ZeitenSprünge

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Marianne Brugger

ZeitenSprünge

Oma erzähl doch mal ...

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Eine Hypothek fürs Leben

Ein folgenreicher Brief

Alles braucht seine Zeit

Das „Ave Maria“

Drei Tage Schweigen

Impressum neobooks

Eine Hypothek fürs Leben

Als sie das Gepolter im Treppenhaus vernahm, hielt Thekla unwillkürlich den Atem an. Heute war wieder einmal einer von Vaters schlimmen Tagen. Hoffentlich würde Helmi, die mit in der elterlichen Schlafkammer schlief, nicht wach. Durch ihr Greinen würde sie sicherlich Vaters Zorn auf sich ziehen. Wenn er zuviel getrunken hatte, war er unberechenbar, dann halfen selbst Mutters Beschwichtigungen nicht mehr. Wie die Mutter das nur aushielt? Schon seit vielen Jahren ging Jakob Fichtner nach dem Abendessen zum Wirtshaus hinüber und kam erst in der Nacht zurück. Während in der früheren Zeit meist nur das laute Türenschlagen und das unverhältnismäßig laute Knarren der Treppe verriet, dass der Roterbauer einen über den Durst getrunken hatte, kündigten nun lautere Geräusche, manchmal lautstark wie ein Donnerhall, und zuweilen heftiges Schimpfen und Fluchen die Rückkehr des Vaters an. Krachend fiel die Schlafzimmertür ins Schloss und schon wenige Minuten später war das Schnarchen ihres Vaters zu hören. Befreit atmete das Mädchen auf. Wenigstens blieben ihr heute jene unschönen Szenen erspart, die ihr schon des Öfteren den Schlaf geraubt hatten.

Am nächsten Morgen wurde Thekla von ihrer Schwester durch ein sanftes Ziehen an ihrem Ärmel geweckt. Obwohl Marie erst zehn Jahre alt und somit zwei Jahre jünger als Thekla war, hatte sie schon seit Längerem das morgendliche Wecken übernommen. Schlaftrunken rieb sich Thekla die Augen. “Thekla, steh auf, der Vater ist schon unten!“, flüsterte Marie. Thekla wusste, dass dies nicht stimmte. Nach einer schlimmen Nacht kroch er nie vor Tagesanbruch aus dem Bett. Trotzdem schwang sie, ohne weiter zu zögern, ihre Füße aus dem Bett und griff nach ihren Kleidern, die sie am Vorabend über die Bettkante gelegt hatte. Barfüßig, sich unterwegs noch das abgetragene Baumwollkleid zuknöpfend, folgte sie ihrer Schwester nach draußen.

Das matte Licht der aufgehenden Sonne zeichnete die Umgebung weich und die mancherorts zwischen den Baumwipfeln aufsteigenden Nebelschwaden taten das Ihrige, um die Landschaft zu verklären. Thekla liebte diesen Anblick, empfand trotz ihrer Jugend eine tiefe Verbundenheit mit ihrer Heimat. Je nach Jahreszeit umschmeichelte sattes Grün, blau blühender Lein und goldgelbes Getreide die sanft geschwungenen Hügel des Böhmerwalds. Auch heute schweifte Theklas Blick über die Flur, bevor sie vorm Hauseingang in die dreckverkrusteten Holzpantinen stieg.

Mit Marie melkte Thekla besonders gerne. Sie stritt nie darüber, wer die fünfte Kuh im Stall übernahm, bei ihr gab es kein „du hast“, „du musst“ und auch kein „aber“. Schweigend machten sich die Mädchen an die Arbeit. Um diese Tageszeit warf die Sonne lediglich einen spärlichen Lichtstrahl durch das kleine Ostfenster, beleuchtete das Innere des Stalls nur schemenhaft. Thekla war noch müde. Nach Vaters Heimkommen hatte sie längere Zeit wach gelegen. Während ihre Gedanken um die Geschehnisse in der vergangenen Woche kreisten, verrichtete sie mechanisch die gewohnte Arbeit.

„Die Bless ist heute so unruhig, ich glaube mit ihr stimmt was nicht!“, sprach Marie in die Stille hinein, die zuvor nur durch den rhythmischen Einstrahl der Milch in den Melkeimer unterbrochen worden war. „Sie drängt immer mehr zu der Sanne herüber.“

Alarmiert durch den ängstlichen Unterton in Maries Stimme, stand Thekla auf und ging zu der Braungescheckten hinüber. Bless` Bauch war auf der linken Seite stark aufgequollen. Immer wieder schlug das Rind mit seinem Schwanz auf diese, ihm offensichtlich Schmerzen bereitende, Körperstelle.

