Eilandfluch

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

So schnell gab ein Enzo Battaglia jedoch nicht auf. Schließlich gehörte er seit langem zu den einflussreichsten Persönlichkeiten dieser Stadt, war es gewohnt, Fäden zu ziehen.

»Wir könnten einen Haftungsausschluss für die Region Kampanien in den Vertrag einbauen. Wahrscheinlich wäre der Mieter sogar bereit, ein paar notwendige Sicherheitseinrichtungen nach baurechtlichen Vorgaben zu installieren, bevor unser Großereignis stattfindet. Zeit wäre jedenfalls noch reichlich vorhanden. Wir planen die Präsentation erst im Frühsommer des kommenden Jahres«, gab er zu bedenken.

»Wir haben alle Eventualitäten vor dieser Besprechung bei uns im Hause bereits hinreichend diskutiert. Unser Entschluss steht fest – es bleibt bei einem Nein. Wir werden uns wegen diesem verdammten Inselchen in keiner Weise in die Nesseln setzen. Wenn Ihr Partner dort feiern will, muss er uns La Gaiola schon abkaufen. Selbstverständlich wären in diesem Fall bei der Renovierung der Villa eine Menge denkmalschutzrechtlicher Bestimmungen zu beachten, schließlich gilt sie als historisch wertvoll«, konstatierte der Beamte kühl.

Fünfzehn Minuten später stand Enzo Battaglia draußen auf der Straße, fieselte fahrig sein Smartphone aus der Innentasche seines Kaschmirsakkos und versuchte, Thorsten Sasse telefonisch zu erreichen. Er konnte mit Niederlagen schlecht umgehen, fühlte sich regelrecht gedemütigt.

In knappen Sätzen schilderte er, was er in der Liegenschaftsbehörde zu hören bekommen hatte und schlug vor, gemeinsam über eine andere Location für den wichtigen Event nachzudenken. Die Herren Beamten seien leider zu borniert und unflexibel, um eine stinknormale Vermietung in die Wege zu leiten. Es tue ihm außerordentlich leid, er habe alles in seiner Macht stehende versucht. Leider sei es heutzutage auch wegen diverser Anti-Korruptionsgesetze nicht mehr so einfach wie früher, Beamte zu schmieren.

»Merda«, fluchte Thorsten frustriert. »War das wirklich deren letztes Wort? La Gaiola ist unter keinen Umständen zu haben?«

»Oh doch! Aber man müsste es kaufen«, merkte Battaglia sarkastisch an.

Sasse erwiderte darauf nichts, gespannte Stille entstand.

»Bist du noch da?«, vergewisserte sich der Italiener.

»Klar! Ich muss über all das nachdenken. In dieser Angelegenheit ist das letzte Wort garantiert noch nicht gesprochen. Ich melde mich wieder bei dir.«

»Halt, warte! Du denkst doch nicht ernsthaft darüber nach, die Insel des Grauens zu kaufen?!«

»Selbstverständlich nicht um jeden Preis, aber Durchdenken könnte man die Option durchaus. Ich bräuchte ohnehin endlich einen standesgemäßen Wohnsitz. Und Gedankenspiele kosten ja nichts, oder? Besser noch … ich könnte hinfliegen, mir vor Ort ein Bild machen und Mona mitnehmen. Die liegt mir schon die ganze Zeit in den Ohren, dass sie gerne mal wieder wenigstens einen Kurztrip mit mir unternehmen möchte, wenn ich schon keine Zeit für Urlaubsreisen habe.

Außerdem, hör mir doch mit diesem albernen Fluch auf. Bestimmt gibt es für all die Katastrophen eine rationelle Erklärung, und man ist nur noch nicht draufgekommen. Shit happens.

Zugegeben – ich habe auch erst geglaubt, es könnte in den alten Horrorgeschichten ein Körnchen Wahrheit stecken. Aber bitte … wir sind doch schließlich wissenschaftlich aufgeklärte Menschen im einundzwanzigsten Jahrhundert! Schon seit Jahrzehnten ist auf La Gaiola Ruhe eingekehrt. Wann war überhaupt das letzte Ereignis, das man dem angeblichen Fluch zuschrieb? In den Achtzigern oder so?«

Er wurde eines Besseren belehrt.

2009

Der Gärtner ist immer der Mörder … oder?

