BURNOUT - Krise. Hoffnung. Neubeginn.

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BURNOUT - Krise. Hoffnung. Neubeginn.
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MARIA K HILL

BURNOUT - Krise. Hoffnung. Neubeginn.

Eine ganz persönliche Erfahrung

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

TEIL EINS

NICHTS GEHT MEHR!

POWERFRAU AM ENDE

WENN DIE SEELE EINE AUSZEIT BRAUCHT

WEGE IN DEN BURNOUT

PERFEKTIONISTEN HABEN ES NICHT LEICHT

DIE MACHT DER GEDANKEN

MÜHSAM VORAN

IN DER HÖHLE DES LÖWEN

ZURÜCK IN DIE ZUKUNFT

AUF ZU NEUEN UFERN

ANGEKOMMEN

TEIL ZWEI

I

UNSERE AUTONOME SCHALTZENTRALE

WAS IST STRESS?

ÜBERFORDERUNG IM ALLTAG

MYTHOS MULTITASKING

PERFEKTIONISMUS & HÖCHSTLEISTUNG

II

EIN DEFINITIONSVERSUCH

BURNOUT - PROZESS ODER SYNDROM?

ANZEICHEN & SYMPTOME

WER KANN HELFEN?

TEST & DIAGNOSEN

PRÄVENTION & ERSTE MASSNAHMEN

ERNÄHRUNG

ENTSPANNUNG

BEWEGUNG

MENTALTRAINING

ZEITMANAGEMENT & PRIORITÄTEN SETZEN

III

WAS UNS STARK MACHT

ZIELE & VISIONEN

SELBSTBESTÄTIGUNG

RESSOURCEN – QUELLEN DER KRAFT

LEBEN!

LITERATURVERZEICHNIS

Impressum neobooks

TEIL EINS


NICHTS GEHT MEHR!

Nein! Nein! Nein!

Mein ganzer Körper schrie ‚Nein!’ Aber kein Laut kam über meine Lippen. Ich saß vor meinem Laptop am Tisch und blickte schon seit einer ganzen Weile auf den Bildschirm ohne jedoch etwas wahrzunehmen. Ärgerlich schüttelte ich den Kopf. Jetzt reiß dich doch zusammen und mach das Kapitel noch fertig, dachte ich. Aber es fiel so schwer, sich zu konzentrieren. Ich fühlte mich unendlich müde und leer, unfähig die angefangene Aufgabe zu Ende zu bringen. Was war nur los mit mir?

Gleich würde meine Familie nach Hause kommen. Ein langes Wochenende mit allen Kindern lag vor mir. Ich fühlte Panik in mir aufsteigen. Nein, bitte nicht! Nicht jetzt! Ich konnte die Vorstellung nicht ertragen, ein ganzes Wochenende vier weitere Menschen um mich zu haben, geschweige denn sie versorgen zu müssen. Warum mussten ausgerechnet jetzt alle kommen? Warum mussten sie überhaupt kommen? Ich wollte nur alleine sein und meine Ruhe haben! Am liebsten würde ich einfach weglaufen und nicht mehr wieder kommen.

Ich erschrak über meine eigenen Gedanken. Was dachte ich nur? Warum wollte ich meine Familie nicht mehr um mich haben? Was war los mit mir? Ich konnte dieses Bedürfnis in meinem tiefsten Innern nicht klar deuten, ich konnte es aber auch nicht einfach ignorieren. Es war da und es war sehr präsent. Schon seit einiger Zeit hatte ich das Gefühl auf einem Zug zu sitzen, der mit rasender Geschwindigkeit auf ein Ziel zufuhr, dass ich selbst nicht mehr bestimmte. Im Grunde saß ich schon lange nicht mehr selbst am Steuer. Aber was war geschehen? Warum war alles auf einmal ganz anders als sonst?

Plötzlich hörte ich Stimmen in der Einfahrt – gleich würden alle über mich hereinschwappen und mich erdrücken. Ich fühlte mich dieser Situation nicht gewachsen. Erneut spürte ich, wie lähmende Angst sich in mir breit machte. Was war nur los mit mir?