„Jesses Maria!“, entfuhr es Thekla. Mit Entsetzen erinnerte sie sich daran, dass man im letzten Sommer den Tierarzt holen musste, weil ebendiese Kuh dem frischen Klee zu sehr zugesprochen hatte. Das ganze Jahr über hatten die Eltern geklagt, dass man sich beschränken müsse, weil man sonst dessen Rechnung nicht bezahlen könne.

„Vielleicht hat sie wieder zu viel frischen Klee gefressen?“, äußerte Marie ihre Befürchtung.

„Das kann ja gar nicht sein. Die Bless ist schon seit ein paar Tagen nicht mehr aus dem Stall hinaus gekommen!“, entkräftete Thekla die aufkeimende Sorge ihrer Schwester.

„Aber gestern hat der Frieder die Bless zur Angerwiese mitnehmen müssen!“

Erschrocken schlug Thekla die Hand vor den Mund. „Au weia! Ausgerechnet der Frieder!“ Eigentlich wäre ihr Bruder schon genügend damit gestraft gewesen, dass er als Bauernsohn von kleiner Statur war und nur über bescheidene Körperkräfte verfügte. Unglücklicherweise hatte der liebe Gott noch eins draufgesetzt und ihn mit einer großen Sensibilität ausgestattet. Angesichts dessen, was dem Zweitältesten des Roterbauern nun bevorstand, starrten sich die beiden Mädchen betroffen an.

„Aber den Frieder trifft doch keine Schuld. Der Vater hatte ihm angeschafft, den Rain frei zumähen. Da konnte er nicht die ganze Zeit nach der Bless sehen!“, verteidigte Marie ihren Bruder. „Außerdem müsste sich die Bless ja gemerkt haben, dass ihr der viele Klee nicht gut getan hat!“

„Bei so was lässt der Vater keine Entschuldigung gelten! Erst recht nicht heute, wo es doch gestern im Wirtshaus wieder spät geworden ist.“

Marie, die inzwischen herangetreten war, wusste, was dies bedeutete. Nervös kaute sie an ihrem Zopf. Thekla atmete tief durch und richtete sich auf. Wie immer, wenn es unter den Geschwistern galt, eine Entscheidung zu treffen, war sie diejenige, die Initiative ergriff.

„Wir müssen den Frieder verstecken bis sich der Vater wieder ein bisschen beruhigt hat! Vielleicht sorgt er sich ja, wenn der Frieder längere Zeit fehlt.“

„Aber wo soll er sich denn verstecken?“

„In unserer Kammer! Dass sich ein Bub in der Mädchenkammer versteckt, ist für Vater so ungeheuerlich, dass er gar nicht erst drauf kommen wird!“

„Und wenn die Mutter einmal hereinschaut? Und vielleicht verrät ihn die Klara. Du weißt doch, was für ein Plappermaul sie hat!“

Thekla ließ Maries Einwände nicht gelten. Für längere Überlegungen blieb auch keine Zeit. Schon bald würde Gustav mit seinem Pferdegespann vorbeikommen, um die Milch abzuholen. Wenn nicht bereits das Klappern der Milchkannen den Vater weckte, würde ihn Gustavs lauter „Hüa - Ruf“ aus dem Schlaf reißen. Es war höchste Zeit, Verantwortung zu übernehmen und ihrem Bruder ihren Plan zu unterbreiten…

Saure Milch mit Stippkartoffeln war eine von Theklas Leibspeisen, aber heute musste sie sich zu jedem Bissen zwingen. Zwei Tage waren seit dem unsäglichen Tag vergangen und der Vater hatte sich noch kein bisschen beruhigt. Im Gegenteil! Statt sich um das Verschwinden seines Sohnes zu sorgen, vergrößerte sich seine Wut von Stunde zu Stunde. Natürlich hatte der Tierarzt wieder eine ordentliche Rechnung gestellt und natürlich lastete der Vater diesen Umstand dem Frieder an. Nicht einmal die Mutter hatte ihren Zweitältesten in Schutz genommen. Missmutig hatte sie den Kopf geschüttelt und gemurmelt: „Warum muss es mit dem Frieder immer Ärger geben!“

Als Thekla den scharfen Blick ihres Vaters auf sich spürte, zwang sie sich, noch eine weitere gesalzene Kartoffel in den Mund zu stecken. Heute war es nicht leicht gewesen, etwas Essbares in ihrer Schürzentasche verschwinden zu lassen. Auch während des Abendessens schaute der Vater immer wieder zu ihr herüber. Oder beobachtete er etwa Marie? Ihre Schwester ging auch allzu sorglos mit der Situation um. Heute Morgen hatte sie auf dem Rübenacker damit geprahlt, dass es ihr nichts ausgemacht habe, auf einen saftigen Apfel zu verzichten. Der Vater hätte sicherlich Lunte gerochen, wenn er dies gehört hätte.

