Die Gentlemen-Räuber

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Aus der Reihe: Lindemanns #356
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Als Wiebke aufblickte, hatte Stabhäuser demonstrativ die Arme verschränkt. Sie interpretierte es als Warnung: Bis hierher und nicht weiter. Instinktiv steuerte sie um und dachte: Lass ihn was erzählen, gib ihm die Oberhand. Frag ihn, wie er das Täterpaar nach Stand der Ermittlungen charakterisieren würde. Vielleicht hatten sie ja einen Profiler hinzugezogen.

Darauf ging Stabhäuser ein: „Wenn man das Puzzle unserer Ermittlungsarbeit betrachtet, verdichten sich viele Teilchen zu einem Indiz. Danach vermuten wir, dass unsere Täter unter Umständen gar nicht von der Beute leben und deshalb auch nicht im kleinkriminellen Milieu zu suchen sind.“

„Nicht von der Beute leben? Wie ist das zu verstehen?“

Stabhäuser nahm seine Brille ab und legte sie auf den Aktenordner. Er sah Wiebke bedeutungsvoll an. „Ganz einfach, Frau Wolant: Wenn Sie 1,9 Millionen durch 15 Jahre teilen, dann kommen sie auf ein Jahreseinkommen von etwa 126.000. Für ein Familieneinkommen ist das wahrlich nicht schlecht. Je nach Anspruch aber auch nicht zu üppig. Wenn Sie einen gehobenen Lebensstil pflegen, zu dem ein schönes Haus, schicke Autos, gutes Essen und mehrere Urlaubsreisen im Jahr gehören – die Täter sind wohlbemerkt immer braungebrannt –, dann ist das sehr am Anschlag. Das schreiben Sie aber bitte nicht, das ist nur unter der Hand.“

Warum hat er dann nicht einfach die Klappe gehalten?, regte sich Wiebke auf. Unter den Tisch fallenlassen kam gar nicht in Frage. „Dann müssen wir zu einer Sprachregelung finden“, forderte sie. „Geben Sie mir bitte ein zitierfähiges Profil.“

Stabhäuser stierte zur Decke und feilte allem Anschein nach an einer passenden Formulierung. Er klopfte auf den Tisch. „Sagen wir mal so: Die Profile der beiden passen eher auf gutbürgerliche, sozial angepasste Personen, vielleicht sogar selbstständige Leute, die netten Nachbarn von nebenan.“

Da das Gespräch nun in ruhigen Fahrwassern verlief, richtete Wiebke ihr Interesse auf Fahndungshinweise aus der Bevölkerung. Über die Jahre war eine Fülle aufgezeichneter Bilder der Banküberfälle veröffentlicht worden. Zunächst bestätigte Stabhäuser, dass es darauf jede Menge Hinweise gegeben habe.

„Und tatsächlich keine heiße Spur darunter?“

Das Donnerwetter kam aus heiterem Himmel. „Ja, schauen Sie sich das Fotomaterial doch mal an!“, dröhnte er. Wie Sie sehen, sehen Sie – genau: Nichts! Die sind grottenschlecht, eigentlich skandalös. Miese Auflösung und in einem unvorteilhaften Winkel aufgenommen. Diese Videoaufzeichnungen beeindrucken die Täter nicht im Geringsten. Die schlendern da ganz entspannt in die Bank hinein! Nicht maskiert, nur lapidar mit Perücke, Brille, Mütze. Mittlerweile richten sie nicht einmal mehr ihre Waffen auf die Bankangestellten, sondern zeigen sie nur noch am Hosenbund vor. Ich sage Ihnen: die Banken sparen am falschen Ende.“ Der Wutausbruch Stabhäusers war die denkbar ungünstigste Ausgangssituation für einige Fragen, die noch offen waren. Beispielsweise jene nach verwertbaren DNA-Spuren. Die Täter klauten doch bei fast jedem Überfall ein Mitarbeiterfahrzeug zur Flucht und ließen es ein kurzes Stück später stehen. Diesen Aspekt schenkte sie sich, jedoch auf keinen Fall die Frage nach konkreten Verdächtigen.

