Epistolare Narrationen

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Aus der Reihe: Classica Monacensia #55
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Der Trauer über den Tod in Epist. 5,16Plinius der JüngereEpist. 5.16 (1: tristissimus) steht in Epist. 5,17Plinius der JüngereEpist. 5.17 an Vestricius Spurinna92 Freude über literarische Leistungen der Lebendigen gegenüber (1: quantum gaudium). Kompositionsdatum und dramatisches Datum des Briefes fallen auf denselben Tag (1: hodierno die), an dem Plinius im Auditorium des Dichters Calpurnius Piso weilte, als dieser ein elegisches Gedicht mit dem Titel Περὶ τῶν καταστερισμῶν („Verstirnungen“)93 vortrug. Das Spektrum der literarischen Gattungen, über die Plinius in Buch 5 bislang reflektiert hat (Briefe, Epigramme, Ekphrasis, Reden, Historiographie), wird hier um die Elegie erweitert. Wo diese Rezitation stattfand, wird nicht ausdrücklich erwähnt – man soll sich vermutlich das Haus des Calpurnius Piso als Ort der Vorlesung vorstellen, denn am Ende des Briefes wünscht sich Plinius, dass die Adeligen in ihren Häusern mehr schöne Dinge haben mögen als ihre berühmten Vorfahren (imagines), womit er insbesondere literarisch talentierte Nachfahren meint (6: cupio, ne nobiles nostri nihil in domibus suis pulchrum nisi imagines habeant).94 Nach der Schilderung in Epist. 3,1Plinius der JüngereEpist. 3.1, wie Vestricius Spurinna sein Alters-otium in seiner Villa verbringt, soll man ihn vielleicht auch in Epist. 5,17 dort verorten, wobei uns nirgendwo im Briefkorpus Hinweise auf die Lage seines Anwesens gegeben werden. Eine auffällige Parallele zum Titel „Verstirnungen“ des in Epist. 5,17 gerühmten Werks bildet der Hinweis in Epist. 3,1, dass Spurinnas Tagesroutine in ihrer geregelten Abfolge dem Lauf der Gestirne gleiche (2: ut certus siderum cursus). Die Ekphrasis der Tagesroutine Spurinnas in Epist. 3,1 entspricht als literarisches Projekt somit dem in Epist. 5,6Plinius der JüngereEpist. 5.6.43 genannten Werk des Arat über die Gestirne (43: vides, ut Aratus minutissima etiam sidera consectetur et colligat).95 Wie die Phainomena des Arat, so ist auch Epist. 3,1 nicht nur excursus, sondern opus ipsum (vgl. 5,6,43), und ähnliches dürfte für das Gedicht des Calpurnius Piso gelten. Neben dem in Epist. 5,17 imaginierten Himmelsraum liefert Plinius auch eine descriptio personae, wenn er Stimme und Haltung des jungen Dichters bei seinem Vortrag schildert (3): commendabat haec voce suavissima, vocem verecundia: multum sanguinis, multum sollicitudinis in ore, magna ornamenta recitantis. Calpurnius Piso zeichnete sich nicht nur durch seine angenehme Stimme und zurückhaltende Vortragsweise aus, sondern auch die Röte und Aufregung in seinem Gesicht.96 Es wird deutlich, dass Plinius in der Briefserie 5,15‒18 das Motiv der descriptio oris bzw. faciei variiert, indem er zuerst ein von einem Künstler gemaltes Gesicht (5,15,1) imaginiert und dann die von der Natur bewirkte Ähnlichkeit zwischen Vater und Tochter herausstreicht (5,16,9), bevor er in Epist. 5,17Plinius der JüngereEpist. 5.17 selbst eine descriptio oris liefert.Plinius der JüngereEpist. 5.17