Es war Freitagnachmittag. Nach einem langen Home-Office Tag angefüllt mit Strategiearbeit und einer anstrengenden Telefonkonferenz mit den Kollegen in Übersee klappte ich müde den Laptop zu und stand auf. Hätte ich nicht das vertraute Motorengeräusch vernommen, hätte ich trotz der Konzentrationsschwierigkeiten wahrscheinlich noch weitergearbeitet und versucht, mich durch das fehlende Kapitel zu quälen. Doch inzwischen hörte ich die Stimmen der ankommenden Familie ganz deutlich. Seufzend blickte ich auf meine Armbanduhr und packte endgültig zusammen. Beinahe im selben Moment wurde die Haustüre aufgeschlossen.

„Hallo Mama! Wie geht’s?“

Daniel, mein Sohn, wartete eine Antwort gar nicht erst ab sondern begrüßte mich, die er um mindestens eine Kopflänge überragte, mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange.

„Ich hab’ die anderen vor der Tür getroffen“, er grinste.

In diesem Moment erschien Christian, mein Lebensgefährte, in der Haustür. Voll beladen wie immer. Die Laptoptasche in der einen und eine prall gefüllte Reisetasche in der anderen Hand. Ihm folgten Paula und Lukas, seine Kinder aus erster Ehe, die jedes zweite Wochenende bei ihrem Papa verbrachten. Beide zogen jeweils einen Rollkoffer hinter sich her.

„Hallo Maya!“ rief Paula fröhlich, doch ich lächelte nur abwesend zurück.

Im Eingangsbereich entstand ein Stau und alle redeten durcheinander. Alles war auf einmal furchtbar laut und unruhig um mich herum. Ein Schauer lief über meinen Rücken und ich schüttelte mich. Warum störte mich das plötzlich? Ich blieb still und unbeteiligt im Wohnbereich stehen. Unfähig mich zu bewegen. Mitten im freitäglichen familiären Trubel schien ich meilenweit entfernt zu sein. Alles um mich herum nahm ich nur schemenhaft wahr. Wie durch eine dicke milchige Glasmauer, die sich zwischen mich und meine Familie geschoben hatte. Ich gehörte nicht mehr dazu. Was war los?

Meine Ohren rauschten und es fühlte sich an, als ob alle Energie aus meinem Körper strömte. Ich konnte förmlich spüren, wie sie in Sturzbächen aus meinen Fingerspitzen herausschoss. Das war kein gutes Gefühl. Ich hatte Angst! Im nächsten Augenblick würde ich anfangen mich aufzulösen! Panik machte sich in mir breit und ich dachte: ‚Bitte lieber Gott, lass mich in einem Loch versinken! Ich mag nicht mehr, ich kann nicht mehr!’. Christian schien zu bemerken, dass etwas nicht stimmte. Er kam auf mich zu und nahm mich zur Begrüßung in den Arm.

„Hi, mein Liebling! Geht es dir gut? Oh Gott! Ich bin so froh, wieder hier zu sein! Auf der Autobahn war schon viel los und dann noch die Fahrt quer durch die Stadt von den Kindern hierher...“ Er seufzte und blickte zu mir herunter. Ich hatte immer noch kein Wort gesagt.

„Alles okay mit dir?“

„Nicht jetzt.“

Vor den Kindern wollte ich nicht antworten. Lieber riss ich mich zusammen. Kurz darauf verschwanden die Kinder jedoch lautstark und fröhlich nach oben in Daniels Zimmer. Wir waren alleine. Christian hielt mich noch immer im Arm. Er fasste unter mein Kinn und hob meinen Kopf an um mich zu küssen. Dabei bemerkte er meinen abwesenden Blick.

„Schatz, stimmt etwas nicht mit dir? Was hast du? Geht es dir wirklich gut?“

Statt einer Antwort füllten sich meine Augen mit Tränen, die mir langsam über die Wangen rollten.

