Lady Trents Erbe: Aus der Finsternis zum Licht

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Lady Trents Erbe: Aus der Finsternis zum Licht
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MARIE BRENNAN

AUS DER FINSTERNIS
zum LICHT

LADY TRENTS ERBE

Ins Deutsche übersetzt von

Andrea Blendl



Die deutsche Ausgabe von LADY TRENTS ERBE: AUS DER FINSTERNIS ZUM LICHT wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler, Übersetzung: Andrea Blendl; verantwortlicher Redakteur

und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Kerstin Feuersänger; Korrektorat: Peter Schild;

Satz: Rowan Rüster; Cover-Illustration: Todd Lockwood,

Printausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohořelice.

Printed in the Czech Republic.

Titel der Originalausgabe:

TURNING DARKNESS INTO LIGHT

Copyright © 2019 by Bryn Neuenschwander

German translation copyright © 2020, by Cross Cult.

Print ISBN 978-3-96658-321-3 (November 2020)

E-Book ISBN 978-3-96658-322-0 (November 2020)

WWW.CROSS-CULT.DE

Inhalt

ERSTAUNLICHER FUND IN AKHIEN

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

Aus dem Notizbuch von Cora Fitzarthur

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

GEPLÜNDERTER TEMPEL ENTDECKT

Aus dem Notizbuch von Cora Fitzarthur

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

Aus dem Notizbuch von Cora Fitzarthur

REPTILIENINVASION

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

FÜNF JAHRE ZUVOR

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

HEUTE

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

FÜNFZEHN JAHRE ZUVOR

HEUTE

Aus dem Notizbuch von Cora Fitzarthur

Aus dem Notizbuch von Cora Fitzarthur

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

Aus dem Notizbuch von Cora Fitzarthur

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

ZEHN JAHRE ZUVOR

HEUTE

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

Aus dem Tagebuch von Walter Lepperton

RAZZIA AM HAFEN

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

Aus dem Notizbuch von Cora Fitzarthur

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

Aus dem Notizbuch von Cora Fitzarthur

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

DRAKONEISCHE GESCHICHTE ENTHÜLLT

SIE SIND HERZLICH EINGELADEN

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

Aus dem Notizbuch von Cora Fitzarthur

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

BÜRO DES STADTPATHOLOGEN VON FALCHESTER

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

ZEUGENAUSSAGE VON AUDREY CAMHERST

OPPOSITIONSFÜHRER ABGESETZT

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

WAHRE DRAKONEISCHE GESCHICHTE ENTHÜLLT

ERÖFFNUNGSANSPRACHE ZUM KONGRESS VON FALCHESTER

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst

ERSTAUNLICHER FUND IN AKHIEN
Neu entdeckter Hort mit drakoneischen Inschriften Lord Gleinleighs Triumph

»Die wahre Geschichte wird endlich enthüllt«

Obwohl sie beinahe völlig wasserlos sind, sind die Wüsten von Akhien eine Quelle von Geheimnissen. Jahr um Jahr gibt ihr Sand weitere Überreste der antiken drakoneischen Zivilisation frei, die die Öffentlichkeit seit Hunderten – nein, Tausenden – von Jahren fasziniert.

Heute haben sie der Menschheit einen unbezahlbaren Schatz in die Hände gelegt, der dem Herz der Wächter selbst beinahe ebenbürtig ist: einen gewaltigen Hort an Inschriften, der von unbekannten Händen in den Tiefen einer Höhle verborgen wurde und bis jetzt in Vergessenheit geraten war. Eine Expedition, die von Marcus Fitzarthur, dem Grafen von Gleinleigh, angeführt wurde, wagte sich in die unwirtliche Region, die als der Qajr bekannt ist, wo Archäologen wenig Hoffnung auf bedeutende Entdeckungen hegten. Als er sich vor der Mittagshitze zurückzog, fand der Graf selbst den Hort, der Hunderte von Tafeln enthielt, die nie zuvor von modernen Gelehrten gesehen worden waren.