Vom auditorium einer Rezitation versetzt uns Plinius in Epist. 5,18Plinius der JüngereEpist. 5.18 zunächst in das nicht näher lokalisierte Landgut des Calpurnius Macer,97 der zusammen mit Frau und Sohn die Annehmlichkeiten seiner villa amoenissima genießt, zu denen Meer, Quellen, Gärten und Felder gehören (1: frueris mari, fontibus, viridibus, agro, villa amoenissima). Plinius selbst befindet sich in Tuscis (2) und ist mal abwechselnd, mal gleichzeitig mit Studien und Jagd beschäftigt.98 Innerhalb des fünften Buches ist dies der zweite Brief, in dem Plinius sich auf seinem tuskischen Landgut verortet, und die Kürze dieses Schreibens steht in auffälligem Kontrast zum Umfang der Epist. 5,6Plinius der JüngereEpist. 5.6. Zudem bildet Epist. 5,18 das Gegenstück zu Epist. 5,2Plinius der JüngereEpist. 5.2, wo wir Plinius auf seinem Laurentinum begegnen. Mit dem in Epist. 5,18 entworfenen Bild der Erholung kontrastiert Epist. 5,19Plinius der JüngereEpist. 5.19, wo Plinius seiner Sorge um den erkrankten libertus Zosimus Ausdruck verleiht, ein Brief, der in der Forschung insbesondere als Quelle für die humanitas des Plinius gegenüber Sklaven und Freigelassenen Aufmerksamkeit erregte.99 Plinius beschreibt Zosimus als hochgebildeten Mann, der sozusagen als sein „Etikett“ die Kunstfertigkeit des Schauspielers beherrsche (3: et ars quidem eius et quasi inscriptio comoedus). Zosimus verstehe sich insbesondere auf das Vortragen (3: pronuntiat acriter, sapienter, apte decenter), spiele auch ausnehmend gut Zither und könne sowohl Reden, Geschichtswerke als auch Poesie äußerst geschickt vorlesen. Innerhalb von Buch 5 bildet der libertus somit das Gegenstück zu Calpurnius Piso, dessen Vortrag Plinius in Epist. 5,17,2‒3Plinius der JüngereEpist. 5.17.2‒3 beschreibt, sowie zu Plinius selbst, der seine Gedichte rezitiert (Epist. 5,3)Plinius der JüngereEpist. 5.3.100 Nach der Charakterisierung des Zosimus kommt Plinius auf das eigentliche Problem, die Krankheit, zu sprechen: Bereits vor einigen Jahren (6: ante aliquot annos) habe Zosimus sich bei einem Vortrag sehr verausgabt und Blut gespuckt, weswegen Plinius ihn für längere Zeit nach Ägypten schickte, von wo er kürzlich gut erholt zurückgekehrt sei (6: confirmatus rediit nuper). Nachdem er jedoch abermals mehrere Tage seine Stimme überanstrengte, habe er einen Rückfall erlitten und wieder Blut ausgeworfen (6: rursus sanguinem reddidit).101 Anstelle seinen Freigelassenen erneut nach Ägypten zu schicken, will Plinius ihn nun nach Forum Iulii in der Gallia Narbonensis senden, wo sein Adressat Valerius Paulinus102 ein Landgut besitzt (7: qua ex causa destinavi eum mittere in praedia tua, quae Foro Iulii possides). Häufig nämlich habe Plinius von Valerius Paulinus gehört, dass die Luft dort besonders gesund und die Milch für die Behandlung besonders geeignet sei (7: audivi enim te saepe referentem esse ibi et aera salubrem et lac eius modi curationibus accommodatissimum).103 Die mündlichen Erzählungen des Paulinus über die Vorteile seines Anwesens entsprechen der schriftlichen Beschreibung, die Plinius seinem Freund Apollinaris über seine Villa in Etrurien liefert (5,6,2Plinius der JüngereEpist. 5.6.2: saluberrimo montium subiacent). Offenbar befindet sich Paulinus während der Korrespondenz selbst nicht in Forum Iulii, da Plinius ihn bittet, seinen Leuten zu schreiben, damit sie vor Ort die nötigen Vorkehrungen treffen (8: rogo enim scribas tuis). Plinius schließt den Brief mit der Ankündigung, dass er Zosimus mit so viel Reisegeld (9: tantum viatici) ausstatten werde, wie es für die Fahrt nach Forum Iulii nötig sei.104