„Kein Kommentar.“

„Wurden Ihre Ermittlungen durch richterliche Beschlüsse unterstützt?“

„Selbstverständlich.“

Wiebke erkannte an seinem erschrockenen Blick, dass es ihm herausgerutscht war. Es gab also Verdächtige. Noch während sie Verdächtige! Richterliche Beschlüsse, TK-Überwachung, Durchsuchung? in ihren Block notierte, hörte sie Stuhlbeine übers Parkett kratzen. Stabhäuser hatte sich in Lebensgröße vor ihr aufgebaut und murmelte fast unverständlich: „Tja, ich muss jetzt wieder, ich hab noch zu tun. War nett, Sie kennengelernt zu haben, Frau Wolant. Ach, und ...“, Stabhäuser zögerte, „... das, was ich über die Banken gesagt habe, streichen Sie am besten.“

Steht Deutschlands längste Bankraubserie vor Aufklärung? Bereits auf dem kurzen Fußweg bis zum Hochhaus feilte sie an einer Schlagzeile. An einer rotgeschalteten Fußgängerampel rief sie Schroeder an.

„Her damit, alle Fotos und 120 Zeilen Text. Um 18 Uhr ist Redaktionsschluss. Wird der Aufmacher“, lautete seine knappe Durchsage.

Verkrampft wie eine Anfängerin saß sie nun vor ihrem Laptop am runden Esstisch. Ihre Ellenbogen bohrten sich ins Pinienholz. Sie knetete die Finger, faltete die Hände, drückte sie gegen die Nase, runzelte die hohe Stirn, starrte Löcher in die Wand.

Das weiße Worddokument auf dem Bildschirm strahlte jungfräulich, der Cursor blinkte erwartungsvoll. Sie suchte nach einem passenden Einstieg in ihre Story. Die Zeitanzeige auf ihrem Computer lief gnadenlos weiter. 13:08, 13:09, 13:10 ...

In der ungeklärten Raubserie der sogenannten Gentlemen-Räuber hegt die Polizei ... Wiebke markierte den Text, mit einem Tastendruck war er auch schon wieder gelöscht.

13:28, 13:29, 13:30 ...

In der ungeklärten Gentlemen-Bankraubserie gibt es offenbar eine heiße Spur. Wie der Leiter der Karlsruher Ermittlungsgruppe, Kriminalhauptkommissar Erol Stabhäuser, gegenüber unserer Zeitung bestätigte, bestehe konkreter Anfangsverdacht ...

Sie tippte, löschte, sichtete ihre Notizen, wühlte in den wild verstreuten Archivkopien, tippte aufs Neue.

17:38, 17:39. Schnell! Noch einen guten Schluss, befeuerte sie sich. ...

Die Belohnung für sachdienliche Hinweise wurde zwischenzeitlich auf 50.000 Euro erhöht.

Wiebke klickte Speichern und Schließen.

Wo war die CD? Hektisch wühlte sie in ihrem Wildlederbeutel und schob den blanken Datenträger ins Laufwerk. Schmittke hatte ihr eine Auswahl von vier Täterfotos und sechs Phantombildern in Druckqualität auf die Scheibe kopiert. Schroeder wollte alles.

Flugs schrieb sie einen kurzen Begleittext in die E-Mail, hängte ihren Text an und lud das Bildmaterial hoch. Und: Senden.

17:55. Mit dem letzten Klick fühlte sie sich, als habe sie eine Schlacht gewonnen.

Sie erhob sich mit steifen Beinen, drückte ihre Wirbelsäule durch. Irgendwie fühlte sie sich ausgelaugt. Es gelüstete sie nach Kaffee und einer Zigarette. Der italienische Espressokocher stand noch ungereinigt auf dem Herd der aufgeräumten Küche. Da erklang Big Ben, der Klingelton ihres Handys.

Wiebke sprang zum Tisch. „Ja, hallo!“, rief sie ins Handy.

„Wolant, wo bleiben Sie denn?“ Schroeder.

„Es ist alles raus“, versicherte sie entspannt.

„Bei uns ist nichts eingegangen.“

„Ich schau mal auf den Rechner.“ Wiebke prüfte den Postausgang. „Irgendetwas stimmt nicht mit der Internetverbindung! Mein Rechner sendet immer noch“, murmelte sie verwundert.

„Bringen Sie das schleunigst in Ordnung“, drängte Schroeder mit wenig sonorer Stimme.

Wie die Schlange aufs Kaninchen starrte Wiebke auf die Übermittlungskontrolle. Endlos sauste der Leuchtstreifen über das Prüffeld. Stumm schritt die Minutenanzeige der Computeruhr fort. 18:08. Nichts tat sich.

Die Zeit drängte. Sollte sie vielleicht alles auf einen USB-Stick ziehen und schnell zu Fuß zum Verlag bringen? Nein, wie blamabel.

Unbemerkt war der Leuchtstreifen am unteren Rand der Maske verschwunden. Verkrampft betätigte sie die Maus, klickte auf das Ausgangsfach. Tatsächlich: Gesendet.

Big Ben.