Welche Hände haben sie in der schützenden Erde jener Höhle vergraben, so weit ab von jeglicher bisher entdeckten Siedlung? War dies die Handlung irgendeines antiken Eremiten oder Geizkragens, der seine Bibliothek vor den Augen anderer schützen wollte? War es ein Versuch, diese Texte vor der Gewalt des Niedergangs zu retten, der die drakoneische Herrschaft beendete? Vielleicht erfahren wir es nie, außer die Worte selbst geben irgendeinen Hinweis auf ihren Wert oder Ursprung. Aber der Inhalt der Tafeln ist noch unbekannt. Lord Gleinleigh bestand auf deren sofortiger Entfernung, ehe Plünderer zu der Stätte kommen und diesen unbezahlbaren Schatz stehlen konnten. Er schmiedet bereits Pläne, um sie zu seinem Besitz in Stokesley zu bringen, wo er eine der umfassendsten privaten Sammlungen drakoneischer Antiquitäten auf der ganzen Welt zusammengestellt hat.

Als er um einen Kommentar gebeten wurde, sandte Simeon Cavall vom Tomphries-Museum die folgende Stellungnahme: »Wir gratulieren Lord Gleinleigh zu seiner Glückssträhne und hoffen, dass er die Details zu diesem Hort zügig mit der Weltöffentlichkeit teilen wird.«

 

Von: Büro des Kurators für drakoneische Antiquitäten

An: Alan Preston

14. Nivis

Tomphries-Museum

Chisholmstraße 12, Falchester

Lieber Alan,

also gut, du gewinnst. Lord Gleinleigh ist jedes bisschen so unausstehlich, wie du mich gewarnt hast. Ich bin durch die Dunkelheit gefahren, nur um in einem Gasthof zu übernachten, statt die Gastfreundschaft dieses Mannes für die Nacht anzunehmen.

Seine Privatsammlungen sind auf jeden Fall so erstaunlich, wie die Gerüchte behaupten, aber es ist schwierig für mich, irgendetwas zu bewundern, wenn ich weiß, dass er die Hälfte davon auf zweifelhaften Märkten in Übersee und die andere Hälfte auf zweifelhaften Märkten hier in Scirland erstanden haben muss. Er ist genau die Art von Kunde, die Joseph Dorak und sein Schlag gerne kultivieren: Er schert sich eindeutig gar nichts um die Artefakte an sich, nur um das Prestige, das sie ihm bringen, besonders das drakoneische Material. Wenn ich allein an die Flachreliefs denke – Schätze, die von ihren ursprünglichen Heimen abgemeißelt wurden, um die Mauern jenes Klotzes zu dekorieren, den er einen Landsitz seiner Vorfahren nennt, und die wahrscheinlich an unsere Küsten geschmuggelt wurden –, ich sage es dir, dann könnte ich weinen. Die akhische Regierung hätte ihm nie die Erlaubnis gegeben, den Qajr abzusuchen, wenn sie die geringste Ahnung gehabt hätte, dass er dort irgendetwas Wertvolles finden würde. Jetzt besitzt er das, was die Zeitungen beharrlich »den größten archäologischen Fund seit dem Herz der Wächter« nennen (pah – ich würde wetten, dass er diese Berichterstattung selbst bezahlt hat), und es gibt nichts, was irgendjemand dagegen tun kann.

Ich kann mich nicht entscheiden, ob es besser oder schlimmer wäre, wenn er überhaupt irgendein Talent für Sprachen hätte. Solches Wissen würde ihm noch größere Hochachtung für das schenken, was er gefunden hat. Auf der anderen Seite würde er sich wahrscheinlich dazu entschließen, die Inschriften selbst zu erforschen, und es zweifellos vergeigen, denn er besitzt nicht die Geduld, um es gut zu machen. So wie es aussieht, bewacht Lord Gleinleigh seinen Fund so eifersüchtig, dass ich stundenlang mit ihm diskutieren musste, ehe er mich überhaupt das Ganze sehen lassen wollte statt einiger verstreuter Tafeln – unbenommen der Tatsache, dass man keinesfalls von mir erwarten kann, eine gut informierte Beurteilung des Materials abzugeben, wenn ich keine Informationen habe, nach denen ich urteilen kann.

Aber schließlich habe ich ihn überzeugt, und so kommt hier der langen Rede kurzer Sinn:

Der Hort besteht aus zweihunderteinundsiebzig Tafeln oder deren Fragmenten. Einige von diesen Fragmenten gehören wahrscheinlich zusammen. Es gibt zumindest drei Paare, bei denen ich mir sicher bin, aber deutlich mehr, die weiterer Untersuchungen bedürfen. Wenn ich raten müsste, liegt die endgültige Zahl näher an zweihundertdreißig.