Mit den in Epist. 5,19Plinius der JüngereEpist. 5.19 kombinierten Bildern von Krankheit und Reise rückt das Ende des Buches in die Nähe, und zusammen mit dem Thema des Todes finden sich die beiden closure-Motive vereint in Epist. 5,21Plinius der JüngereEpist. 5.21, dem letzten Brief des Buches.105 Doch vor dem Ende kommt es noch einmal zu einem Anfang, wenn Plinius mit Epist. 5,20Plinius der JüngereEpist. 5.20 den „Briefroman“ über den Prozess der Provinz Bithynien gegen den Prokonsul Rufus Varenus eröffnet.106 Wurden wir in Epist. 5,19Plinius der JüngereEpist. 5.19 gedanklich nach Ägypten und Forum Iulii versetzt, so finden wir uns in Epist. 5,20Plinius der JüngereEpist. 5.20 im römischen Senat, wo Plinius als Anwalt des Varenus gegen die Bithynier auftritt. Der Fall des Varenus bildet in der Briefsammlung eine der magnae et graves causae, derer sich Plinius in Epist. 5,8,6Plinius der JüngereEpist. 5.8.6 rühmt, und die für Varenus gehaltene Rede will Plinius publizieren (5,20,2: liber indicabit). In diesem Zusammenhang kommt es wieder einmal zur Gegenüberstellung von einer Rede, die vor Gericht gehalten wird, und der Lektüre einer verschriftlichten oratio (5,20,3). Vor Gericht werde der Erfolg einer Rede durch Faktoren wie fortuna, memoria, vox, gestus, tempus und amor bzw. odium rei beeinflusst, was auf eine publizierte Rede nicht zutreffe. Mündlichkeit und Schriftlichkeit kontrastiert Plinius auch am Ende seines Briefes, wo er der inhaltsleeren Geschwätzigkeit seines Gegenanwalts (4‒5: respondit…plurimis verbis, paucissimis rebus…aliud esse eloquentiam, aliud loquentiam) die loquacitas seines Briefes gegenüberstellt (8), der die Neugierde des Adressaten auf die Rede zu mindern droht.