„Mensch, Wolant!“, grollte Schroeder am anderen Ende.

„Was machen Sie eigentlich, Sie verstopfen uns ja den kompletten Eingang!“

„Wie, ich verstopfe den Eingang?“

„Wie viele Megabyte haben Sie uns denn geschickt?“, wollte Schroeder ungehalten wissen.

„Keine Ahnung“, gestand Wiebke kleinlaut.

„Ja, das ist mir klar. Dann merken Sie sich für die Zukunft: Fotos mit hoher Auflösung stückeln, stückeln, stückeln!“ Schroeders Worte klangen dramatisch. Anstelle eines Grußes setzte er ein scharfes: „Mensch!“

Butch Cassidy: „Was ist aus der alten Bank geworden?

Die war doch sehr schön.“

Wachmann: „Die wurde dauernd überfallen.“

Butch Cassidy: „Die sah aber auch viel einladender aus.“

Butch Cassidy

(zu einem Wachmann über die neuen Sperrgitter einer Bank)

Südböhmen, 22. Juli 2010

Butch sah hinüber zu Radeks Haus, bevor er das Garagentor sachte von innen zuzog. Insgeheim hoffte er, dass niemand ihn hinter den Fenstern beobachtete. Aus dem Hintergrund ertönte bereits Terezas Freudengebell. Eilig räumten sie den Kofferraum leer. Lenka erwartete sie im Haus, braungebrannt. Butch fiel es sofort auf und er spähte durch die offene Tür aufs Solarium. Natürlich hatte sie den Himmel wieder nicht geschlossen. Es ärgerte ihn. Während sich die Freundinnen in die Arme fielen, stellte Butch den Rucksack schnell in die Kammer unters Terrarium. Peter, der Leguan, schien wohlauf. Unauffällig zog er die Tür hinter sich zu und gesellte sich zu den Frauen. Tereza tanzte wild um seine Beine. Sie ahnte, dass er gleich mit ihr zu einem Spaziergang aufbrechen würde. Er tat es nach jeder Rückkehr von einer Reise.

Die schwarze Wolkenwand war nur noch in der Ferne zu sehen. Kurz vor ihrer Ankunft musste der Schauer niedergegangen sein. Butch folgte Tereza ziellos über die Wiesen. Unzählige Regentropfen überzogen das Grün wie ein glitzerndes Diamantgeschmeide. Seine Gummistiefel quietschten leise auf dem nassen Grund. Übermütig hüpfte die Hündin über hohe Grashalme, grub da und dort ein Loch oder beschnupperte Wiesenblumen. Die grelle Abendsonne verlieh ihrem glänzenden Fell einen rötlichen Schimmer. Ab und zu blieb Butch stehen und sog die klare Luft und den Duft des nassen Grases ein. Er schaute zum Himmel, zählte die Kondensstreifen, die dort ein weißes Gittermuster auf blau-rötlichem Grund gezogen hatten, und brach in schallendes Gelächter aus. Tereza sah irritiert zu ihm auf. Zu komisch, dass er gerade jetzt Danas Gesichtsausdruck vor sich sah, als sie bemerkt hatte, dass er ihre Flucht ganz nebenbei für eine Stippvisite zu Hennings Haus nutzte. Voller Panik hatte sie ihn angeschrien, ob er wahnsinnig geworden sei, denn über ihnen kreiste ein Polizeihubschrauber. Vermutlich war er das gewesen, aber wie hätte er ihr erklären sollen, was es für ihn bedeutete, durch diese Karlsruher Siedlung zu fahren und einen Blick auf das Haus mit den roten Fensterläden zu erhaschen.

 

Es war falsch. Er hätte nicht an Hennings Haus vorbeifahren dürfen.

Nicht Danas wegen, nicht des Hubschraubers wegen. Die Wunde war wieder aufgerissen und legte die ganze Sehnsucht nach dem alten Freund frei. Henning und er in der Schule. Henning und er beim Dosenschießen. Henning und er in Schweden. Tausend Bilder schossen ihm durch den Kopf. Henning und er beim Schachspiel am Kaffeehaustisch. Und Hennings Marotte, selbst kürzeste Spielpausen zu nutzen, um irgendeinen der Köpfe um sie herum mit schnellen Strichen auf einen Bierdeckel zu skizzieren. Vielleicht hatte er deshalb damals nahezu jede Partie verloren. Butch überlegte, wo im Haus er sein eigenes Konterfei auf dem Bierfilz einer badischen Brauerei verwahrt hatte. Wie eine Pinocchio ähnelnde Karikatur sah er darauf aus. Henning meinte damals, er habe eben einen Mordszinken im Gesicht.