Ihr Zustand ist höchst unterschiedlich, obwohl unklar ist, wie viel davon an einer schlecht gemachten Konservierung liegt. So viel muss ich ihm zugestehen. Gleinleigh war zumindest vernünftig genug, sich sofort darum zu kümmern, also sollten wir hoffentlich keine weiteren Schäden durch Salz sehen. Aber einige Tafeln sind ziemlich verwittert (das waren sie schon, bevor sie vergraben wurden, kann ich mir vorstellen), und manche sind an der Oberfläche stark abgebröckelt, was, wie ich befürchte, eine Entzifferung jener Abschnitte schwierig, wenn nicht unmöglich machen wird.

Was die Themen betrifft, gibt es eine ganze Reihe, und ich hatte nicht genug Zeit, um mir mehr als einen kurzen Überblick zu verschaffen. Einige Listen von Königinnen, manche, die in Kalkstein geritzt sind und wie königliche Dekrete aussehen, ziemlich viele, die wie völlig prosaische Steuerlisten erscheinen. (Manchmal glaube ich, dass die literarische Produktion der drakoneischen Zivilisation zu fünfzig Prozent, wenn nicht mehr, aus Steuerlisten besteht.)

Aber was den Rest angeht … Ja, die Gerüchte sind wahr, oder zumindest denke ich das. Vierzehn der Tafeln sind auf die gleiche Größe und Dicke behauen, und wie es aussieht, war die Hand desselben Schreibers bei ihnen an der Arbeit. Sie scheinen einen fortgesetzten Text zu bilden, der auffällig archaischen Eigenschaften der Sprache nach zu urteilen – sie ist mit obsoleten Zeichen durchzogen, die es zu einer ziemlichen Herausforderung machen, irgendetwas zu entziffern. Das Wenige, was ich auf den ersten Blick erkennen konnte, ist anscheinend eine Erzählung. Ob Lord Gleinleigh damit recht hat, es die »verlorene Geschichte der drakoneischen Zivilisation« zu nennen, kann ich ohne weitere Untersuchungen nicht sagen, aber es ist fraglos ein atemberaubender Fund.

Und bei einem solchen Mann völlig verschwendet.

Allerdings gibt es Hoffnung! Angesichts dessen, wie widerwillig Gleinleigh war, mich die Tafeln sehen zu lassen, dachte ich, ich müsste Monate damit verbringen, ihn zu überreden, sie übersetzen und veröffentlichen zu lassen. Aber offenbar ist ihm bewusst, dass sich in fünf Jahren niemand mehr darum scheren wird, was er gefunden hat, außer man weiß, was da steht, denn er schlug vor, sie zu übersetzen, bevor ich dies überhaupt ansprechen konnte. Noch dazu habe ich ihn überzeugt, dass die Würde seines uralten Namens verlangt, dass man diesen Tafeln die größtmögliche Sorgfalt und Aufmerksamkeit widmet. Deine Gedanken schweifen schon in eine bestimmte Richtung, da bin ich sicher, aber ich möchte dich überraschen, indem ich dich zwei Generationen weiter lenke: Ich denke, wir sollten Audrey Camherst rekrutieren.

Meiner Meinung nach ist sie, was Kenntnisse in der drakoneischen Sprache angeht, ihrem Großvater locker ebenbürtig. Darüber hinaus hat sie den Vorteil ihres Geschlechts. Du hast selbst gesagt, dass Lord Gleinleigh jeden Mann, der in seine Nähe kommt, entweder als Untertan oder Bedrohung für sein eigenes Prestige betrachtet, was uns zu dieser Gelegenheit beides nicht gut dienen würde. Miss Camherst wird ihn, weil sie eine Frau ist, nicht zu solchen Überlegenheitsdarstellungen provozieren. Und wenn er doch versucht, mit seiner Bedeutung aufzutrumpfen – tja, Audrey kann den Namen ihrer Großmutter als Waffe und Schild gleichsam führen. Dadurch, dass die Aufmerksamkeit ihrer Familie sich derzeit darauf konzentriert, den Kongress in Falchester nächsten Winter vorzubereiten, bezweifle ich, dass ihr Großvater die Zeit und Sorgfalt aufbringen könnte, die diese Aufgabe verlangt, aber Audrey würde die Chance ergreifen.