Aus dem letzten Brief des fünften Buches (5,21)Plinius der JüngereEpist. 5.21 geht hervor, dass sich der Adressat Pompeius Saturninus in Rom befindet (1: te in urbe teneri), während Plinius an einem nicht näher konkretisierten Ort außerhalb weilt107 und bereits in der Haupstadt erwartet wird, wo Saturninus anlässlich seiner Rückkehr eine Rezitation veranstalten will (1: quod recitaturum, statim ut venissem, pollicebantur; ago gratias, quod exspector).108 Tatsächlich begegnen wir in Epist. 6,1Plinius der JüngereEpist. 6.1 einem Plinius, der inzwischen in Rom eingetroffen ist (1: ego in urbe) und dort seinen Freund Calestrius Tiro vermisst.109 Der Übergang zwischen den Büchern 5 und 6 erinnert dadurch an eine literarische Technik, wie sie etwa Ovid in mehreren Metamorphosen-Büchern anwendet, wenn er am Ende eines Buches von einer Reise erzählt, die am Beginn des folgenden Buches vollendet wird.110 Abgesehen von der für Plinius erfreulichen Nachricht, dass sich sein Adressat in Rom aufhält, beinhaltete der Brief des Saturninus auch traurige Mitteilungen, wie diejenige von der Krankheit des Iulius Valens (2)111 sowie vom Tod des Iulius Avitus (3).112 Ähnlich wie in Epist. 5,16Plinius der JüngereEpist. 5.16 handelt es sich auch bei Avitus um eine mors immatura, die den jungen Mann als Quästor während der Rückreise aus der Provinz ereilte (3: decessit, dum ex quaestura redit, decessit in nave, procul a fratre amantissimo, procul a matre, a sororibus).113 Diese kurze Narration vom Tod des Avitus ist stilistisch ausgefeilt durch die Anapher von decessit sowie procul und der Präposition ab, was dem Satz einiges an Pathos verleiht. Während die junge Tochter des Fundanus zuhause starb und noch während ihrer schweren Krankheit dem Vater und der Schwester Trost spendete und sie ermutigte (5,16,3‒5), ist das Schiff fernab von Heimat und Familie der Schauplatz für den Tod des Iulius Avitus.114 Aus welcher Provinz er zurückkehrte, verrät uns Plinius nicht – wie in vielen anderen Briefen interessiert sich Plinius weniger für die räumlichen Aspekte als vielmehr für die Charaktereigenschaften der dargestellten Personen: So erfahren wir einiges über die vielversprechenden Anlagen des jungen Mannes, dessen Vorzüge – zu denen die Liebe zur Literatur zählte – durch den Tod zusammen mit ihm dahingerafft wurden (4‒5). Besonders tragisch ist es für Plinius, dass all die Talente des Avitus sine fructu posteritatis (5) dahingegangen sind, er also offenbar trotz seiner literarischen Studien nichts Schriftliches hinterlassen hatte.115 Das Ende des BriefesPlinius der JüngereEpist. 5.21 und zugleich des fünften Buches ist deutlich markiert, wenn sich uns Plinius als jemand präsentiert, der seine Trauer und seine Tränen zu zügeln versucht (6): finem epistulae faciam, ut facere possim etiam lacrimis, quas epistula expressit.116 Mit dem Ende des Briefes soll auch das Ende der Tränen einhergehen, wobei man das Verb expressit hier in doppeltem Sinn verstehen kann: Einerseits hat der Brief dem Verfasser die Tränen117 abgerungen, andererseits macht der Brief durch Worte und Ausdruck die Tränen für den Adressaten anschaulich bzw. bildet sie sozusagen sprachlich nach.118 Im Kontrast zur Geschwätzigkeit des vorhergehenden Briefes 5,20Plinius der JüngereEpist. 5.20 steht somit in Epist. 5,21 die Vorstellung, dass durch sprachliche Mittel das für den Adressaten nicht sichtbare physische Phänomen der Tränen nachgezeichnet wird.Plinius der JüngereEpist. 5.21

 

Im Rahmen einer linearen Lektüre des fünften Buches wurden die Strategien der Raumkonstruktion aus narratologischer Perspektive analysiert. Neben den Aufenthaltsorten der Briefpartner während der Korrespondenz wurden auch Räume als Schauplätze von Handlungen und Ereignissen sowie als Gegenstand von Beschreibungen in den Blick genommen. Zudem konstruiert Plinius in seinen Briefen Räumlichkeit auch durch die Darstellung verschiedener Objekte oder körperlicher Aspekte sowie visueller und akustischer Phänomene. Es hat sich dabei herausgestellt, dass seine Angaben zumeist sehr selektiv sind, was sogar auf die Villen-Ekphrasis in Epist. 5,6Plinius der JüngereEpist. 5.6 zutrifft, die alles andere als das Ziel einer vollständigen Beschreibung des Anwesens verfolgt. Sowohl in Hinblick auf den Ort, an dem sich die Briefpartner während der Kommunikation jeweils befinden, als auch auf die Schauplätze von Handlungen und Ereignissen, über die Plinius berichtet, muss der Leser oft selbst die räumlichen Details ergänzen, während Plinius nur kurze Hinweise gibt. Nach der Betrachtung der Raumkonstruktion soll sich das nächste Kapitel mit den Personen befassen, die uns im Briefkorpus begegnen und sozusagen das epistolare Figurenarsenal bilden.

