.“ ? Ich dachte, die wären Austauschschüler.

„Die sind gewitzt. Ich sage dir, sie werden nicht aufgeben, bevor sie nicht haben, was sie wollen“, schnaubt Tim.

„Trotzdem sollten wir es vorerst dabei belassen“, rät ihm Lucien. So, jetzt reichts.

Wütend scanne ich die Umgebung nach dem schwächsten Glied in der Kette ab und werde prompt fündig. Kadien, der Mönch, steht bei einer Hütte und isst eins dieser Riesenbrote. Ich krame in meiner Tasche nach einem Stift und bereite eine Nachricht für ihn vor.

Dann setze ich meine lieblichste Miene auf, während ich an ihn herantrete. Er verschluckt sich sogar fast an einem Bissen. „Hope, wie kann ich dir helfen?“ Das kam so unsicher rüber, dass ich sogar lächeln muss.

Ich zerre leicht an seinem Arm. Daraufhin tue ich so, als würde ich ihm kurz etwas zeigen wollen. Stirnrunzelnd legt er sein Brot ab. „Brauchst du Hilfe?“ Ich nicke. Widerwillig folgt er mir.

Ich führe ihn zu den entlegenen Klohäuschen und öffne eine der Türen. „Was soll ich denn da drin?“, fragt er und macht einen Schritt darauf zu. Mann, ich glaubs nicht, dass er auf den ältesten Trick der Welt reinfällt.

Im nächsten Augenblick schubse ich ihn rein, quetsche mich ebenfalls dazu und verriegle die Tür. Als er sich panisch umdreht, packe ich ihn an der Kutte und presse ihn energisch an die Wand. Nach seinem Blick zu urteilen, denkt er, ich will gleich über ihn herfallen. Bei ihm hat bereits Schnappatmung eingesetzt. „Tu mir nichts, Teufelsweib.“ Ich lächle und knalle ihm die vorbereitete Botschaft hin.

Was zum Teufel ist hier los?

„Ich weiß nicht, was du meinst“, stößt er vollkommen unglaubwürdig aus. Guter Versuch Cowboy.

Ich kralle mir den Zettel und schreibe: Willst du dem Teufel an meinem Körper Hallo sagen?

Er zieht scharf die Luft ein, nachdem ich schon meine Jacke abstreife, die ich an den Haken an der Tür hänge. Ich bluffe natürlich nur, aber das weiß er ja nicht.

Daraufhin kralle ich mir erneut seinen Kragen. Er beschwichtigt: „Ich weiß es wirklich nicht.“

Ich lächle erneut und ziehe meinen Pullover aus. Darunter trage ich noch ein Trägerleibchen, doch er ist jetzt schon vollkommen eingeschüchtert.

Wieder presse ich ihn gegen die Wand. „Zwing mich nicht dazu, Hope. Sie haben mir gesagt, ich darf dir nichts erzählen.“ Volltreffer.

Rück endlich raus. Okay, du hast es so gewollt. Ich setze schon an, mir den Stoff über den Kopf zu ziehen, da knickt er ein und packt aus: „Bitte, ich will das nicht sehen. Ich sags dir ja schon. Tim will dich anstatt einer seiner Töchter ausliefern.“ Ausliefern?

Schnell kritzle ich die Gegenfrage:

An wen denn?

„An den Schwarzen Orden. Sie kommen alle dreißig Jahre in dieses Dorf und nehmen eine Tochter mit. Sie markieren das Haus der Erwählten mit einem schwarzen Kreuz und holen sie dann.“ Was zum Henker ist denn das für eine Geschichte?

Ich kritzle: Bist du jetzt vollkommen verrückt geworden?

„Nein, es ist die Wahrheit.“

Was ist der Schwarze Orden und wieso wollen sie mich zum Steinkreis bringen?

„Der Orden ist eine Gesellschaft der mächtigsten Männer unserer Zeit. Sie gehören zur heiligen Inquisition. Der Steinkreis verbindet unsere Zeiten miteinander.“ Inquisition?

Was meinst du mit „unsere Zeiten“?

„Na die Zeit, in der wir leben, und eure Zeit.“

Es gibt nur eine Zeit und die läuft gerade hier ab.

„Nein, wir kommen aus einer Epoche, lange vor dieser Zeit. Der Steinkreis erlaubt uns, zwischen den Zeiten zu reisen.“ Er spinnt total. Ich glaube, er hat zu viel Weihrauch inhaliert. Das weicht einem sicher das Gehirn auf.

Wer seid ihr?

„Na wir sind Kelten. Ist das nicht offensichtlich?“ Kelten?

Du hast sie nicht mehr alle.

„Ich weiß nicht, was das bedeutet.“

Du willst mir also sagen, diese Kelten-Steinkreis-Scheiße aus den Groschenromanen stimmt tatsächlich?