Vor seiner rechten Stiefelspitze sprang eine Heuschrecke aus dem Gras. Blitzschnell stülpte Butch die Plastikdose, die er bei sich trug, über das Insekt. Unweigerlich musste er an Lenka denken, wie zimperlich sie doch war. Gleichwohl machte sie ihren Job gut und gewissenhaft – das zumindest musste er ihr lassen. Wahrscheinlich packten die Frauen gerade alle Prager Einkäufe aus und Lenka würde über ihr Geschenk, eine gelbe Handtasche, in hysterische Freude ausbrechen.

Ihm gingen sie auf die Nerven, die zwei Glucken. Er mochte diese Frauenthemen nicht, dieses Gehabe um Modemarken. Gute Qualität und Funktionalität genügten ihm. Doch dafür musste er nicht 20 Geschäfte aufsuchen. Meistens wurde er in einem Onlineshop fündig. Viele seiner Kleidungsstücke zierte ein eingesticktes Wüstentier. So hatte er sich auch dieses Mal erfolgreich um Danas Shoppingtouren gedrückt.

„Geh du einkaufen“, hatte er ihr gleich am ersten Morgen nach der Ankunft in ihrem Prager Stammhotel gesagt und dem Zimmerkellner 130 CZK Trinkgeld fürs Frühstück zugesteckt. Es entsprach fünf Euro und war für tschechische Verhältnisse großzügig. Der junge Hotelangestellte reagierte, wie Butch es erwartet hatte, indem er Dana nachmittags und an etlichen anderen Tagen die Einkaufstüten aufs Zimmer in den vierten Stock trug. Dana fühlte sich zugleich geschmeichelt und amüsiert.

Die Abendsonne war nahezu verschwunden, als er bei der alten Linde ankam. Unterm Baum war die Erde hell und trocken. Butch setzte sich an den dicken Stamm. Genüsslich rieb er sich den Rücken an der Rinde. Schmerz empfand er als wohltuend. Henning hatte das nie verstanden. Bei allen Gemeinsamkeiten unterschieden sie sich in diesem Punkt doch sehr. Henning hatte es einmal am Beispiel des Kampfsports, den sie damals beide ausgeübt hatten, auf den Punkt gebracht: „Du trainierst, weil du dir wehtun willst, ich dagegen übe mich in Selbstverteidigung.“ So war Henning. Er las in ihm wie in einem Buch.

Tereza kuschelte sich an seine Seite. Der Baum stand in voller Blüte und verströmte einen süßlichen Duft. Butch lauschte dem lauten Zirpen der Grillen. Einige Wildbienen waren noch auf Pollenflug. Alles war so friedlich.

Ihm schien dies der rechte Ort zu sein, um die Lage zu analysieren. Es gab neue Gegebenheiten, die er dringend überdenken musste. Irgendwie, so fand Butch, ähnelte alles dieser einen Westernszene. In ihr trifft Butch Cassidy zum ersten Mal auf eine vergitterte Bank und der Wachmann erklärt ihm, dass man sich jetzt gegen Bankräuber schützen müsse. Ihn selbst hatten sie nun mit der biometrischen Sicherung des Kassenraums kalt erwischt. Ein wenig gerührt dachte er an die ältere Bankangestellte, die ihm auch noch haarklein dessen Prinzip hatte erklären wollen, während er mit der Pistole vor ihr gestanden war. Zwar hatte sie im Holster gesteckt. Dennoch, er hatte sie ihr gezeigt.

„Des isch nemme so oifach, wie Sie sich des vorstelle.“

Trotz des Dialekts fand Butch ihre Art, ihn anzusprechen, ziemlich cool. Dann belehrte sie ihn über Mindestsperrzeiten an der Kasse, über Betragsgrenzen bei definiertem Kassenpersonal und dass für ihn der Zutritt in den Kassenraum und zum Geldschrank vollkommen unmöglich sei.

„In unsrer biometrischen Datebank, wo unsre Daumenabdrück gespeichert sind, gibt’s von Ihne koi Referenzdaten, des isch Ihne doch klar, oder?“ Die Alte war einmalig. Er musste schmunzeln.

Erst später wurde ihm die Bedeutung ihrer Worte klar: In dieser Konstellation waren nicht mehr als 40.000 Euro zu holen. Butch konnte sich an kein schlechteres Ergebnis erinnern. Die beiden Flops, bei denen sie mit leeren Händen getürmt waren, hatte er längst aus seinem Gedächtnis gestrichen.