2.4 Adressaten und Figurenarsenal

Die Briefsammlung präsentiert uns ein breites Spektrum an Personen, von denen die meisten als Adressaten der Briefe fungieren, andere als handelnde Figuren und viele in beiden Rollen. Plinius konstruiert in seinen Briefen eine soziale „community“, mit der er auf verschiedene Weise interagiert und vor deren Hintegrund er seine eigene Persönlichkeit profiliert.1 Was die Adressaten der Briefe betrifft, hat man sich bisher weniger mit literarischen als prosopographischen Fragen beschäftigt2 oder prominenteren Briefpartnern wie Tacitus und Sueton die Aufmerksamkeit geschenkt.3 Im Unterschied zu Briefsammlungen wie etwa denjenigen Ciceros und Senecas sind die neun Briefbücher des Plinius nicht nach Adressaten arrangiert oder nur an einen Adressaten gerichtet, sondern spiegeln das in Epist. 1,1Plinius der JüngereEpist. 1.1 formulierte Prinzip der zufälligen Anordnung wider, indem jeder Brief für einen anderen Empfänger bestimmt ist, was der Sammlung einen „reality effect“ verleiht.4 Manche Adressaten, wie etwa Tacitus, Calpurnius Fabatus oder Voconius Romanus,5 erhalten mehrere Briefe, während andere seltener oder gar nur einmal als Empfänger auftauchen.6 Sowohl thematisch als auch hinsichtlich der Empfänger ist die Briefsammlung dem Prinzip der Abwechslung verpflichtet, wobei folgende Ausnahmen bzw. Besonderheiten ins Auge stechen: In Epist. 2,11‒12Plinius der JüngereEpist. 2.11/12 sowie 2,20Plinius der JüngereEpist. 2.20 und 3,1Plinius der JüngereEpist. 3.1 wird in zwei unmittelbar aufeinander folgenden Schreiben derselbe Adressat angesprochen.7 Der Brief 3,10Plinius der JüngereEpist. 3.10 wiederum ist an zwei Empfänger gerichtet, nämlich Vestricius Spurinna und seine Frau Cottia.8 Während die Mehrzahl der Plinius-Briefe an Männer von unterschiedlicher sozialer Stellung adressiert ist, gibt es auch eine Reihe von Frauen, die uns als Empfängerinnen begegnen.9 Gibson und Morello (2012: 141) weisen darauf hin, dass die meisten für Plinius wichtigen Personen bereits in Buch 1 der Briefe auftreten und später in der Sammlung erneut in Erscheinung treten. Da Plinius sein Briefkorpus sorgfältig komponiert hat, dürfte auch das Auftreten der verschiedenen Adressaten keineswegs dem Zufall geschuldet sein, sondern auf kompositorischen Prinzipien basieren. Während manche Personen bereits als handelnde Figuren agieren, bevor sie in die Rolle des Briefempfängers schlüpfen, verhält es sich bei anderen umgekehrt.

Für den modernen Leser mag es ungewöhnlich erscheinen, dass Plinius als ersten Adressaten und gleichzeitig WidmungsträgerPlinius der JüngereEpist. 1.1 der Sammlung Septicius Clarus gewählt hat, der zur Zeit der Veröffentlichung noch relativ unbedeutend gewesen sein dürfte und sich erst unter Hadrian politisch etablierte.10 Sherwin-White (1966: 85) vermutet, dass Plinius es vermeiden wollte, andere Senatoren vor den Kopf zu stoßen, indem er jemanden aus dem Rittestand an den Anfang des Briefkorpus stellte. Hoffer (1999: 22) interpretiert die Wahl des WidmungsträgerPlinius der JüngereEpist. 1.1s als Ausdruck dessen, dass Plinius – anders als etwa sein Zeitgenosse Martial – keiner Widmung „nach oben“ bedurfte und Septicius Clarus lediglich ein „Platzhalter“ sei und beliebig ausgetauscht werden könne. Gowers (1993: 272) hingegen argumentiert, dass Plinius den zukünftigen Erfolg des Clarus vorausgeahnt und sozusagen in die Zukunft „investiert“ habe. Gibson und Morello (2012) wiederum sehen die Wahl des Widmungsträgers vor dem Hintergrund der Selbstdarstellung des Plinius, in dessen Briefkorpus die Interaktion mit sozial niedriger gestellten Personen großen Raum einnimmt.11 Wie schon in anderem Zusammenhang besprochen wurde, bietet sich der Name Clarus auch für ein Wortspiel an, indem er am Beginn der Briefsammlung Pedanius Fuscus, dem Adressaten des letzten Briefes, gegenübersteht.12