Obwohl das abendliche Erfrischen im hofeigenen Bach das einzige Vergnügen war, das man den Fichtner Kindern während der Sommermonate vergönnte, blieb Thekla an diesem Abend im Haus. Dem Frieder ging es gar nicht gut, allmählich schlug seine niedergedrückte Stimmung in Aggression um. Doch anstatt für ihre Fürsorge dankbar zu sein, warf er Thekla vor, dass sie Schuld an seiner Misere habe, schließlich hätte er ohne ihr Zutun das „Schlimmste“ längst hinter sich.

„Lang halt ich´ s hier herinnen nimmer aus!“, klagte der magere Blondschopf angesichts seiner prekären Lage eine Spur zu laut!

„Psst, sei leise! Wenn dich der Vater hört!“

„Kann er gar nicht. Er ist gleich nach dem Nachtmahl zum Wirtshaus hinüber gegangen!“

„Hast du etwa aus dem Fenster geschaut? Frieder! Das ist doch viel zu gefährlich!“

„Gefährlich, gefährlich!“, äffte Frieder seine Schwester nach. Wenn es nach dir ginge, müsste ich den ganzen Tag im Schrank sitzen und dürfte keinen Mucks von mir geben!“

 

Psst, leise!“, ermahnte Thekla ihren Bruder nochmals. „Die Mutter könnte jeden Augenblick kommen!“

„Die Mutter fragt sich wahrscheinlich eh schon, warum immer die Schranktür knarrt, wenn sie die Treppe heraufkommt. Außerdem hat sie mich sicherlich schon einmal reden hören. Sie muss ich nicht fürchten. Niemals würde sie eines ihrer Kinder verraten!“

Welches Thema Thekla an diesem Abend auch anschnitt, Frieder fand stets Widerworte. Plötzlich drang von der Diele ein tiefes, kehliges Husten herauf. Die Geschwister sahen sich erschrocken an. Der Vater! Warum kehrte er heute schon so früh aus dem Wirtshaus heim? Seit wann stand er schon da unten? Hatte er sie etwa reden hören? Instinktiv sprang Thekla auf und verriegelte, so leise wie möglich, die Tür. Langsam stieg der Vater die Treppe herauf. Mit jedem seiner schweren Schritte steigerte sich das Pochen in Theklas Brust. Mit schreckerstarrten Augen sah sie zu ihrem Bruder hinüber. Frieder saß aufrecht im Bett, das blanke Entsetzen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Jetzt war der Vater auf der obersten Treppenstufe angelangt und forderte mit drohendem Unterton in der Stimme: „Macht sofort auf!“

In der Kammer blieb es mucksmäuschenstill, man hätte eine Stecknadel fallen hören. Thekla war unfähig, sich zu bewegen, geschweige denn einen klaren Gedanken zu fassen. Ihre Knie zitterten und ihr Herz klopfte nun so heftig, dass sie meinte, man könne es hören.

„Thekla, ich weiß, dass du hinter der Tür stehst. Mach sofort auf, sonst bist mit dran!“, drohte der Vater mit wutentbrannter Stimme.

Theklas Gedanken überschlugen sich. Wenn sie sich Vaters Befehl widersetzte, würde er die Tür gewaltsam öffnen und dann würde sich sein Zorn auch über ihr entladen. Für Frieder gab es so oder so kein Entkommen mehr. Auf Vaters scharf gezischtes „Thekla“, zog sie mit einem Ruck den Riegel zurück, drängte sich blitzschnell an ihm vorbei und rannte die Treppe hinunter. Der Gedanke, mit anhören zu müssen, wie der Vater über den Frieder herfiel, ließ sie zum nahe gelegenen Wald flüchten. Getrieben von den schmerzerfüllten Schreien ihres Bruders achtete sie nicht auf das Gestrüpp, das ihre Haut aufriss, rannte immer weiter in den Wald hinein...

Am nächsten Morgen blieb Frieders angestammter Sitzplatz – am äußeren Ende der langen Eckbank ­­­­­­­­– unbesetzt. „Hat sich der Kräppel etwa schon wieder verkrochen?“, fragte der Roterbauer unwirsch dessen Bruder Franz, der mit seinem wenig gelittenen Sohn in der früheren Gesindekammer schlief.

Franz nagte an seiner Unterlippe, bevor er zögernd antwortete: „Den Frieder hab ich schon seit Tagen nicht mehr gesehen!“

„Ja, hat´ s dem gestern noch nicht g´ langt?“ Jakob Fichtners finsterer Blick glitt über seine am Tisch versammelte Nachkommenschaft. Dass es mir ja keiner wagt, den Frieder nochmals zu verstecken!“, drohte er mit finsterem Blick.

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