 

„Hey, was ist denn los?“

Er nahm mich noch fester in seine Arme, doch dann begann ich erst richtig zu weinen. Ich konnte gar nicht mehr aufhören. Christian streichelte mir nur hilflos über den Rücken. Als ich mich schließlich etwas beruhigt hatte und wieder einigermaßen sprechen konnte, brach es förmlich aus mir heraus:

„Nein, mit mir ist nicht alles okay! Ich weiß nicht, was mit mir los ist... Ich bin am Ende... Ich kann nicht mehr... Ich will nicht mehr... Ich schaffe das alles nicht mehr... Ich habe auch keine Energie mehr. Am liebsten möchte ich mich einfach nur hinlegen, die Augen schließen und nie wieder aufwachen!“

Trotz meiner ungewohnt heftigen Reaktion, merkte Christian meiner Stimme und meinem verzweifelten Gesichtsausdruck an, dass es mir durchaus ernst war. Irgendetwas war passiert. Aber mein Ausbruch überforderte ihn. Er wusste überhaupt nicht, wie er darauf reagieren sollte.

„Schatz, lass uns heute einen ruhigen Abend verbringen. Soweit ich weiß, steht am Wochenende nichts an. Wir können es uns ganz gemütlich machen. Keinen Stress. Du wirst sehen, dann geht es sicher wieder.“

Er legte seine Hand beruhigend auf meinen Arm. Wir standen noch immer dicht beieinander mitten im Wohnzimmer. Ich nickte nur, obwohl ich ihm nicht wirklich zustimmte und sogar an der Wirksamkeit seines Plans zweifelte. Ich ahnte, dass das, was gerade mit mir geschah viel tiefer ging. Mein Körper streikte. Mein Gehirn streikte. Ich fühlte mich so leer! Doch ich war nicht in der Lage, zu erklären, was in mir vorging.

„Du, was gibt es zu essen? Hast du etwas Bestimmtes geplant?“

Ich schüttelte immer noch schluchzend den Kopf.

„Nein. Keine Ahnung...“

Der Kühlschrank war am Ende einer langen Arbeitswoche wieder einmal leer. Schon seit geraumer Zeit schaffte ich es nicht mehr, den Wochenendeinkauf noch freitags nach Feierabend zu erledigen, bevor die Familie nach Hause kam. Christian schien zu befürchten, dass ich nicht in der Lage sein würde, Essen vorzubereiten.

„Was hältst du von Pizza?“ Ohne meine Antwort abzuwarten rief er nach oben: „Wer kommt mit Pizza essen? Auf, ihr drei, wir gehen zu unserem Italiener!“

Obwohl die Kinder inzwischen alle bereits im Teenager-Alter waren und sich schon sehr erwachsen vorkamen, tönte sofort zustimmender Jubel von oben herunter. Sie waren sofort einverstanden. Pizza gehörte zu ihren Lieblingsspeisen. Laut polterten sie die Treppen herunter.

Ich hatte in der Zwischenzeit meine Tränen getrocknet und deren Spuren notdürftig beseitigt. Doch die fröhliche Betriebsamkeit um mich herum drang nur undeutlich zu mir durch. Wie in Zeitlupe und unter großer Anstrengung schlüpfte auch ich schließlich in Schuhe und Jacke. Es würde mir schon irgendwie gelingen das Patchwork-Familien-Ritual in der kleinen Pizzeria zu überstehen ohne dass die Kinder etwas bemerkten. Warum war mir das nur so wichtig?

Zu fünft saßen wir kurz darauf an unserem ‚Stammtisch’. Paula bestritt die Unterhaltung fast alleine und redete wie so oft ohne Punkt und Komma.

„...und stell dir vor, Papa, dann hat unsere Mathelehrerin doch tatsächlich die Prüfungsunterlagen zuhause vergessen. Wir konnten also keine Klausur schreiben! Das war vielleicht cool...“

Lukas und Daniel zeigten sich gegenseitig die neuesten Spiele und Tricks auf ihren Mobiltelefonen und kicherten ziemlich kindisch. Sie hörten Paula überhaupt nicht zu. Ich saß völlig unbeteiligt am Tisch und spürte von Zeit zu Zeit Christians Blicke auf mir.

„...was machen wir eigentlich am Wochenende? Habt ihr etwas Schönes geplant mit uns? Ich hätte Lust auf...“ Paula hielt plötzlich inne und ich sah, wie sie mich anschaute. „Hey, Maya, ist alles okay mit dir? Warum bist du so still?“

„Lass mal, Paula! Maya geht es nicht so gut. Sie hat Kopfschmerzen“, warf Christian schnell ein, doch seine Stimme klang besorgt.