„Ich weiß nicht, was Groschenromane sind, aber wir kommen von dort. Wir Keltischen Krieger sind hier, um die Töchter dieser Stadt davor zu beschützen, gestohlen zu werden.“ Das Beste ist, er glaubt den Scheiß tatsächlich, den er da von sich gibt. Naja, das würde zumindest die geballte Muskelmasse erklären, die ins Dorf eingefallen ist.

Was passiert mit den gestohlenen Frauen?

„Das wissen wir nicht genau.“ Ja genau.

Lügner kommen in die Hölle.

„Also gut, wir wissen, dass sie dort als Sklavinnen verkauft werden.“ Na wunderbar. Mein Onkel will mich also am Sklavenmarkt verscherbeln, damit sie keine seiner Töchter kriegen.

Ich bin nicht aus dem Dorf. Außerdem ist Tim nicht mein Vater. Wieso sollten sie mich mitnehmen?

„Willst du darauf eine ehrliche Antwort?“

Frag nicht so blöd.

„Du bist hübsch. Sehr viel hübscher als eine seiner Töchter, wenn ich das beurteilen kann. Dein Haar gehört zu einem deiner absoluten Vorzüge, genauso wie dieser liebliche Schmollmund und deine Weiblichkeit ist weiter entwickelt.“ Er glotzt mir sogar auf die Brüste. Ich glaubs nicht, dass er das gerade gesagt hat. Das heißt also im Klartext, ich wäre eine hübschere Sklavin. Wow. Wie abartig ist das denn?

Ich kritzle: Ganz ehrlich – sei froh, dass du ein Mönch bist, sonst hätte ich dir jetzt in deine zurückgebliebene Männlichkeit geschlagen.

Wie wild geworden streife ich mir den Pullover über und lege die Jacke an.

„Sag ihnen nicht, dass du es von mir weißt.“

Ich schreibe: Wir werden so tun, als wüsste ich von nichts. Hast du mich verstanden? Und keine Tricks. Den Schlag kann ich jederzeit nachholen und danach stehst du nicht mehr so schnell auf.

Er liest es, schluckt laut und nickt.

Schwöre es.

„Ich schwöre es.“

Wieder in Freiheit beginne ich langsam zu realisieren, dass das mit den Kelten durchaus hinkommen könnte. Lucien spricht sowieso so geschwollen. Dass sie aus Finnland sind, wird auch immer unrealistischer. Bei genauerer Betrachtung benehmen sie sich äußerst seltsam. Verdammt, ich hab mich wahrscheinlich mit einem waschechten, grapschenden Kelten angelegt. Aber ist das tatsächlich möglich? Ich meine, Zeitreisen, waschechte Kelten. Ich weiß nicht so recht.

„Hope“, lässt mich zusammenzucken. Lucien kommt mir bereits entgegen. Okay, er darf nicht merken, dass ich es weiß.

„Ich habe überall nach dir gesucht. Dein Onkel will dich sprechen.“ Ich nicke. Geistesgegenwärtig zeige auf das Klohäuschen.

„Ich warte solange hier“, sagt er. Wütend stemme ich die Hände in die Hüften und schubse ihn daraufhin weg.

„Ist ja schon gut, ich gehe“, stößt er aus und verschwindet. Verdammt, was mach ich denn jetzt? Unschlüssig drehe ich mich im Kreis, weil ich nicht entscheiden kann, ob ich abhauen oder zurückgehen soll.

Fassen wir mal zusammen: Mein Onkel will mich einer Horde Männern von irgendeiner Sekte oder einem Orden – wie auch immer – als Sklavin im Austausch gegen eine seiner eigenen Töchter anbieten. Und das alles an einem Steinkreis, der mich in eine andere Epoche bringen wird. Bei meinem Glück ins Mittelalter, wo sie Frauen am Scheiterhaufen verbrennen. Ist das nicht illegal? Soll ich die Polizei einschalten? Die würden mir nie glauben. Vor allem, weil sie mich im Dorf dank Lydia für verrückt halten. Ich habe keine Freunde, kann also nirgendwo anders hin. Sie sind in der Überzahl und ich bin nur ein Mädchen. Sieht echt schlecht für mich aus.

Passiert das hier grad wirklich oder ist das nur ein Konstrukt meiner kranken Phantasie? Mann, ist das ein heilloses Durcheinander.

Vollkommen verwirrt suche ich nach meinem Onkel. Er wird mich ja wohl nicht vor allen Leuten zum Steinkreis befördern. Hoffentlich – er schien wild entschlossen.

 

In der Menge entdecke ich sie dann. Emma und Lydia sehen echt fertig aus. Mein Onkel hat sie gezwungen, mitzukommen. Er will wohl geheim halten, dass es seine Familie getroffen hat, damit niemand stutzig wird, wenn keines seiner „Babys“ verschwindet. Naja – die ängstlichen Gesichter meiner Cousinen verraten es.