»In früheren Zeiten gehörte zur Doppelinsel La Gaiola noch ein großes Stück Land am direkt gegenüber liegenden Kap, weswegen manche Leute steif und fest behaupten, dass der angebliche Inselfluch sich sogar bis dort hinüber auswirke. Einem wirksamen Fluch, der an ein bestimmtes Stückchen Grund und Boden gebunden sei, könne es quasi egal sein, ob das Land in späteren Jahren auf unterschiedliche Eigentümer und in mehrere Parzellen aufgeteilt werde. Einmal verflucht – immer verflucht. Das ist die landläufige Meinung.

Ob man das nun zu Recht glaubt oder nicht, es scheinen sich immer dieselben Muster zu wiederholen. Reiche Besitzer – und manchmal auch deren Gäste – gehen nach großen geschäftlichen Erfolgen entweder mit Pauken und Trompeten in die Pleite, werden verrückt oder sterben.

Im Falle des Francesco ›Franco‹ Ambrosio und seiner Gattin trafen sogar gleich zwei dieser Unglücke ein, und das, obwohl sie gar nicht auf der Insel selbst, sondern am Festland lebten.

Im Jahre 1960 gründete der aus San Gennarello stammende Ambrosio in Neapel die Italgrani, eine Firma für Imund Export von Getreide. Damals war er achtundzwanzig Jahre alt. 1970 wurde aus dem prosperierenden Unternehmen eine HoldingGesellschaft, geschäftlicher Erfolg stellte sich ein.

Weitere zehn Jahre später verpasste man Ambrosio bereits den Spitznamen Getreidekönig. 1985 hatte er sich sogar den größten Marktanteil für Hartweizengries auf dem US-Markt erobert. Von da an ging es mit dem Erfolg, auch wegen juristischer Querelen, allerdings wieder abwärts, bis das Unternehmen 1999 von Konkurs und Schließung bedroht war.

Der Erfolg seiner Firma war nicht Ambrosios einzige Passion. Er sponserte zum Beispiel, von 1977 an, ein Formel 1 Team. Aber auch in dieser Hinsicht erlebte er ein ständiges Auf und Ab. Es wurde nach einer Serie von Misserfolgen versucht, bessere Fahrer für die Rennboliden zu finden. Ambrosios rechtliche und finanzielle Probleme nahmen zur selben Zeit stetig zu, sodass er das Sponsoring schweren Herzens einstellen musste.

Immer noch waren die Ambrosios Eigentümer jener protzigen Villa am Steilhang, die direkt am Fußweg liegt, der hinunter zum kleinen Strand vor der Insel des Grauens führt. Zudem verfügte Francesco trotz aller Einbußen der vergangenen Jahre nach wie vor über ein ansehnliches Privatvermögen, das ihm und seiner Frau Giovanna eigentlich einen sehr angenehmen Lebensabend ermöglichen hätte sollen … wenn, ja wenn er nicht diesen rumänischen Gärtner eingestellt hätte.

Am Morgen des 15. April 2009 wurden die Leichen der Eheleute Ambrosio in ihrer Villa aufgefunden. Es hatte Diebstähle gegeben, alles im Haus war gründlich durchwühlt worden. Man ging schnell von einem missglückten Einbruch aus, der in einen Raubmord an den Multimillionären gemündet war.

Nach erstaunlich kurzer Ermittlungsarbeit nahm die Kriminalpolizei drei rumänische Einwanderer fest, von denen einer auf dem Ambrosio-Anwesen als Gärtner gearbeitet hatte. Der anfängliche Verdacht, die beiden Söhne des Ehepaares könnten die drei Ausländer aus Habgier für die Beseitigung ihrer Eltern angeworben haben, konnte in der gerichtlichen Verhandlung nie bestätigt werden. Bis heute haben sich die genauen Umstände nicht klären lassen.

Für die Zeitungen und die meisten Einwohner von Posillipo stand natürlich sofort fest, wer der eigentliche Mörder gewesen sein musste: la isola maledetta

Thorsten beschloss vorsorglich, seiner Freundin diesen jüngsten Teil der bewegten Geschichte La Gaiolas besser vorzuenthalten. Schließlich wollte er möglichst noch am selben Abend die Flugtickets nach Neapel übers Internet ordern.

Wie zu erwarten gewesen war, flippte Mona vor Freude über ein paar entspannte Tage im Sonnenschein schier aus. Ein passender Termin für den Trip war wider Erwarten schnell gefunden, und so konnte der junge Internetmillionär die Flüge nach bella Italia noch am selben Abend buchen. Am Freitag, dem 26. September 2014 sollte es losgehen.