Die üblichen Berichte der Kinder, Christians Fragen nach Schule und Hobbies, konnte ich zwar hören, aber ich nahm nichts davon wirklich wahr. Wie anstrengend war es, einfach nur zu funktionieren und von Zeit zu Zeit zu nicken oder den Versuch eines Lächelns zu unternehmen... Irgendwann bezahlte Christian und gemeinsam fuhren wir wieder nach Hause.

Die Kinder rannten sofort nach oben in Daniels Zimmer, sie wollten ein zuvor begonnenes Spiel zu Ende bringen. Christian setzte sich zu mir auf die gemütliche Sofalandschaft und reichte mir ein Glas Wein.

„So. Die Kinder sind oben und wir haben Zeit für uns. Möchtest du mir jetzt sagen, was mit dir los ist? Du hast mir vorhin einen ganz schönen Schrecken eingejagt!“

Ich saß ganz verloren auf der Kante des Sofas und bemerkte erst gar nicht, dass mir schon wieder Tränen über das Gesicht liefen.

„Was ist denn los? Hast du dich über irgendetwas geärgert? Machst du dir Sorgen? Ist im Büro etwas vorgefallen?“

Christian nahm meine Hand. Ich weinte noch heftiger, schluchzte und versuchte trotzdem zu sprechen.

„Ich kann einfach nicht mehr... ich will nicht mehr... ich habe keine Kraft mehr... Keine Energie... Alles ist mir zu viel. Es geht schon so lange so... Ich habe das Gefühl, dass meine ganze Energie aus mir rausläuft... einfach so... ich löse mich auf... es ist schrecklich... ich mag nicht mehr... ich will nicht mehr... ich will nur noch schlafen... nie wieder aufwachen... schlafen, wenn ich doch nur schlafen könnte... auch das geht schon seit langem nicht mehr! Ich habe keine Kraft mehr! Ich schaffe das alles nicht mehr! Nicht hier, nicht mit euch, nicht im Büro... nein! Ich will nicht mehr!“

Christian wusste nicht, was er tun sollte, wollte sich aber seine Bestürzung nicht anmerken lassen.

„Hey, mein Schatz! Beruhige dich. Du bist nicht alleine! Ich bin doch bei dir. Wir schaffen das schon...“

Er legte seine Arme um mich und zog mich zu sich heran. In seinen Armen weinte ich weiter bis ich unter Tränen leise erneut zu sprechen begann:

„Christian, ich glaube, ich brauche Hilfe! Ich kann nicht mehr! Es geht schon zu lange so. Ich komme da alleine nicht mehr raus! Ich schaffe das nicht... ich habe Angst!“

Klar und deutlich standen diese Worte im Raum. Wir schauten uns erschrocken an. Christian reagierte als erster.

„Weißt du, ich glaube, du solltest jetzt erst einmal ins Bett gehen und dich richtig ausschlafen. Du wirst sehen, morgen früh sieht die Welt ganz anders aus. Und dann machen wir uns ein gemütliches, ruhiges Wochenende, okay?“

Froh über seinen Vorschlag und auch darüber, alleine sein zu können, nickte ich und gab ihm einen flüchtigen Kuss.

„Vielleicht hast du Recht. Ich geh schlafen. Gute Nacht.“

Von meinem Tränenausbruch klang die Stimme noch sehr nasal. Langsam stieg ich die Treppen hinauf, putzte mir die Zähne und ging zu Bett. Nicht einmal den Kindern hatte ich eine Gute Nacht gewünscht... Egal, nur noch schlafen und nichts mehr denken müssen. Wie ein Stein fiel ich auf mein Bett und kurz darauf in einen unruhigen Schlaf.

Natürlich sah die Welt am nächsten Morgen nicht viel anders aus. Ich erwachte völlig erschlagen. Ich fühlte mich wie gerädert. Ein weiterer langer Tag lag vor mir. Wie sollte ich den nur überstehen? Familienwochenenden mit allen Kindern waren seit geraumer Zeit nur noch sehr anstrengend. Aber war inzwischen nicht auch alles andere unendlich kräftezehrend? Wann hatte das Leben seine Leichtigkeit verloren? Und ich meine Fröhlichkeit und Lebenslust?