Mich würde niemand vermissen. Die Leute im Dorf werden glauben, dass sie einfach Glück hatten, keine Tochter verloren zu haben. Das erklärt auch ihren ausgeprägten Aberglauben – so im Nachhinein gesehen.

Onkel Tim weist seine Töchter von Zeit zu Zeit darauf hin, zu lächeln, was sie auch brav tun. Nur sieht es eher nach einem total verzerrten Grinsen aus.

Ich komme auf sie zu und Onkel Tim lächelt mich sogar an. Seine gespielte Freundlichkeit jagt mir Angst ein. „Hope, schön, dass du uns Gesellschaft leistest.“ Das meint er nicht sarkastisch. Er ist einfach nur nett. Meine Fresse, mein Onkel ist echt zum Fürchten.

Lucien lächelt ebenfalls, wenn auch etwas gequält. Das ist schwieriger, als ich dachte, aber ich erwidere ihr Lächeln. Hoffentlich wirkt es bei mir echter. Scheiße, ich brauche einen Plan – und zwar schnell.

Auf der Bühne, um die sich das gesamte Dorf versammelt hat, tritt jemand vor – sieht aus, wie der Bürgermeister – und zieht an einer Kordel.

Hinter ihm fällt das große Zelt auseinander und entblößt ein komisches Gebilde. Es sieht aus, wie ein langer Geschicklichkeits-Parcours aus Holz, der ein paar, sich bewegende, Special Effects eingebaut hat. So ähnlich muss sich Super Mario fühlen, wenn er durch die virtuelle Welt der Spielekonsole läuft – nur eben in echt. Es gibt riesige hölzerne Hämmer, die zur Seite schwingen und auch Stangen, über die sich Walzen ziehen, die einen so richtig schön zerquetschen können.

„Dies hinter mir ist ein Parcours für die härtesten Männer unter der Sonne Irlands“, erklärt der vermeintliche Bürgermeister. „Wer ihn überwindet, wird reich belohnt. Auf den Gewinner wartet ein kleines aber feines Preisgeld. Traditionsgemäß dürfen alle Männer des Ortes, aber auch unsere Gäste, teilnehmen. Mögen die Spiele beginnen.“

Wow, ich will die Kohle gewinnen, dann könnte ich zurück in die Staaten abhauen.

Viele von den Finnen, die jetzt eindeutig als Kelten identifiziert wurden, treten vor und der Erste geht bereits an den Start. Ihm wird einer der Hämmer zum Verhängnis, der ihn mit einem lauten Knall von dem Ding kickt. Das hat sicher wehgetan.

Der nächste Kelte scheitert an einer der Walzen. Sie schubst ihn von der Stange, von der er sich gerade schwingen wollte.

Mann, ihr müsst einfach wendiger werden. Hier zählt Geschicklichkeit – keine rohe Muskelkraft.

Unbemerkt schleiche ich mich weg. Ich schlüpfe zwischen zwei Kelten in die Schlange der wartenden Teilnehmer. Sie diskutieren gerade Strategien und haben mich gar nicht bemerkt. Erst als ich an der Reihe bin, lachen sie lauthals.

Der Bürgermeister zieht die Augenbrauen hoch. „Das ist nur für Männer, junge Dame. Es ist viel zu gefährlich.“ Ich entreiße ihm das Schreibbrett und kritzle:

Das ist frauenfeindlich!!!! Mal sehen, was Facebook davon hält. Wie war Ihr Name nochmal?

Mit meinen Worten kämpft er sichtlich. Einerseits will er hier nicht als Frauenverächter dastehen, andererseits will er nicht, dass Aufruhr entsteht. Aber vor der Macht der sozialen Medien erstarrt er in Ehrfurcht.

„Also gut, aber auf eigene Gefahr“, gibt er klein bei.

Ich ziehe die Jacke aus und halte sie ihm hin. Genervt reißt er sie mir förmlich aus der Hand. Daraufhin binde ich mein Haar zu einem festen Knoten zusammen.

Mein Auftritt löst schon Aufruhr unter den Zuschauern aus. Onkel Tim brüllt: „Hope, komm sofort da runter!“ Wie immer ignoriere ich ihn. Schnell lockere ich meine Glieder, dann ziehe ich den Pullover aus. Ich vernehme lautes Grölen, was ich durch das Aktivieren meines mp3-Players ausblende. Jetzt ist es offiziell – es sind Neandertaler.

Vor dem Ungetüm warte ich einige Sekunden, um mich zu sammeln. Meine Verbände an den Händen streife ich ab – die kann ich nicht gebrauchen. Nach drei tiefen Atemzügen sprinte ich los.