Anschließend wühlte er noch einmal intensiv in den Untiefen des Internets, um vor der Reise möglichst viele Fakten über die böse kleine Doppelinsel zusammenzutragen. Was er hierbei an zusätzlichen Informationen ausgrub, ließ ihn an seiner eigenen Aussage von vorhin ein Stück weit zweifeln.

Die merkwürdige Häufung von Pleiten, anderen Unglücken und Todesfällen war auf La Gaiola tatsächlich exorbitant hoch. Doch je mysteriöser die Sache wurde desto stärker drängte ihn die Neugierde zum Golf von Neapel.

*

Die Maschine der Alitalia landete mit zehn Minuten Verspätung auf dem Flughafen Napoli-Capodichino. In bester Urlaubslaune schlenderten Thorsten und seine schöne Freundin zum Schalter der Mietwagenfirma, um den elektronischen Schlüssel für das vorab gebuchte Mercedes SLK Cabrio in Empfang zu nehmen. Wenn schon, denn schon.

Ein Glück, dass sie sich innerhalb des drei Tage währenden Aufenthalts jede Menge Zeit nehmen konnten. Andernfalls wäre Thorsten während der Fahrt durch die verstopfte Millionenstadt vermutlich ausgerastet. Er tat es den temperamentvollen Südländern gleich und hupte was das Zeug hielt. Zuerst lachte Mona über die sinnlos erzeugte Geräuschkulisse, doch bald ging sie ihr ziemlich auf die Nerven.

Beide waren daher heilfroh, als sie die Häuserschluchten des Stadtkerns endlich hinter sich lassen und im südwestlich gelegenen Stadtteil Chiaia über die Via Mergellino auf die Via Posillipo einbiegen konnten. Ein wunderschöner Meerblick eröffnete sich ihnen auf dieser Straße, die kilometerweit der Küstenlinie folgte. Häuser in Cremeweiß, Maisgelb und Ocker wechselten sich an der Steilküste mit unzähligen Treppen, Stützmauern und Terrassen ab. Dazwischen bildeten hauptsächlich Bougainvilleas violette und orangene Farbtupfer vor dem satten Grün der Pinien. Über all dieser verschwenderischen Pracht leuchtete der Himmel azurblau. Nur vereinzelt trieben weiße Wölkchen mit dem lauen Sommerwind gemächlich gen Osten.

Prüfende Seitenblicke verrieten Thorsten, wie überaus angetan seine Begleiterin von der atemberaubenden Mittelmeerkulisse war. Ein prima Auftakt, der morgen im ersten Anblick von La Gaiola gipfeln solle.

 

Nun kam endlich das ersehnte Urlaubsfeeling auf. Mehrmals hielt Thorsten am Straßenrand, damit Mona mit ihrem Smartphone Fotos schießen konnte. Auf der Außenterrasse des Ristorantes Reginella nahmen sie je einen Latte Macchiato zu sich, um anschließend gemütlich zurück in Richtung der Stadt zu cruisen. Es dämmerte bereits, und da lohnte es sich nicht mehr, bis nach Marechiaro hinunter zu fahren. Die Insel samt Umgebung würden sie am nächsten Tag noch ausgiebig genug erkunden können. Jetzt galt es, im Hotel einzuchecken.

Das Vier-Sterne-Haus Best Western Paradiso lag in der Via Catullo und bot einen herrlichen Blick über die Bucht von Neapel, sowie den mächtigen Vesuvio, der düster wie ein Menetekel am Horizont über der Stadt thronte. Mona würde beim Frühstück Augen machen. Der Raum mit dem Frühstücksbuffet bot nämlich einen unschlagbaren Rundumblick, was er im Internet mit der gewohnten Akribie recherchiert hatte. Ein Thorsten Sasse überließ grundsätzlich nichts dem Zufall.

Zwei Stunden später standen sie nebeneinander am Geländer des Balkons vor ihrem Doppelzimmer. Die gesamte Bucht war hell erleuchtet, Verkehrslärm brandete als dezentes Summen aus der Stadt herüber. Unzählige Lichter und bunte Leuchtreklamen reihten sich wie an einer Perlenkette aneinander, spiegelten sich auf dem ruhigen Wasser als verzerrte Reflexionen. Schneeweiße Boote schaukelten direkt unterhalb des Hotelareals dekorativ in einem kleinen Yachthafen. Das Glucksen des Wassers an der Kaimauer beruhigte die Sinne, machte ein wenig schläfrig.