Mehreren Figuren, die in anderen Briefen als Adressaten auftauchen, begegnen wir innerhalb der Narration in Epist. 1,5Plinius der JüngereEpist. 1.5, wo mit Marcus Aquilius Regulus eine Kontrastfigur zu Plinius eingeführt wird, die der Epistolograph auch anderweitig negativ charakterisiert.13 Regulus erscheint in der Briefsammlung stets als handelnde Figur, niemals jedoch als Adressat. Anders verhält es sich mit Caecilius Celer, Fabius Iustus, Vestricius Spurinna und Iunius Mauricus, die allesamt in der Handlung der Epist. 1,5 „mitspielen“ und in späteren Briefen auch die Rolle der Adressaten übernehmen.14 Voconius Romanus wiederum, der Adressat von Epist. 1,5Plinius der JüngereEpist. 1.5, erhält seinerseits eine Reihe an Briefen mit einem breiten inhaltlichen Spektrum und überwiegend bedeutenden Themen:15 Epist. 2,1Plinius der JüngereEpist. 2.1 über das Staatsbegräbnis für Verginius Rufus, 3,13Plinius der JüngereEpist. 3.13 über den Panegyricus, 6,15Plinius der JüngereEpist. 6.15 über einen peinlichen Vorfall bei einer Rezitation, 6,33Plinius der JüngereEpist. 6.33 über die Rede für Attia Viriola, 8,8Plinius der JüngereEpist. 8.8 über den Fons Clitumnus, 9,7Plinius der JüngereEpist. 9.7 über Plinius’ Villen am Comersee und 9,28Plinius der JüngereEpist. 9.28 mit dem Dank für drei Briefe, die Voconius aus Spanien gesendet hat; Voconius wird außerdem in Epist. 2,13Plinius der JüngereEpist. 2.13 einem gewissen Priscus empfohlen und in diesem Rahmen näher charakterisiert,16 und in Epist. 10,4Plinius der JüngereEpist. 10.4 bittet Plinius Kaiser Trajan, Voconius Romanus in den Senatorenstand zu erheben. Als Figur, die neben Tacitus und Calpurnius Fabatus zu den häufigsten Adressaten im Briefkorpus zählt, fungiert Voconius Romanus als eine Art „navigational landmark“ für den Leser,17 der sich innerhalb einer Vielzahl von bekannten und weniger bekannten Individuen zu orientieren versucht.

Zu den für heutige Leser vermutlich weniger bekannten Zeitgenossen des Plinius dürfte etwa Cornelius Minicianus gehören, der insgesamt drei Briefe erhält (3,9; 4,1; 8,12) und selbst Gegenstand der Epist. 7,22Plinius der JüngereEpist. 7.22 ist, wo er von Plinius für das Amt des Militärtribuns empfohlen wird. Die betreffenden Briefe sind inhaltlich und formal unterschiedlich gestaltet, insofern als es sich bei 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9 und 4,11Plinius der JüngereEpist. 4.11 um narrative Texte handelt – ein Prozessbericht und eine Art „Sensationsgeschichte“ –, während Epist. 8,12Plinius der JüngereEpist. 8.12 stärker dem Prinzip des loqui verpflichtet ist, wenn Plinius seine Gründe für den Besuch bei einer bevorstehenden Rezitation des Titinius Capito darlegt. Die kurze Epist. 7,22,Plinius der JüngereEpist. 7.22 in der Minicianus als dritte Person erscheint, ist als Empfehlungsschreiben gehalten. Im Folgenden sei die Charakterisierung des Minicianus in dieser Briefserie und seine Funktion im Rahmen der literarischen Gestaltung der einzelnen Briefe betrachtet. Beginnen wir bei Epist. 7,22 an Pompeius Falco,18 wo wir konkretere Informationen über die Figur des Minicianus erhalten. Plinius, so erfahren wir hier, hatte bereits in einem früheren Brief an Falco um das Tribunat für einen Freund gebeten und verrät nun in diesem Schreiben, um wen es sich dabei handelt (1: quis ille qualisque). Cornelius Minicianus wird daraufhin folgendermaßen beschrieben (2):