Wie von Christian vorgeschlagen, verbrachten wir tatsächlich ein ruhiges Wochenende. Ich flüchtete mich in monotone Haushaltsroutine: Wäsche waschen, einkaufen gehen, kochen. Es gab immer viel zu tun, wenn man selbst einer anspruchsvollen beruflichen Aufgabe nachging und der Partner jeden Freitag mit einer ganzen Tasche schmutziger Wäsche nach Hause kam. Da blieb eben nur das Wochenende. Gott sei Dank hatten die Kinder zu lernen. Bei allen dreien standen in der kommenden Woche Schulaufgaben beziehungsweise Klausuren an. Christian ging zum Friseur und brachte seine Oberhemden in die Wäscherei. Dies war das einzige Zugeständnis an meine Doppelbelastung – abgesehen von drei Stunden Putzhilfe pro Woche.

Krampfhaft versuchte ich, nicht zu denken. Aber es gelang mir nicht. In meinem Kopf fuhren die Gedanken Karussell. Christian brachte die Ereignisse des Vorabends kein einziges Mal zur Sprache wofür ich ihm sehr dankbar war. Ich war mir selbst nicht sicher, wie ich mich verhalten sollte, nachdem ich zum ersten Mal meine Hilflosigkeit eingestanden hatte. Ich war gefangen in meiner Gedankenwelt, unfähig über sinnvolle Lösungsansätze nachzudenken.

Ich bereitete das Abendessen vor. Alleine. Paulas lieb gemeintes Hilfsangebot hatte ich abgelehnt. Ich zog es vor, still vor mich hin zu arbeiten. Das kostete weniger Kraft als Unterhaltungen zu führen oder mich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen. Früher hatte ich es sehr genossen, gemeinsam mit Christian oder den Kindern zu kochen und uns bei den Vorbereitungen intensiv auszutauschen. Früher... Wie lange war das her? Wann war alles anders geworden? Seit wann befand ich mich in dieser Spirale? Oder steigerte ich mich in etwas hinein?

Das gemeinsame Abendessen überstand ich, ohne dass die Kinder etwas zu bemerken schienen. Die aktuellen Ergebnissen der Bundesliga und Fußball im Allgemeinen waren die vorherrschenden Themen. Dabei fiel niemandem auf, dass ich mich nicht an dem Gespräch beteiligte. Die Familie wusste, dass ich ihre Fußball-Leidenschaft nicht teilte und sich mein Interesse an diesem Thema in Grenzen hielt.

Nach dem Essen hätte ich mich am liebsten zurückgezogen und versucht zu lesen. Ein Buch... Wann hatte ich das letzte Mal ein gutes Buch gelesen? Aber um unangenehmen Fragen aus dem Weg zu gehen, beschloss ich, bei der Familie zu bleiben. Alle hatten sich auf eine Sendung im Fernsehen geeinigt, doch an mir ging das Programm komplett vorbei. Ich war außer Stande, mich auf irgendetwas zu konzentrieren.

Die Kinder hatten sich nach der Sendung in ihre Zimmer zurückgezogen um noch zu lesen oder Musik zu hören und ich blieb alleine mit Christian zurück.

„Dir geht es nicht besser.“

Als ich den Kopf schüttelte, fuhr er fort: „Du gehst bitte am Montag zu Frau Dr. Weiss. Vielleicht kann sie dich für ein paar Tage ‚aus dem Verkehr ziehen’ und du kannst dir etwas Ruhe gönnen. Daniel ist in der Schule, ich bin die ganze Woche über unterwegs. So ist niemand da, der dich stört, wenigstens nicht tagsüber.“

Ich nahm seinen Versuch wahr, mit der letzten kleinen Bemerkung der angespannten Situation den Ernst nehmen zu wollen. Ich nickte müde. Ob ein paar Tage Ruhe wirklich die Lösung waren?