Worauf hatten sie sich nun einzustellen? Bedeutete das neue Sicherheitssystem, dass sie in Zukunft nur noch kleine Brötchen buken? Wenn dem so wäre, rechnete sich Butch aus, wäre ihre Unternehmung nicht mehr effizient. Reichten dann zwei Touren pro Jahr überhaupt noch aus? Seine Berechnungen berücksichtigten Weg, Zeit und Risiko. Anders als vor 17, 18 Jahren. Damals lieferte er Arzneien an Apotheken bis in die entlegensten Käffer des Südwestens aus – ein für ihn wenig einträgliches Geschäft. Allerdings lernte er auf diese Weise auch den letzten Winkel seiner Heimat kennen. An seine heutigen, eigenen Touren legte er andere Maßstäbe an. Hoher Umsatz, ausgesuchte Objekte und, wenn es sein musste, mehrmals dieselben.

Weiter. Wie viele Filialen seines ausgeklügelten Netzes mochten mit der neuen Technologie bereits aufgerüstet worden sein? Zogen die beiden Bankhäuser, auf die sie sich konzentrierten, gleich? Um das herauszufinden, folgerte er, müssten sie das komplette Filialnetz, in dem sie agierten, auf die kleinen Hinweisschilder Biometrische Schutzsicherung überprüfen. Im Gegensatz zur Videoüberwachung erachtete er diese Innovation als echtes Handicap. Hier musste er sich eine verflucht gute Lösung einfallen lassen.

Er hakte diesen Punkt zunächst ab und wandte sich einer weiteren neuen Schwachstelle zu: seinen Prager Wettbüros, die auf einmal Probleme machten. Wie immer hatte er sie nach einer Deutschlandtour aufgesucht. Diesmal traute er seinen Ohren nicht, als Piotr, der Pole, den er als Ersten aufgesucht hatte, ihm eröffnete, Euros nicht mehr akzeptieren zu dürfen. Dabei war Piotr, wie all seine anderen Buchmacherfreunde, eine zuverlässige Seele. Niemals stellte er dumme Fragen und glaubte brav der Legende vom Wirt, der auch in Deutschland ein Lokal betrieb. Dafür, dass es sich demnach um Schwarzgeld handelte, das er über den Tresen der schmuddeligen Wett-Dependance schob, bedurfte es überhaupt keiner Worte. Wie dem auch sei, Butch hatte sich selbst selten so sprachlos erlebt.

„Wie bitte?“

„Ist so! Nur noch eigene Währung“, beteuerte Piotr. Die Ansage der Wettzentrale sei ganz frisch. Ob sie sich nur auf die Hauptstadt beziehe, könne er nicht mit Gewissheit sagen. Indirekt hieß das: Du kannst es noch auf dem Land probieren.

Nachdenklich zog er sich einen langen Grashalm durch die Zähne. Jetzt reagierte also auch die tschechische Republik auf Wettskandale und Geldwäsche im großen Stil und entzog ihm dadurch die beste Möglichkeit, toxisches Geld in sauberes einzutauschen. Natürlich war der Vorgang mit Schwund verbunden. Den Verlust, ausschließlich Wettverlust, nahm er in diesem Fall klaglos in Kauf.

Bei Václav dasselbe Spiel. Auch er bestand auf Kronen und entschuldigte sich bei ihm dafür. Branislav und Milan zogen zum Glück „noch einmal“, wie sie betonten, mit. Am Ende war er sein Geld nur bei drei Buchmachern anstandslos losgeworden. Ob sie hinterm Mond lebten oder ohnehin Geldwaschanlagen betrieben, wen interessierte das? Wozu hinterfragen? Aber: Was erwartete ihn in der Kreisstadt?

Bewusst vermied er es, zu diesem Zeitpunkt schon über Alternativen nachzudenken. Ihm war klar, sie führten unweigerlich zurück ins Milieu. „Never ever“, stieß er aus. Seitdem sie das Häuschen hatten, mied er die alten Kontakte in die Drogenszene und Bordelle wie der Teufel das Weihwasser. Damit wollte er nichts mehr zu schaffen haben. Sie führten ein unbescholtenes, bürgerliches Leben, genossen einen erstklassigen Ruf im Dorf. Never ever würde er es aufs Spiel setzen.

„Nur nichts überstürzen“, sagte er zu Tereza, gab ihr einen Klaps und trat den Heimweg an.

Die Dämmerung war weit fortgeschritten. Auf Radeks Hof brannte Licht.