est Cornelius Minicianus ornamentum regionis meae seu dignitate seu moribus. natus splendide abundat facultatibus, amat studia, ut solent pauperes. idem rectissimus iudex, fortissimus advocatus, amicus fidelissimus.

Wie Plinius stammt auch Minicianus aus der Transpadana, genauer gesagt aus Bergamum,19 und ehrt dem Epistolographen zufolge seine Heimat durch dignitas und mores. Zudem zeichne sich Minicianus durch eine angesehene Herkunft20 und sein Vermögen sowie die Liebe zu den Studien aus. Als Richter sei er äußerst gewissenhaft, als Anwalt sehr mutig, als Freund besonders zuverlässig – man könnte meinen, es handle sich hier um ein Spiegelbild des Plinius. Auffällig an dieser laudatio ist, dass Plinius keinerlei militärische Qualifikationen nennt, die für das angestrebte Amt relevant gewesen wären.21 Stattdessen streicht er allgemeine Charakterzüge heraus, die Minicianus für eine Führungsposition empfehlen. Minicianus sei, so betont Plinius am Ende des kurzen Briefes,Plinius der JüngereEpist. 7.22 allen Ehrungen und Auszeichnungen gewachsen (3: hominem omnibus honoribus, omnibus titulis…parem) und sei dennoch ein äußerst bescheidener Mann (3: de modestissimo viro).Plinius der JüngereEpist. 7.22

Über diese Wesenszüge des Minicianus und die Tatsache, dass er offenbar jünger ist als Plinius,22 weiß der Leser noch nichts, wenn er ihm zum ersten Mal in Epist. 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9 begegnet, wo Plinius einen umfangreichen Bericht über den Repetundenprozess der Provinz Baetica gegen Caecilius Classicus an ihn adressiert.23 Der Epistolograph verzichtet hier auf eine längere Einleitung, die sein Verhältnis zum Adressaten in irgendeiner Weise näher beleuchtet, und beginnt gleich mit der Narration über den Fall (1: possum iam perscribere tibi, quantum in publica provinciae Baeticae causa laboris exhauserim). Im weiteren Verlauf dieser Erzählung wird die Person des Adressaten vorübergehend ausgeblendet, und erst am Ende integriert ihn Plinius wieder, indem er Minicianus mit Formulierungen wie concipere animo potes (24) und coniectabis ex hoc (26) direkt anspricht und dazu animiert, sich die mit dem Prozess verbundenen Mühen und Schwierigkeiten vorzustellen. Ziel der Narration war es, fährt Plinius fort, Minicianus gleichsam in die Position des Prozessbeobachters zu versetzen, ihn vom absens zum praesens zu machen (26: non potui magis te in rem praesentem perducere). Im Anschluss daran inszeniert Plinius eine Diskussion mit seinem Adressaten, indem er diesen als Interlokutor gegen die Länge des Briefes protestieren lässt (27: dices: ‘non fuit tanti; quid enim mihi cum tam longa epistula?’) und ihm dann antwortet, er möge nicht dauernd fragen, was in Rom geschehe (27: nolito ergo identidem quaerere, quid Romae geratur). Plinius spielt hier auf MartialsMartial2 praef. Prosavorrede zum zweiten Buch der Epigramme an, wie in einem späteren Kapitel noch ausführlicher besprochen wird.24 Während bei Martial der Widmungsträger des liber, ein gewisser Decianus, die Kombination eines Epigrammbuches mit einer Prosaepistel kritisiert und mit seiner Beschwerde verhindert, dass der Dichter seine Prosavorrede noch weiter in die Länge zieht, verhält es sich bei Plinius genau umgekehrt: Hier trägt der fingierte Einwand des Adressaten dazu bei, dass Plinius den Brief noch weiter ausdehnt, nachdem er Minicianus – ähnlich wie Apollinaris in Epist. 5,6,44Plinius der JüngereEpist. 5.6.44 – darüber belehrt hat, dass die Länge des Briefes durch die komplexe Struktur des Falles gerechtfertigt sei (27: memento non esse epistulam longam, quae tot dies, tot cognitiones, tot denique reos causasque complexa sit).25 Plinius ist der Ansicht, dass er alles sowohl breviter als auch diligenter geschildert habe (28), muss sich dann aber gleich korrigieren (28: temere dixi ‘diligenter’), da ihm nun ein Detail einfällt, dass er vergessen hat und nach dem Vorbild Homers nachtragen will (28‒35). Auf diese erste false closure folgt noch eine weitere, wenn Plinius abermals etwas ausgelassen zu haben bemerkt (36: rursus paene omisi) und erst nach dem zweiten Nachtrag seinen Brief tatsächlich beendet (37).26