Die erste Barriere ist eine Glaswand, die es zu überwinden gilt. So etwas Ähnliches habe ich bereits bei Hindernisparcours von Militärakademien gesehen. Erschwerend kommt hinzu, dass sie vollkommen glatt ist. Ich stoße mich an der Seitenwand, an der sie befestigt ist, ab und schraube mich hoch. Glücklicherweise ist sie nicht sehr hoch, also überwinde ich die Barriere ohne Probleme.

Nun tut sich eine Art Abgrund auf. Jeweils in einigen Metern Entfernung gibt es Stangen, an denen man sich rüberkämpfen kann. Wären da nicht die Walzen, die über die Stangen rollen, wär das ganz lustig.

Ohne zu zögern springe ich auf die erste Stange und lasse mich daran rotieren. Meine Hände schmerzen, aber ich beiße die Zähne zusammen. Dann falle ich in einen Spagat und katapultiere mich zu der nächsten. Die Walze rollt genau in dem Moment auf mich zu, in dem ich mich in einem Handstand auf der Stange befinde. Schnell biege mich komplett zurück. Mein Hintern drückt an meinen Hinterkopf und ich mache mich so platt, wie ich kann. Das Teil berührt mich nicht mal und wälzt sauber über mich hinweg. Gut, dass ich so beweglich bin. Manchmal macht mir das selbst Angst, daher verstehe ich die Schreie der Frauen, die über die Musik hinweg in meine Ohren dringen. Wohl schwache Nerven.

Ich schwinge mich zur letzten Stange und lasse mich auf die Plattform fallen.

Jetzt erwartet mich ein gespannter Riemen, wie sie ihn beim Slacklining verwenden. Ich hab das schon mal gemacht und nehme ohne zu zögern Anlauf.

Das Stöhnen der Menge lässt mich lächeln. Mit dem Po voran lasse ich mich in den Riemen hineinfallen und werde hochkatapultiert. Im Flug richte ich mich auf und komme ganz gut darauf zu stehen. Mit meinen Händen versuche ich, mich in Balance zu halten. Im nächsten Moment rutsche ich aber ab und segle in die Tiefe.

Die Zuschauer kreischen wie wild, aber ich habe mich mit einem Bein, das ich um den Riemen geschwungen habe, festgehalten und hänge kopfüber dran. Ich atme tief durch, spanne die Bauchmuskeln an und rolle mich mit Schwung hoch. Jetzt nichts wie runter von hier – mir geht schön langsam die Kraft aus.

Ziemlich wacklig stehe ich auf und strecke die Hände erneut zur Seite weg, damit ich im Gleichgewicht bleibe. Dann springe ich ab und lasse mich erneut mit dem Po voran in den Riemen fallen, bevor ich mich diesmal sauber auf die Plattform katapultiere. Mein Atem geht stoßweise – das hat viel Energie gekostet.

Jetzt bin ich bei den Hämmern angekommen. Da ist noch niemand durchgekommen, was mich aber jetzt nicht sonderlich einschüchtert. Ich versuche mal etwas anderes.

Der erste Hammer schwingt vor meiner Nase. Ich warte zwei Frequenzen ab, dann schnappe ich ihn und hänge mich an das riesige Teil. Er schwingt einige Runden mit mir. Ich drehe mich auf dem Teil um, damit ich mir den nächsten schnappen kann. So schwinge ich von Hammer zu Hammer, bis ich am Ende angelangt bin.

Jetzt muss man sich noch an einem Seilzug von dem Gerät befördern. Es ist nicht sehr hoch, also stelle ich mich mit den Zehen an die Kante und strecke die Arme zur Seite weg.

Im nächsten Augenblick springe ich in einen Rückwärtssalto in die Tiefe und treffe sauber am Boden auf.

Für ein paar Sekunden fühle ich mich in eine Zeit vor dem Tod meiner Eltern zurückkatapultiert und zwar an den Zeitpunkt, als das Bild mit Mum und Dad entstanden ist. Das war mein letzter Wettbewerb, bevor sie starben.

Der Applaus der Menge und der Bürgermeister, der mir den Arm als Sieger in die Höhe reißt, wecken mich aus meinen Erinnerungen. Nur bruchstückhaft bekomme ich mit, dass er mir zwei Fünfhundert-Euro-Scheine in die Hand drückt und mich von der Bühne schubst.

Ich bin immer noch vollkommen außer Atem, als mich Lucien umarmt.

„Das war unglaublich.“ Claire zieht mir den Pullover über die Rübe und lächelt scheu. Onkel Tim schüttelt nur den Kopf. Emma presst ein „Frauenpower“ heraus und ringt sich ein Lächeln ab.

Den Blicken der Kelten weiche ich sicherheitshalber aus, als ich mich unter dem Vorwand, zur Toilette zu gehen, davonmache.