Schon am Zaun vernahm er Danas Stimme durchs geöffnete Fenster. Sie lallte ein wenig. „ ... grüner Marmor vom Boden bis zur Decke, frische Blumen auf dem Waschtisch, schneeweiße Handtücher, superflauschige Bademäntel und Schläppchen, natürlich in unseren Größen. Die Klospülung roch nach Lavendel, du kannst es dir nicht vorstellen, Lenka, ein Traum von einem Bad!“

Was redete sie für einen Unsinn, wunderte sich Butch. Zuletzt hatten sie doch in ihrem Stammhotel in der Prager Neustadt logiert. Ein gutes Haus, solide, nicht luxuriös. Die zwei Nächte im Grand Hotel lagen über ein halbes Jahr zurück. Nie wieder, hatte er sich damals geschworen. Zweimal am Tag störte der Putzservice und ständig wurden sie vom Zimmerkellner behelligt. Sie ließen ihm kaum Ruhe für seine Geschäfte. Noch einmal wollte er solchen Pomp nicht mitmachen.

Das Haus hing voller Rauchschwaden, als er es betrat. Dana und Lenka saßen kichernd auf der Couch, die Sektflasche auf dem gekachelten Tisch war leer.

„Schaahatz, haben wir noch ein Fläschchen?“, strahlte Dana ihn an und schwenkte ihren leeren Kelch erwartungsfroh.

„Lass gut sein, Dana“, lehnte Butch ab, „ich denke, ihr solltet für heute Schluss machen.“ Ihm war nicht nach einem Dreiergelage zumute.

„Du Spielverderber!“, protestierte Dana. Schwankend stand sie auf.

Lenka indes wirkte vollkommen nüchtern und verstand sofort. Mit ruhiger Hand steckte sie das Feuerzeug in ihre Zigarettenschachtel und diese in ihre abgenutzte Handtasche. Andächtig verstaute sie ihr zitronengelbes Geschenk aus echtem Leder in einen silbern glänzenden Karton. Sie stand auf und umarmte Dana innig. „Darf ich mich noch von Petr verabschieden?“ Lenka sprach den Namen des Leguans in hartem Tschechisch aus. Pättr.

„Peter. Er heißt Peter“, belehrte Butch sie und dachte für sich: Peter wie Scholl-Latour. Wie hatte dieser doch gleich gesagt? Auf den Fidschi-Inseln leben die Frauen mit den größten Brüsten. Lenka diesen Zusammenhang zu erläutern, war der Mühe nicht wert. Sie hatte ja doch keine Ahnung. Er machte keine Anstalten, sie in die verschlossene Kammer zu lassen.

„Ich fahr dann mal. Wenn ihr mich braucht, meldet euch“, verabschiedete sich Lenka verunsichert. Zögernd küsste sie Butch auf die Wange, Dana warf sie einen Handkuss zu.

Butch eilte voraus, um ihr die Tür zu öffnen. Er begleitete sie noch bis zum Gatter. Kaum im Haus zurück, machte er seinem Ärger Luft: „Dana, kannst du deiner Freundin mal klarmachen, dass sie uns die Wohnung nicht jedesmal verpesten soll?“ Dabei goss er sich in der Küche einen Cognac ein.

Bevor er zu Dana hinüber ging, stellte er die Dose mit der frischen Grille aufs Fensterbrett.

„Schatz, sei doch nicht so streng mit ihr“, versuchte Dana zu beschwichtigen, während er es sich neben ihr gemütlich machte, die Beine auf den Couchtisch legte und das Glas in seiner Hand auf der Brust absetzte. Kindlich beschwipst legte Dana ihren Kopf auf seinen Schoß, zwirbelte an einer Haarsträhne und sah ihn glücklich an. Butch nahm einen tiefen Schluck. Mit der freien Hand strich er über ihren Busen.

Aneinandergeschmiegt waren sie morgens erwacht.

Wie sie es geschafft hatten, das Bett herzurichten, daran vermochte er sich nicht mehr zu erinnern. Gutgelaunt ging er mit einer Tasse Kaffee zum Computer. Die Gemeinderechnung lag noch da wie vor ihrer Abreise. Er überwies sie vor allen anderen Geldgeschäften, die zu erledigen waren. Sie bestanden darin, sämtliche Wettkonten, die er bei Onlineanbietern unterhielt – auch jene, die auf Danas Namen liefen –, mit frischem Geld aufzufüllen. Es gab keinen Grund mehr, seine Vorfreude auf die neue Fußballsaison zu unterdrücken. Sie startete im August. In Prag hatte er alle Vorbereitungen getroffen und reichlich Bargeld auf diverse Bankkonten eingezahlt, das er nun streuen konnte. Die letzte Transaktion war abgeschlossen. Es ging auf Mittag zu. Noch schnell einen Blick in die Onlinezeitung, dann würde er sich bei Radek zurückmelden.