Ich habe sie noch nicht bei Lord Gleinleigh empfohlen, weil ich denke, dass die Dame eine gewisse Warnung verdient, bevor ich ihn an ihrer Türschwelle auftauchen lasse. Aber wenn du kein starkes Gegenargument hast, habe ich vor, ihr so bald wie möglich zu schreiben. Die Welt lechzt danach zu sehen, was jene Tafeln zu sagen haben, und wir sollten sie nicht warten lassen.

Dein Freund

Simeon

Aus dem Tagebuch von Audrey Camherst


4. Pluvis

Bin heute auf Lord Gleinleighs Landsitz angekommen, in einem sintflutartigen Platzregen, der mich im kurzen Intervall zwischen Motorwagen und Tür in einen begossenen Pudel verwandelt hat. Wäre nicht passiert, wenn sein Diener den gesunden Menschenverstand besäße, einen Regenschirm im Wagen zu haben. Schlechter Service? Oder Berechnung von Lord Gleinleighs Seite? Ich weiß, dass Simeon nicht glaubt, dass der Graf es für nötig halten wird, sich vor mir aufzuplustern, weil ich kein Mann bin, aber überzeugt bin ich nicht. Mein Eindruck, der zugegeben bisher auf einer kurzen Bekanntschaft basiert, ist, dass er überaus erfreut ist, dass die Enkelin von Lady Trent höchstpersönlich diesen ganzen Weg gekommen ist, um sich seine Tafeln anzusehen – aber nach dem, was Alan laut Simeon gesagt hat, kann ich mich nur fragen, ob er befürchtet, dass die Geschichten bald alle von mir statt von ihm handeln werden. Mich patschnass werden zu lassen, ist vielleicht seine Art, mich in die Schranken zu weisen.

Wenn in die Schranken gewiesen zu werden der Eintrittspreis ist, um die Tafeln zu sehen, werde ich ihn bezahlen. Nach dem, was ich über ihn höre, ist es Lord Gleinleighs übliche Gewohnheit, über seinen Fund zu wachen wie eine Drachenmutter, die ihre Eier ausbrütet. (Warum benutzen wir immer noch diese Analogie, obwohl Großmama klargestellt hat, dass die meisten von ihnen nicht brüten?) Es ist ein echtes Wunder, dass er begierig darauf ist, seinen neuen Fund veröffentlicht zu sehen, und ich kann nicht ganz darauf vertrauen, dass er es sich nicht anders überlegen wird. Falls er das tut … Tja, ich bin mir nicht zu fein dafür, Kopien meiner Papiere hinauszuschmuggeln und auf die Konsequenzen zu pfeifen. Papa wird mich schon rausboxen, da bin ich mir sicher. Dann kann ich für die Presse ganz tragisch und fest entschlossen aussehen, was sie mir aus der Hand fressen werden.

Lord Gleinleigh war schockiert, als er mich gesehen hat, und ich glaube nicht, dass es daran lag, wie durchnässt ich war. Die Leute neigen dazu, zu vergessen, wer meine Mutter ist, obwohl alles über unsere Familie Schlagzeilen macht. Sie erwarten, dass ich wie eine Scirländerin aussehe, und sind immer überrascht, wenn ich das nicht tue.

Aber er hatte sich schnell wieder im Griff, so viel gestehe ich ihm zu. »Miss Camherst«, sagte er mit der angemessenen Höflichkeit. »Willkommen auf Stokesley. Es tut mir leid, dass Ihre Reise so erschöpfend war.«

»Da draußen ist es wie im Monsun«, sagte ich, während ich stetig auf seinen Marmorboden triefte. »Aber das ist in Ordnung. Ich wäre die ganze Strecke hierher geschwommen, wenn das nötig gewesen wäre. Wann kann ich anfangen?«

Das schockierte ihn erneut. »Mit den … Mein liebes Fräulein, Sie sind gerade erst angekommen! Ich würde nicht davon träumen, Sie so bald an die Arbeit zu schicken.«

Es geht mir immer gegen den Strich, wenn mich jemand »Fräulein« nennt. Ich bin dreiundzwanzig und eine erwachsene Frau. Aber wahrscheinlich bleibe ich in aller Augen ein Fräulein, bis ich grauhaarig oder verheiratet bin. »Sie schicken mich nicht an die Arbeit«, sagte ich. »Das mache ich selbst. Wirklich, ich kann es nicht erwarten, die Tafeln zu sehen. Geben Sie mir nur ein Handtuch, um mich abzutrocknen …«