»Wie romantisch! Der erste Eindruck von dieser Gegend ist einfach umwerfend«, schwärmte Mona. Sie jettete zwar als gefragtes Model fast ständig in der Welt herum, kam aber während ihrer Reisen kaum dazu, all die Gegenden zu erkunden, in denen sie sich jeweils nur sehr kurzfristig aufhielt. Wie sie da so stand, braungebrannt und mit offenem schwarzem Haar, hätte man sie für eine waschechte Italienerin halten können. Nur war sie dafür eigentlich nicht klein genug.

Alles klappte genauso, wie er es sich ausgemalt hatte. Diesen ersten Nachmittag in Italien konnte man also schon als Erfolg verbuchen. Wenn morgen die Insel noch halten würde, was sie versprach …

Monas millionenschwerer Freund nickte selbstzufrieden und ließ sich vom Zimmerservice zur Feier des Tages kurzentschlossen eine Flasche besten Champagners aufs Zimmer liefern. Er fühlte, wie sich sein Akku bereits wieder aufzuladen begann. Ich arbeite wirklich zu viel, sollte mir öfters so eine Auszeit gönnen, sinnierte er während des Einschenkens.

Der Zimmerkellner verschwand mit den besten Wünschen für einen angenehmen Restabend, nachdem er sein Trinkgeld in der weinroten Livree hatte verschwinden lassen.

Thorsten reichte Mona eine der hohen Sektflöten.

»Auf La Gaiola!«

»Auf La Gaiola. Mann … ich platze schon vor Neugier«, wiederholte sie mit leuchtenden Augen.

*

Der folgende Tag lockte mit grellen Sonnenstrahlen, die durch die geöffnete Doppel-Balkontür ins Hotelzimmer fielen. Thorsten und Mona hatten sich in der Nacht nicht überwinden können, sie zu schließen, wollten das Meeresrauschen und die salzhaltige Luft beim Einschlafen genießen.

Gegen halb zehn wurde es dem umtriebigen Unternehmer zu bunt mit dem Müßiggang, er scheuchte Mona unbarmherzig aus dem Bett und ins Badezimmer. Dort würde sie ohnehin wieder eine Weile brauchen.

Er selbst griff zu seinem Notebook, gab den hoteleigenen Wifi-Schlüssel ein und checkte seine E-Mails. Unglaublich, was im Postfach innerhalb der kurzen Zeitspanne seiner Abwesenheit aufgelaufen war! Während seine Freundin ihr Haar föhnte, trennte er die wichtigen von weniger brisanten Mails und beantwortete dringende Fragen seiner Mitarbeiter. Wochenenden und Feierabende waren bei ihm relativ. Abschließend sah er sich die Küste vor La Gaiola zu Orientierung auf Google Earth an.

Gut gelaunt schwebte das Model aus dem Bad, und Thorsten klappte den Rechner zu. Er stand auf, griff nach seinem Kulturbeutel. Bei ihm würde die Prozedur samt Dusche nicht länger als zehn Minuten in Anspruch nehmen.

»Wozu hast du dich eigentlich voll geschminkt? Wir wollten doch am Strand des Parco Sommerso della Gaiola, Area Marina Protetta, schwimmen gehen«, wunderte er sich.

Mona lächelte kopfschüttelnd.

»Männer! Keine blasse Ahnung, wie sehr Unsereins nach dem Aussehen beurteilt wird. Ich habe keinerlei Bock auf grässliche Fotos, die irgendein Paparazzo auf dem Weg dorthin von mir schießt.«

Gegen Mittag verließ der Mercedes SLK die hoteleigene Tiefgarage. Bei angenehmen achtundzwanzig Grad konnte man wieder mit offenem Verdeck fahren. In Deutschland zog Ende September bereits der Herbst ein, aber hier am Mittelmeer herrschte noch schönstes Hochsommerwetter.

Monas Haar war zum Schutz gegen den Fahrtwind mit einem farbenfrohen Seidentuch von Hermès zurückgebunden, das einen farbigen Kontrast zu ihrem schwarzen, gerade so oberschenkellangen Kaftan aus semitransparentem Leinen bildete. Opulente Ton-in-Ton-Stickereien umrahmten den V-Ausschnitt und die Gehschlitze am Saum. Darunter trug sie einen mitternachtsblauen Bikini mit goldfarbenen Zierelementen, der neckisch hervorblitzte.