 

Verflixt. Wann waren sie abgereist? An welchem Tag hatte er sie zuletzt gelesen? Er wollte keinen Tag überspringen. Butch versuchte, mithilfe der WM-Spiele die Tage zu rekonstruieren. Richtig, am 12. Juli hatte er das Blatt wohl zuletzt gelesen. Er las es nie komplett, sondern begnügte sich mit dem Sportteil und der Südwestseite, gewissermaßen aus beruflichem Interesse.

Die Ausgabe der Oberrheinischen Tageszeitung vom 13. Juli bot Butch nichts von Belang. Die Nachricht, wonach der abschussreife KSC-Trainer von seinen Spielern Rückendeckung bekommen hatte, kannte er bereits. Er hatte sie übers Autoradio gehört. Total überflüssig, die Initiative der Spieler, war er überzeugt, da sich der Zweitligist gar keinen neuen Trainer leisten konnte. Viel zu klamm war der Verein. Aber wen interessierte schon, was er dachte?

Rasch wechselte er auf den 14. Juli. Die Gentlemen-Räuber! Darauf hatte er gehofft. Mit Genugtuung sog er jede Zeile des Artikels in der Südwestrubrik auf. Im Lokalteil berichteten sie noch ausführlicher. Butch fühlte sich wie ein Promi, auch wenn da stand, sie hätten traurige Berühmtheit erlangt. Pathetischer Quatsch. Fehlte nur noch die Metapher von Bonnie und Clyde, die die Schreiberlinge so gern bemühten. Ansonsten hatte er am Inhalt der Berichte nichts auszusetzen. Über die unwahren Angaben zur Beute regte er sich schon lange nicht mehr auf. Andererseits, wen gingen ihre Finanzen etwas an? Dieses Mal war von einigen tausend Euro die Rede. Ob die Schadensmeldung bei der Bankenversicherung auch so gering ausfiel? Butch verzog spöttisch die Mundwinkel.

Vergeblich durchforstete er die darauffolgenden Ausgaben nach Fortsetzungsartikeln in ihrer Sache. Zu schade, denn jede Veröffentlichung erzeugte in ihm ein Hochgefühl. Er zweifelte, ob in der aktuellen Ausgabe der Oberrheinischen Tageszeitung noch etwas zu finden war. Unlustig überflog er die Titelseite, klickte weiter, klickte zurück. Hatte er sich verguckt? Stand da nicht eben etwas über Phantome? Tatsächlich.

Sind Phantome entlarvt? Butch las die kleine Meldung auf der Titelseite sehr aufmerksam. Es handelte sich um die Ankündigung eines Berichts im Innenteil der Zeitung über mögliche neue Erkenntnisse in der Gentlemen-Bankraubserie. Über eine halbe Seite war der Story gewidmet. Optisch glich sie einer Kinobesprechung, denn Fahndungsfotos und Phantombilder waren wie Filmstreifen um den Text drapiert. Nur altbekannte Motive, wie Butch enttäuscht feststellte: Dana mal mit Mütze, mal mit Basecap und Brille, er mit Perücke und Brille, mit und ohne Mütze. Dazu die immer gleichen, stümperhaften Zeichnungen. Er fand, dass er darauf brutal und dümmlich aussah.

Steht Deutschlands längste Bankraubserie vor Aufklärung? Die Überschrift des Artikels traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube. Butch schaute zweimal hin. Erregt las er weiter. Die Karlsruher Sonderkommision hege konkreten Tatverdacht. Mehrere Anträge auf richterliche Beschlüsse zur Überwachung von Personen belegten dies. Außerdem liege die Schadenshöhe der Banken weitaus höher als bislang bekannt. Zum ersten Mal sei die bisherige Gesamtbeute mit 1,9 Millionen Euro realistisch beziffert worden.

Butchs Anspannung stieg, als ein Indiz erwähnt wurde, das sich in der Ermittlungsarbeit verdichtet habe. Danach deute viel darauf hin, dass die Täter vermutlich nicht von der Beute lebten und deshalb wohl nicht im kleinkriminellen Milieu zu suchen seien.

Ja und nein, dachte Butch und las weiter: Die Profile des Gangsterpaars passten eher auf gutbürgerliche, sozial angepasste, vielleicht sogar selbstständige Personen, möglicherweise die netten Nachbarn von nebenan.