Am nächsten Morgen verkündete Christian beim Frühstück:

„Ich habe den Kindern vorgeschlagen, heute in der Therme zu fahren. Die neuen Wasserrutschen sind fertig und du weißt ja, wie lange sie da schon mal hinwollten.“ Er griff über den Tisch nach meiner Hand. „So hast du Zeit für dich, kannst lesen, schlafen, spazieren gehen und all das machen, wozu du Lust hast. Wir gehen dir nicht auf die Nerven. Und heute Abend könne wir zwei dann reden, wenn du magst, okay?“

Kurze Zeit später stand Daniel in der Haustür und zog als letzter im Hinausgehen die Tür hinter sich zu.

„Ciao, Mama, bis später!“

Die Tür fiel ins Schloss. Ich war alleine. Endlich. Ich streifte unschlüssig und lustlos durch die Räume. Gedankenverloren nahm ich das eine oder andere Buch in die Hand, nur um es kurz darauf wieder wegzulegen. Mehrere Minuten lang stand ich mit verschränkten Armen an einem der großen Schiebeelemente und schaute über die Holzterrasse hinaus in den Garten. Schließlich wandte ich mich vom Fenster ab und griff doch nach einem Buch. Ich kuschelte mich auf einem Sessel in eine Decke und schlug die erste Seite auf. Mein Blick wanderte jedoch über das Buch hinweg ins Leere.

Draußen dämmerte es bereits als ich Stunden später aufschreckte. Wo war ich? Ich saß noch immer in dem Sessel, das Buch lag nach wie vor in meinem Schoss, aufgeschlagen auf der ersten Seite. Ganz allmählich nahm ich meine Umwelt wieder wahr, blickte auf die Uhr und sprang erschrocken auf. Gleich würde Christian mit den Kindern kommen. Wo war nur die Zeit geblieben? Ich schaltete das Licht ein, ging in die Küche und begann Essen für die Familie vorzubereiten.

 

Später am Abend betrat ich das Wohnzimmer. Paula und Lukas waren bereits von ihrer Mutter abgeholt worden und Daniel beim Sport wie jeden Sonntagabend. Christian saß auf dem Sofa und las. Als er mich bemerkte, legte er die Zeitung weg und lächelte mich an. Er deutete auf den Platz neben sich.

„Komm, setzt dich mal zu mir. Du bist mir das ganze Wochenende aus dem Weg gegangen... Du wolltest nicht reden, oder?“

Gegen meinen Willen füllten sich meine Augen wieder mit Tränen. Jetzt da ich keine Rücksicht mehr auf die Kinder nehmen musste, schienen sich die Schleusen komplett zu öffnen. Christian war aufgestanden und führte mich behutsam zur Couch. Ich schluchzte hemmungslos und weinte, bis keine Träne mehr zum Vorschein kam. Ganz langsam beruhigte ich mich wieder. Christian reichte mir eine weitere Packung Taschentücher.

„Ich denke aber, wir sollten reden. Mir fällt schon seit einiger Zeit auf, dass du oft abwesend und manchmal auch gereizt bist... Woran liegt das denn? Hast du Ärger? Geht es dir nicht gut...?“

Ich zuckte mit den Achseln. „Ich kann dir auch nicht sagen, was es ist. Ich zerbreche mir selbst den Kopf darüber. Habe aber keine Antwort darauf. Deswegen kann ich auch nur so schwer darüber reden. Ich weiß schlichtweg nicht, was ich sagen soll.“

Ich saß vorne auf der Kante des Sofas und blickte auf ein zerknülltes Taschentuch, dass ich in meinen Händen hielt.

„Ich bin ohne jegliche Energie, ich fühle mich so unendlich leer, ganz ohne Antrieb. Ich weiß einfach nicht, wie und womit ich mich aufraffen und motivieren könnte. Alles fällt so schwer! Ich sehe keinen Sinn mehr. Seit einiger Zeit funktioniere ich immer nur noch irgendwie. Ich halte das nicht mehr aus!“ Wieder liefen Tränen meine Wangen hinunter. „Und schau... ständig fange ich grundlos zu weinen an... Das nervt!“ Ich schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte mutlos den Kopf.