Natürlich verschwendete ich meinen Atem. Zuerst musste man mir mein Zimmer zeigen. Dann bestand Lord Gleinleighs Hausmädchen darauf, ein Bad einzulassen, und sagte, dass ich bis auf die Knochen ausgekühlt sein müsse. Was ich tatsächlich war, aber es störte mich nicht. Ich trocknete mich ab und warf dann zufällig einen Blick in einen Spiegel und stellte fest, dass mein Haar in alle Richtungen stand, wie es das bei feuchtem Wetter tut. Das Hausmädchen wollte das für mich in Ordnung bringen, aber es war offensichtlich, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, wie sie meine Mähne zähmen sollte. Ich steckte sie selbst hoch, zog trockene Kleidung an und marschierte wieder hinaus, auf der Suche nach meinem Gastgeber und dem Zweck meiner Anwesenheit.

Nur dass er mich natürlich erst durch die Familienbehausung führen musste, bloß damit er mit seiner Sammlung prahlen konnte. Der Mann hat keinen Geschmack! Und auch überhaupt keinen Sinn für Ordnung. Er hat nichäische Friese um Fresken aus Coyahuaca gestopft und eine monströse Riesenvase aus Yelang davorgestellt, sodass man kaum sehen kann, was dahinter ist. Und die drakoneischen Antiquitäten … Ich glaube nicht, dass er weiß oder sich darum schert, dass er Wandmalereien aus Schlüpfkammern hat, die auf eine Weise eine Gedenkstele überragen, die das antike Volk entsetzt hätte. Aber Simeon hat mich gewarnt, also habe ich wie erwartet »Ohhh« und »Ahhh« gemacht und nur das Gesicht verzogen, wenn er mir den Rücken zudrehte.

Schließlich kamen wir zum Geschäftlichen. Lord Gleinleigh sagte: »Ich sollte Ihnen erklären, Miss Camherst, dass ich einige Bedingungen für diese Unternehmung habe. Wenn diese für Sie akzeptabel sind, dann dürfen Sie morgen mit der Arbeit anfangen.«

Kein Wunder, dass er mir die Tafeln noch nicht gezeigt hatte. Wohlgemerkt, er hätte den Anstand besitzen können, mich über diese »Bedingungen« zu informieren, bevor ich den ganzen Weg hier heraus gekommen bin … aber Lord Gleinleigh ist kein völliger Idiot. Er wusste, dass es viel schwieriger würde, mich zu weigern, wenn ich im gleichen Gebäude wie die Tafeln wäre, nur durch wenige dünne Mauern von diesen getrennt. »Ich würde mich freuen, Ihre Bedingungen zu hören«, sagte ich so höflich zu ihm, wie ich konnte.

 

»Sie sind nicht belastend«, versprach er mir. »Die Erste ist, dass ich verlange, dass Sie hier arbeiten, statt die Tafeln anderswo hinzubringen. Ich werde als Teil Ihrer Entlohnung natürlich ein Zimmer und Verpflegung stellen, so lange Sie brauchen, und Arrangements treffen, dass Ihre Besitztümer hierhergebracht werden.«

Auf Stokesley wohnen! Ich hätte nicht überrascht sein sollen. Das ist völlig vernünftig, wenn man Material aus irgendeiner Privatsammlung erforscht. Aber nach dem, was Simeon gesagt hat, wird das hier keine schnelle Arbeit. Ich werde monatelang hier sein.

Ich konnte jedoch kaum diskutieren. »Völlig in Ordnung. Ich glaube nicht, dass ich viel brauche. Ich bin es gewohnt, auf Schiffen zu leben, wo all meine Besitztümer in eine einzige Truhe gestopft werden und ein Großteil davon Bücher sind.«

Er nickte auf eine Art, die klarstellte, dass er an meinem persönlichen Leben überhaupt nicht interessiert war. »Die Zweite ist, dass ich nicht möchte, dass irgendetwas über den Inhalt der Tafeln durchsickert, bis ich bereit bin, sie in ihrer Gesamtheit zu präsentieren. Wenn man ihnen kleine Stücke gibt, werden die Leute spekulieren und alle möglichen Theorien entwickeln. Mir wäre lieber, dass sie den ganzen Text auf einmal bekommen.«

Tagebuch, ich habe vor Frust beinahe gekreischt! Natürlich will er eine grandiose Enthüllung des Gesamttexts veranstalten – und um ehrlich zu sein, kann ich es ihm nicht ganz verdenken. Es wird viel aufregender, wenn die Leute alles gleichzeitig lesen können, selbst wenn es üblicher wäre, Teile zu veröffentlichen, während ich arbeite. Aber in Anbetracht der Länge des Haupttexts bedeutet das, dass ich Ewigkeiten warten muss, bevor ich ihn mit der Welt teilen kann!