Mehr als einmal glitt Thorstens Blick unwillkürlich von Straße und Armaturenbrett zu seiner Beifahrerin hinüber, deren glänzendes Haar wie eine schwarze Fahne im Fahrtwind wehte. An ihrem schlanken Hals funkelte ein goldenes Kettchen mit brillantbesetztem Herzanhänger, das er ihr zum Geburtstag verehrt hatte. Wie sie da so entspannt im Sitz saß und aufs Meer hinausträumte, sah sie zum Anbeißen aus.

Der Wagen bog nach dem Verlassen der Via Posillipo in die Discesa Gaiola ein. Der befahrbare Teil dieser schmalen Straße endete auf einem heillos überfüllten Parkplatz, auf dem Thorsten mehrere Runden drehen musste, bis ihm das Glück hold war und eine Parklücke frei wurde. Von hier aus musste man zu Fuß weitergehen, wenn man an den Strand oder zu den archäologischen Stätten gelangen wollte. Unter anderem gab es hier ein gut erhaltenes Amphitheater aus der Römerzeit zu bestaunen, doch danach stand den Frankfurtern heute nicht der Sinn.

In Serpentinen schraubte sich der Weg den Steilhang hinab. Mona war froh, zu ihren flachen Zehensandaletten gegriffen zu haben, sonst hätte sie wohl irgendwann barfuß gehen müssen. So konnte sie die Wegstrecke wenigstens in vollen Zügen genießen. Entlang der üppig mit wildem Wein, Efeu oder Bougainvilleas bewachsenen Bruchsteinmauern und kleinen Häusern ging es im Halbschatten sanft nach unten, bis das Meer in Sicht kam. Thorsten bemerkte, wie Lichtreflexe durch die Zweige der Olivenbäume fielen und auf der süßen Nase seiner Freundin fröhlich zu tanzen schienen.

Eine kleine Badebucht breitete sich vor den Betrachtern aus. Die schmalen Strände waren mit Badenden, spielenden Kindern und Booten total überfüllt. Über dieser Bucht thronte die Villa Ambrosio, fast so erhaben wie ein kleineres Kastell, und man konnte einen ersten Blick auf La Gaiola erhaschen. Das Eiland lag unglaublich nahe am Festland.

Thorsten und Mona mussten jetzt nur noch eine Minilandzunge überqueren und einige Treppenstufen hinabsteigen, dann waren sie am Ziel ihres kurzen Fußmarsches angelangt. Hier war die Küste durchgehend felsig, man konnte an manchen Stellen jedoch von glatten Felsplattformen aus baden gehen. Direkt vor der Insel planschten Touristen im petrolgrünen Wasser, Kanus und Ruderboote zogen in gemächlichem Tempo vorüber. Am Meeresgrund vor der Zwillingsinsel konnte man schemenhaft lineare Steinstrukturen erkennen.

»Was ist das? Sieht wie Unterwasserruinen aus«, fragte Mona.

»Gut erkannt. Da unten liegen die Überreste einer römischen Siedlung. Ich habe mir auf You Tube mehrere Videos angesehen. Wenn man hier abtaucht, kann man sogar noch verschnörkelte Bodenfliesen von damals erkennen. Diese reizvolle Gegend war schon immer von reichen Leuten bewohnt«, erklärte Thorsten geduldig.

»Schau, da vorne am Eck wäre noch Platz für unser Handtuch. Wir könnten uns dort niederlassen und die paar Meter zur Insel hinüber schwimmen.«

Mona zeigte sich einverstanden. Sie breitete das Badetuch aus, band ihr Haar zu einem Knoten hoch und streifte Tunika und Sandalen ab.

»Schon fertig! Wegen mir kann es sofort losgehen.« Sie ließ sich bis zum Hals ins lauwarme Wasser gleiten, anmutig wie eine Nixe. Ihr Freund brauchte da etwas länger. In Gewässer, die er nicht kannte, hielt er grundsätzlich erst die große Zehe hinein, bevor langsam der Rest seines durchtrainierten Körpers folgte.

»Jetzt komm endlich! Wovor hast du Schiss? Hier gibt es bestimmt keine Haie. Die haben instinktiv eine Heidenangst vor dem Inselfluch«, lästerte Mona ironisch und planschte derart mit den Füßen, sodass Thorsten von oben bis unten klatschnass wurde. Dann schwamm sie kichernd von dannen, sich dabei immer wieder frech nach ihm umdrehend.