Er ließ die Worte auf sich wirken. Na klar waren sie die netten Nachbarn. Im nächsten Moment verdunkelten sich seine Gesichtszüge. Die Bullen waren gefährlich nah an ihnen dran. Bellten sie nur oder bissen sie auch zu?

Beim letzten Satz pfiff er anerkennend durch die Zähne. Die Belohnung für Hinweise zur Ergreifung der Täter sei auf 50.000 Euro angehoben worden. Das zahlt ihr Kapitalistenbanken doch aus der Portokasse, mutmaßte Butch verächtlich. Vorsichtshalber las er den Bericht ein weiteres Mal – und stutzte: Von Wiebke Wolant stand in kursiver Schrift darüber.

Wiebke Wolant. Unmöglich!

Entgeistert starrte er auf den Namen. Innerlich rotierte er. Die Wiebke, die in Hennings Elternhaus ein- und ausgegangen war? Ausgeschlossen. Sie lebte doch längst in Hamburg, war ihrem Macker gefolgt. Ab und zu hatte er ihr eine Karte dorthin geschickt, aus Anhänglichkeit. Aber nur in den ersten Jahren und immer ohne Absender. Er sah sie förmlich vor sich: groß, dunkel gelockt, ein Superweib. Sonntags waren sie sich häufig bei Henning zu Hause begegnet. Sie konnten sich gut leiden, obwohl sie viel älter war und er sie um ihr schickes Cabriolet beneidete. Sie war eine geniale Schachpartnerin. Und Binokel, dieses schwäbische – oder badische? – Kartenspiel, mochte sie auch. Es hatte ihn nie begeistert. Aber all das war eine Ewigkeit her.

Wiebke Wolant. Ausgeschlossen, dass es diesen Namen zweimal gab. Butch knabberte an seinem Finger. Dieses verdammte Weib! Was hatte sie bei dieser Zeitung und in dieser Angelegenheit zu suchen? Er überlegte, was sie von Beruf war. Damals hatte er noch keine Zeitung gelesen. Szenen am Kaffeetisch bei Hennings Eltern kamen ihm in Erinnerung. Hatte sie nicht ab und an über irgendwelche Mordgeschichten erzählt? Es war einfach zu lange her.

Benommen verließ er seinen Schreibtisch. Das beunruhigende Gefühl, dass sie bereits entlarvt waren, ergriff ihn. Bis zur Minute hatte er die Schmiererei nicht ganz ernst genommen. Sollten Henning und Wiebke die Verräter sein? Der Gedanke war ihm unerträglich.

Wie ein Roboter stakste Butch zum alten Schuppen hinter der Garage. Dort hing sein blauer Boxsack. Blindwütig drosch er darauf ein. Fühlte keinen Schmerz in den Fäusten, nur wie ihm das Blut in den Adern kochte. Schweiß rann ihm über seinen nackten Oberkörper und verlieh der imposanten Drachentätowierung von der rechten Schulter bis zum Oberarm einen seidigen Glanz. Bei jedem Schlag stöhnte er auf. Der schwere Sandsack bewegte sich träge unter seinen Fäusten.

Fünf Minuten mochte dieser Ausbruch angedauert haben, dann sackte Butch erschöpft auf den sandigen Steinboden. Feine Blutrinnsale liefen ihm über die Handknöchel. Er wischte sie an der schlabbrigen Baumwollhose ab.

Henning und Wiebke hatten also zumindest ihn auf den Fahndungsbildern erkannt. Dass sie auch Dana identifiziert hatten, hielt er für unwahrscheinlich. Als er Henning zum letzten Mal besucht hatte, war Dana im Auto geblieben. Schleierhaft, in welchem Jahr das gewesen war. Mit Bestimmtheit vor der Jahrtausendwende.

Er fand Dana im Vorgarten, die Sonne blendete ihn. Spärlich bekleidet räkelte sie sich in einem Gartenstuhl. Rechts vom Säulenvorbau des Hauses hatten sie eine einfache Sitzecke eingerichtet. Zwei rote, stapelbare Plastikstühle und einen roten, runden Plastiktisch. Mittags schien die pralle Sonne darauf. Ein Schattenplätzchen gab es nur rechts vom Haus unter der hohen Korkenzieherweide. Das ganze Jahr über stand dort eine massive Holzbank ohne Rückenlehne. Ein Erbe des Kommunisten, wohl für alle Ewigkeit. Dana las ein Buch und legte es rasch zur Seite, als Butch auf sie zustolperte. „Wie siehst du denn aus?“, deutete sie auf die Blutflecke auf seiner Hose.

„Ach das.“ Butch schaute an sich herunter. „Ich war am Boxsack ohne Handschuhe. Zu blöd.“

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