Dann durchdachte ich, was er gesagt hatte. »Wenn Sie ›durchsickern‹ sagen …«

»Ich meine, dass Ihnen nicht erlaubt wird, Informationen darüber mit irgendjemandem zu teilen. Nicht, bis Sie fertig sind. Ich fürchte, ich muss auf Sicherheitsmaßnahmen bestehen, Miss Camherst – ich bin überzeugt, Sie verstehen das.«

Oh ja, ich verstehe. Er ist ein gieriger alter Wurm, so viel ist klar, und er hat nicht die geringste Ahnung, wie solche Dinge funktionieren. »Aber was, wenn ich Schwierigkeiten bekomme? Es ist übliche Praxis, während der Arbeit andere Forscher zu konsultieren.«

Er tat überrascht. »Man hat mir zu verstehen gegeben, Miss Camherst, dass Sie einer der hellsten Köpfe auf Ihrem Gebiet sind. Ihr Großvater war ein Pionier in der Entzifferung der Sprache, und Ihre Großmutter – nun, ihr Ruf ist auf der ganzen Welt bekannt. Dr. Cavall vom Tomphries hat mir erzählt, dass Sie angefangen haben, die drakoneische Schrift zu studieren, als Sie sechs waren. Aber wenn Sie andere konsultieren müssen, dann sollte ich vielleicht stattdessen an einen von diesen herantreten.«

Mir wurde ganz heiß. »Was ich meine, ist – antike Texte sind oft sehr unklar. Ich muss vielleicht das, was Sie haben, mit unterschiedlichen Tafeln vergleichen, die im Tomphries oder in privater Hand sind.« Da ist nur einer der Gründe, aber es war der Einzige, der mir einfiel, den er nicht als Eingeständnis von Inkompetenz aufgefasst hätte.

Er sagte: »Sicherlich können Sie das tun, ohne verraten zu müssen, was Sie selbst erfahren haben.«

Das kann ich. Es wird nur fürchterlich lästig. Und doch … Die Alternative ist es, überhaupt nicht an diesen Tafeln zu arbeiten. Er weiß sehr gut, wie sehr sie mich in Versuchung führen und wie sehr er meinen Stolz angestachelt hat.

Also habe ich eingewilligt. Natürlich habe ich eingewilligt. Wie hätte ich etwas anderes tun können?

»Ausgezeichnet!«, rief er so erleichtert, dass ich glaube, er war wohl ernsthaft besorgt, dass ich mich weigern würde. »Dann können Sie gleich morgen früh mit der Arbeit anfangen. Ich habe sogar eine Assistentin für Sie organisiert.«

Die Scheinheiligkeit dieses Mannes! Erst muss ich alles geheim halten. Dann drängt er mir irgendeine Fremde auf und sagt gar nichts dazu, außer dass ich sie morgen kennenlernen werde. Und bevor ich ihm erklären konnte, was ich davon hielt, fragte er mich, wie bald ich meiner Meinung nach fertig sein könnte.

Mein erster Instinkt war es, ihm ins Gesicht zu lachen. Wie kann ich so etwas voraussagen, ohne zuerst den Text anzuschauen? Aber ich besitze eine gewisse Selbstbeherrschung, egal was Simeon sagt. Und ich habe Simeons Bericht über die Größe der Tafeln, wie dicht sie beschrieben sind, und ihre archaische Schrift, was reicht, um zumindest eine grobe Schätzung abzugeben. »Sehr viel wird davon abhängen, wie obskur der Text ist, verstehen Sie. Aber ich würde schätzen, wahrscheinlich zwei Tafeln pro Monat.«

»Wunderbar«, sagte Lord Gleinleigh und klatschte sich aufs Knie. »Das passt ganz gut, Miss Camherst.«