Er ließ sich vollends ins klare Wasser plumpsen.

»Na warte!«, drohte er zum Scherz und folgte ihr. Sie hatte mit wenigen Schwimmzügen bereits mehr als die Hälfte der kurzen Distanz zur Insel zurückgelegt. Am Felsvorsprung vor der Grotte hielt sie jedoch inne.

»Was meinst du, Schatz … kann ich es wirklich wagen, diesen

mit einem Fluch belegten Grund und Boden zu berühren?«

»Aber unbedingt!«

Thorsten zog sich hoch, reichte seiner Begleiterin seine starke Hand, um ihr aus dem Wasser zu helfen. Er war eben durch und durch Kavalier. Nun standen sie unmittelbar vor einer geräumigen Grotte, deren Eingang durch ein rostiges Scherengitter versperrt wurde. Man konnte lediglich zwei, drei Meter weit hineingehen. Dennoch prangte daneben ein weißes Warnschild mit roter Aufschrift an der Felswand:

Attenzione Pericolo! Specchio acqueo area demaniale interdetta, stand da zu lesen. Die Regione Campania hatte es angebracht.

Mona studierte es, konnte sich keinen Reim darauf machen.

»Bei steigendem Wasserspiegel könnte es hier gefährlich werden«, übersetzte Thorsten sinngemäß.

Mona lehnte sich gegen die raue Felswand, hielt ihr Gesicht in die Sonne. Blinzelnd sah sie zur anderen, unbebauten Hälfte der Insel hinüber, musterte skeptisch den schmalen Steinsteg, der die Hälften verband. Er wirkte marode. Nie im Leben würde sie mit ihrer Höhenangst dort hinüber gehen können.

»Mir ist schon ein wenig mulmig zumute, das muss ich zugeben. Wir könnten ebenso gut wieder zum Festland schwimmen, denn die Villa sieht man von hier aus sowieso nicht. Ich würde auch ungern verbotswidrig über die Absperrung klettern, um auf die Treppe zu kommen«, meinte Mona.

»Da hast du Recht. Wäre viel zu gefährlich«, bestätigte Thorsten und ließ sich wieder ins Wasser hinunter. Mona folgte. Gemeinsam steuerten sie schwimmend die Stelle an, an der sie ihre Siebensachen zurückgelassen hatte. Nur dass dort jetzt weder das Handtuch, noch Monas oder Thorstens Klamotten lagen. Nichts als nackter Fels leuchtete ihnen entgegen.

Hatte vielleicht der Wind die Sachen ins Wasser geweht? Sie sahen sich aufmerksam um. Nichts. Nach kurzer Suche war klar, dass hier ein dreister Dieb am Werk gewesen sein musste. Zum Glück bewahrte Thorsten Geld, Kreditkarten und Autoschlüssel traditionell in einer wasserfesten Box auf, die ihm an einer neongrünen Nylonschnur am Hals baumelte. Ansonsten wäre die Sache böse ausgegangen und wahrscheinlich auch der Mietwagen gestohlen worden.

»Verdammte italienische Langfinger! Mein Lacoste-Shirt konnten sie wohl gut gebrauchen. Jetzt dürfen wir nachher halbnackt ins Hotel zurückfahren«, fluchte der blonde Frankfurter.

Mona nickte betroffen. Schade um die schöne Tunika.

»Das stimmt leider, und diese Art von Pech können wir nicht einmal dem Inselfluch zuschreiben. Wenigstens habe ich meine nagelneue Gucci-Sonnenbrille vorhin in weiser Voraussicht im Handschuhfach verstaut.«

Das Paar beschloss, wenigstens das Beste aus der Situation zu machen. Von einer erhöhten Plattform aus, auf der ein größeres Verwaltungsgebäude stand, blickten sie zu La Gaiola hinüber. Von dieser Warte aus konnte man die Bebauung gut erkennen.

»Wer hat denn die herrschaftliche Villa auf der Insel erbaut, und wie alt mag sie sein?«, wollte Mona wissen. Die halb verrotteten Gemäuer hatten sie offenbar in Windeseile in ihren Bann gezogen.

 

»Ich habe selbstverständlich ein paar Recherchen angestellt, und das nicht nur über diesen vorgeblichen Inselfluch. Obwohl

… irgendwie scheint alles, was auch nur entfernt mit La Gaiola zu tun hat, damit ebenfalls zusammenzuhängen. Ich schildere dir gerne, was ich im Internet über die ersten Besitzer der Insel gefunden habe. Danach kannst du dir ein eigenes Bild machen.