„Ich sehe ja, dass es dir nicht gut geht. Ist es das Büro? Du arbeitest momentan sehr viel und du machst fast nichts anderes mehr.“

Ich ging nicht auf seine Frage ein, sondern fuhr fort: „Ich kann mich nicht mehr länger zusammenreißen. Das war so schwer mir am Wochenende vor den Kindern nichts anmerken zu lassen. Ich weiß, dass ich mich Euch so wie ich jetzt bin, nicht länger zumuten darf... Du sagst, wir schaffen das gemeinsam, aber ich glaube nicht, dass du mir hierbei helfen kannst.“

Eigentlich hatte ich eine beruhigende, tröstende und rationale Reaktion auf meinen emotionalen Ausbruch erwartet. Umso überraschter war ich, als Christian mir zustimmte.

„Du hast Recht. Ich weiß nicht einmal, wie ich dir helfen könnte. Mir fällt es schwer, dich so zu sehen ohne etwas tun zu können. Ich möchte, dass es dir wieder gut geht! Versprich mir, dass du Morgen zu Frau Dr. Weiss gehst. Du warst das ganze Wochenende gar nicht wirklich hier bei uns. Dein Zustand beunruhigt mich...“

Ich versuchte ihm zu erklären, was in mir vorging, doch ich konnte es einfach nicht. Meine Selbstbeherrschung war zu schwach und ich brach stattdessen wieder in Tränen aus. Dann fügte Christian noch etwas hinzu, das ich mir selbst in letzter Zeit so oft gesagt hatte.

„Du bist doch eine starke Frau! Du schaffst das! Wenn ich bedenke, was du in deinem Leben schon alles bewerkstelligt hast...“

„Hör auf! Sag das nicht! Ich bin nicht so stark wie alle denken!“ Ich reagierte fast panisch auf diese Bemerkung. „Ich kann nicht mehr, ich bin am Ende! Mich macht es fertig, immer die Starke sein zu müssen! Ich bin ganz schwach, ich brauche Hilfe! Sieht das denn keiner?“

„Bitte geh’ Morgen zu Frau Dr. Weiss. Sie wird dich sicherlich für ein paar Tage krankschreiben, dann hast du Zeit, dich zu erholen.“

„Meinst du? Aber ich bin doch nicht krank, mir fehlt doch nichts. Außerdem habe ich Morgen eine wichtige Telefonkonferenz mit dem internationalen Team...“

„Stopp, Maya, das reicht!“ unterbrach mich Christian sofort und hob ungeduldig die Hand. „Du musst jetzt an dich denken! Dir geht es nicht gut, das sehe ich doch. Du sagst selbst, du brauchst Hilfe. Ich kann dir nicht helfen, also solltest du dir ärztlichen Rat suchen. Vielleicht hat deine Müdigkeit eine ganz simple Ursache. Vitaminmangel... oder so etwas in der Art. Oder du bist nur überarbeitet... Bitte, tu mir den Gefallen!“ Er sah mich beinahe flehend an.

„Vielleicht hast du Recht. Ich weiß nur, dass es so nicht weiter gehen kann! Ich kann nicht mehr...“

„Wenn du möchtest, fahre ich erst mittags ins Büro und begleite dich zum Arzt.“

Obwohl ich seine gutgemeinte Absicht sah, zog ich es doch vor, diesen Schritt alleine zu gehen. Ich musste zuerst verstehen, was mit mir los war. Schließlich gelang es mir, Christian davon zu überzeugen, doch gleich früh am nächsten Morgen zu fahren. Ich hoffte inständig, dass mir eine Woche ‚Auszeit und Alleinsein’ gut tun würde.

Ich war erleichtert, dass der Abend zu Ende war. Ich war auch erleichtert, dass der Tag und somit das Wochenende zu Ende war. Und ich war erleichtert, mir endlich eingestanden zu haben, dass ich Hilfe benötigte. Nun konnte ich zu Bett gehen. Keiner erwartete mehr etwas von mir, ich durfte einfach nur schlafen... Seufzend schloss ich die Augen. Ich hatte das Wochenende irgendwie überstanden. So wie ich alles in letzter Zeit irgendwie überstanden hatte: kopfgesteuert und mit Tunnelblick, mich und meine eigenen Bedürfnisse ignorierend. Morgen würde ich hoffentlich Hilfe finden...