Er war tatsächlich so zufrieden, dass ich ihn misstrauisch ansah. »Ich sollte etwas klarstellen. Zwei Tafeln pro Monat, wenn es gut läuft, was es vielleicht nicht tut. Und das ist nur für einen ersten Entwurf – etwas, das einen klaren Eindruck von der Bedeutung des Texts gibt. Ihn zu polieren und sicherzustellen, dass meine Übersetzung so akkurat ist, wie ich es erreichen kann, wird wesentlich länger dauern.«

Lord Gleinleigh winkte bei meinem Kommentar ab. »Natürlich – ich bin sicher, dass man in Zukunft weitere Forschung brauchen wird –, aber das Wichtige ist zu wissen, was da steht, ja? Die Feinheiten können warten. Könnten Sie wohl, sagen wir, nächsten Gelis zur Veröffentlichung bereit sein?«

In zehn Monaten. Wenn er nur die einfache Arithmetik von sieben Monaten für vierzehn Tafeln berechnet hätte, hätte er Fructis gesagt. Wenn er allgemein gesprochen hätte, hätte er ein Jahr oder so gesagt. Gelis ist sowohl zufällig als auch spezifisch.

Und ich konnte mir denken, warum.

Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn ich es nicht gesagt hätte. Aber ich rechnete im Kopf, und als ich zu meiner Schlussfolgerung kam, platzte sie mir direkt aus dem Mund. »Sie meinen vor dem Kongress in Falchester.«

Wirklich, ich hätte es kommen sehen sollen. Warum sonst wäre er so begierig, diese Tafeln von jemandem übersetzen zu lassen, wenn er seine Sammlungen bis jetzt verborgen hat, sodass nur er selbst und seine Freunde sie genießen können? Weil der Kongress nächsten Winter stattfindet. Alle werden dann über die Drakoneer nachdenken, weil deren Delegation hierherkommt und die Zukunft des Refugiums zur internationalen Debatte steht. Die Übersetzung wird wahrscheinlich schneller aus den Regalen gegriffen sein, als man sie hineinstellen kann.

Er hustete delikat. »Das wäre praktisch, ja.«

Ganz zu schweigen von profitabel. Bei der Art, wie er Geld für Antiquitäten ausgibt, würde man annehmen, dass er im Reichtum schwimmen muss, aber wie ich höre, haben heutzutage viele Hochadlige Schwierigkeiten, ihre Anwesen zu unterhalten. Vielleicht hat er sich verschuldet. Oder vielleicht will er einfach nur mehr Geld, um damit mehr Antiquitäten zu kaufen. So oder so, das wird er tun können, wenn diese Übersetzung rechtzeitig herauskommt – um nicht zu erwähnen, dass er berühmt sein wird.

Und ich auch.

Das sollte nicht das Erste sein, was mir durch den Kopf geht. Ich sollte mir mit diesem Text Zeit nehmen und sicherstellen, dass er erst veröffentlicht wird, wenn ich absolut überzeugt bin, dass ich das Beste abgeliefert habe, zu dem ich fähig bin – selbst wenn das bedeutet, dass er erst herauskommt, wenn ich vierzig bin. Ruhm bedeutet gar nichts, wenn die Leute später sagen: »Ach, Audrey Camherst? Meinst du diejenige, die vor einigen Jahren diesen traurigen kleinen Versuch einer Übersetzung geschrieben hat?«

Aber es ist so schwierig, wenn ich spüren kann, wie mich alle anschauen und darauf warten zu sehen, was ich tun werde. Nicht meine Familie natürlich. Wenn ich beschließen würde, mich in ein Häuschen auf dem Land zurückzuziehen und mein Leben damit zu verbringen, Rosen zu züchten – nicht einmal prämierte Rosen; mittelmäßige, von Blattläusen zerfressene –, würden sie mich umarmen und mir alles Gute wünschen. Es ist der Rest der Welt, der von mir erwartet, etwas Spektakuläres zu vollbringen, weil Papa das getan hat, und Mama, und Großpapa, und besonders Großmama. Wann werde ich mein Recht beweisen, neben ihnen zu stehen?

Ich muss überhaupt nichts beweisen.

Außer für mich selbst.

Und ich weiß, dass ich das hier schaffen kann. Wenn es bedeutet, lange Stunden zu arbeiten, um es rechtzeitig fertigzubringen … Tja, genau dafür gibt es Kaffee.

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