Allerdings wirft die Antwort auf jegliche Frage gleich ein paar neue auf … also ich werde aus der ganzen Geschichte jedenfalls nicht schlau. Wieso diese wunderschön gelegene Villa dermaßen oft den Besitzer gewechselt hat – und das in einem Land des starken Familienzusammenhalts, wo man sein Eigentum traditionell seinen Kindern vererbt – ist mir ein Rätsel.«

»Schluss mit der langatmigen Vorrede, nun lass schon hören!«, quengelte Mona voller Ungeduld.

1874

Klein aber mein

»In etwa um Christi Geburt soll hier ein kleines Heiligtum der Göttin Venus gestanden haben. In späteren Zeiten hat man die Insel als Verteidigungsstützpunkt genutzt, aber etwas Genaueres konnte ich über die graue Vorzeit nicht herausfinden. Im siebzehnten Jahrhundert müssen auf diesen wenigen Quadratmetern verschiedene Fabrikationsstätten existiert haben, und zwar bevor La Gaiola erneut militärischen Zwecken diente.

Als erster Eigentümer der neueren Geschichte ist ein Archäologe namens Guglielmo Bechi dokumentiert, der die Insel 1820 zusammen mit einem Teil der gegenüber liegenden Landzunge kaufte. Es wird vermutet, er habe damit verhindern wollen, dass sich wieder Fabriken oder Militär dort ansiedeln, weil dadurch seine archäologischen Ausgrabungen gestört worden wären.

1874 veräußerte er die Liegenschaften an den Besitzer eines großen Fischereiunternehmens, der kurz nach dem Erwerb auch diese Villa erbaut haben soll. Jener Luigi di Negri muss innerhalb weniger Jahre mit seiner Firma eine gründliche Pleite hingelegt haben, und zwar noch während er auf La Gaiola lebte.

Er verkaufte notgedrungen an einen anderen Unternehmer, der in den Felshöhlen am Fuße der Insel und drüben am Festland angeblich pozzolana, das ist antike Vulkanasche von einem frühen Ausbruch des Vesuv, abbaute. Man kann dieses Material für die Herstellung einer ganz speziellen Betonsorte verwenden. Aber auch dieser Eigentümer kann dort nicht auf Dauer glücklich geworden sein.

Insel, Villa sowie das Grundstück am Kap gingen anschließend komplett in den Besitz der Familie des ehrenwerten Senators Paratore über. Sieh nur mal dort hinüber, Mona. Das ganze Areal, zu dem heute der Parco archeologico und das große Ambrosio-Anwesen gehören, also die riesige Villa dort am Steilhang, zählten damals zur Liegenschaft. Heutzutage wären allein schon die Grundstücke viele Millionen Euro wert.«

»Ein Traum, solche Anwesen zu besitzen«, meinte Mona. Sie beschirmte ihre Augen gegen die Sonne und sah in die angegebene Richtung.

»Stimmt haargenau! Und dennoch wechselte der Besitzer nach erstaunlich kurzer Zeit erneut. Paratore verkaufte alles an den Schriftsteller Norman Douglas, der ein großes Faible für Süditalien hatte. Der taufte die Inselvilla auf den Namen Maya. Jedoch verzog dieser ursprünglich aus Vorarlberg stammende Buchautor wenig später auf eine andere Insel, aufs Neue in eine opulente Villa – auf Capri.

Warum mag er das getan haben, frage ich dich? Warum hat er ein Paradies gegen ein anderes eingetauscht? Irgendetwas muss ihm auf La Gaiola wohl gründlich missfallen haben. Das Mysteriöse daran ist, dass er im Jahre 1911 ein Buch mit dem Namen Siren Land geschrieben hat.

Oh, ich sehe Fragezeichen in deinen Augen. Dann will ich mal etwas weiter ausholen, meine Liebe.

Die Sirenen sind laut der griechischen Mythologie weibliche Fabelwesen, die durch ihren betörenden Gesang vorbeifahrende Schiffer anlocken, um diese zu töten. Man nennt sie deswegen auch die Musen der Todesklage. Der Held Odysseus soll das einzige männliche Individuum gewesen sein, das den verführerischen Gesängen jemals widerstehen konnte. Er schipperte unbeschadet an der Sireneninsel vorbei.

Und jetzt kommt’s: Die drei Sirenen begingen, der Sage nach, wegen ihres kläglichen Scheiterns Selbstmord, indem sie sich ins Meer stürzten. Eine von ihnen, Parthenope genannt, soll tot im Golf von Neapel angespült worden sein. Hier in der Nähe befindet sich angeblich ihr Grab, und hier wurde deshalb noch lange ihr Kult begangen. Ein merkwürdiger Zufall, nicht wahr?«

»Ich sehe den Zusammenhang noch nicht«, bemerkte seine Freundin kopfschüttelnd. Sie schien schon wieder das Interesse zu verlieren. Zu viel Nachhilfeunterricht langweilte sie offenkundig zu Tode.

»Nun denk doch mal scharf nach! Verführerinnen, die Männer eiskalt in den Tod locken … das könnte ein zarter Hinweis auf diese Zwillingsinsel sein, die der Schriftsteller so schnell wieder verlassen hat. Es wäre durchaus möglich, dass er Zeuge mysteriöser Vorfälle geworden ist und es ihm zu peinlich war, darüber zu berichten. Schreiberlinge pflegen prägende Erlebnisse später in ihren Büchern zu verarbeiten, wenn auch meistens auf eine eher metaphorische Weise, verstehst du?«

»Nein«, gab Mona offen zu. Literatur war nicht ihr Ding.

»Wenn man ins Kalkül zieht, was in späteren Jahren auf der Insel alles geschehen sein soll, ergäbe das durchaus Sinn. Aber Schluss jetzt … mit der langen Reihe von Unglücken will ich dir heute nicht mehr auf die Nerven gehen. Genießen wir lieber den schönen Tag, wir können so selten gemeinsame Freizeit genießen«, schloss Thorsten seine Ausführungen.

»Es mag ja sein, dass diese Insel eine bewegte Geschichte hat. Mir gefällt sie trotzdem. Sie übt einen besonderen Reiz auf mich aus«, beharrte das Model.

»Du hättest also keine Angst, hier zu leben?«, fragte Thorsten elektrisiert. Ihm war soeben eine blendende Idee gekommen.

Mona zuckte unschlüssig mit den Achseln.

»Tagsüber auf gar keinen Fall. Aber nachts, wenn alles stockfinster ist und man merkwürdige Geräusche rund um das Haus hört, könnte in dieser Einsamkeit die Fantasie mit einem durchgehen. Oder bei Sturm mit hohem Wellengang zum Beispiel.«

Doch Thorsten war längst in seiner eigenen Gedankenwelt der nüchternen Zahlen versunken. Er hörte ihr gar nicht mehr zu. Sein starrer Blick fixierte gierig jenes sonnenüberflutete Eiland, welches bald über sein weiteres Schicksal bestimmen sollte.

Sobald die nasse Badekleidung halbwegs getrocknet war, fuhren die Urlauber zum Hotel zurück. Am Abend gingen sie groß aus und beschlossen, am nächsten Tag ein Motorboot mit Führer zu mieten, um La Gaiola umrunden und von allen Seiten betrachten zu können. Nach einem anschließenden kurzen Stadtbummel in Neapel würden sie schon wieder in den Flieger steigen und die Rückreise antreten müssen. Beiden graute davor, denn für Frankfurt war Sonntagabend ein Sturmtief angesagt.

*

Thorsten Sasse konnte man getrost als facettenreiche Persönlichkeit bezeichnen. Unter der Knute seines Vaters, eines absoluten Machtmenschen, hatte er früh gelernt, mit strengen Regeln zu leben. Hatte mitbekommen, welchen Stellenwert Geld und Besitz auf dieser kapitalistisch orientierten Welt einnahmen, wie viele Türen sie einem öffneten. Dieser Eindruck hatte sich während seiner Jahre in einem Schweizer Eliteinternat noch verstärkt. Es gab für ihn die gut betuchten Macher, die überall hervorstachen und den Ton angaben – und eben die Anderen.

Im Gegensatz zu Werner-Wolfgang Sasse besaß sein Sohn jedoch einen Sinn für die schönen Künste. Er schätzte Literatur, liebte moderne Gemälde und Skulpturen genauso wie edle Antiquitäten. Wenn er verreiste, dann nicht nur, um Luxusressorts von innen zu betrachten. Er sah sich interessiert in fernen Ländern um, philosophierte gerne über die unterschiedlichen Kulturen; allerdings tauchte er nicht tief genug in deren Volksseele ein, denn hierzu hätte er sich ja intensiv mit den Anderen abgeben müssen.