 

Als Adressat dieses Briefes bleibt Minicianus eine relativ stereotype Figur, die sich offenbar irgendwo außerhalb Roms aufhält und von Plinius als neugierig bezüglich der Ereignisse in der Hauptstadt charakterisiert wird. Die Aussage, Minicianus wolle ständig wissen, was in Rom passiert (27), suggeriert dem Leser, dass Minicianus und Plinius bereits in einem längeren Austausch stehen, wenngleich man innerhalb der Briefsammlung diese Konstellation von Adressant und Adressat zum ersten Mal in Epist. 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9 antrifft. Plinius konstruiert seinen Adressaten als Dialogpartner, mit dem er über Aspekte wie angemessene Länge und Reihenfolge einer Erzählung diskutiert. Durch die Anspielung auf Martial, dessen zweite ProsaepistelMartial2 praef. größtenteils aus der Protestrede des Interlokutors besteht, wird Minicianus einerseits in die Tradition dieser Figuren gestellt, andererseits indirekt als Kenner der Epigrammbücher charakterisiert, wenn er mit denselben Worten spricht wie Martials Adressat der Epistel am Beginn von Buch 2.Plinius der JüngereEpist. 3.9

Nach dem Prozessbericht in Epist. 3,9 begegnet uns Minicianus erneut in Epist. 4,11,Plinius der JüngereEpist. 4.11 diesmal als Rezipient einer Skandal-Geschichte, die sich um den Verbannten Valerius Licinianus und die unter Domitian wegen Inzests verurteilte Vestalin Cornelia dreht.27 Nach Epist. 3,9 behandelt auch 4,11 zunächst eine Geschichte aus der Welt der Redner, wodurch suggeriert wird, dass der Adressat sich besonders für diese Themen interessierte. Der Beginn des Schreibens 4,11Plinius der JüngereEpist. 4.11 vermittelt den Eindruck einer gewissen Sensationslust, die die beiden Briefpartner vereint (1: audistine Valerium Licinianum in Sicilia profiteri?), wenn Plinius zunächst vom sozialen Abstieg des nach Sizilien verbannten Licinianus erzählt (1‒3).28 Bei der Tätigkeit des Licinianus als Redelehrer handle es sich einerseits um eine Neuigkeit (1: recens nuntius), andererseits um ein tragisches Schicksal, da nicht nur aus einem einstigen Senator und „Staranwalt“ (1: inter eloquentissimos causarum actores) ein Verbannter, sondern aus einem orator gleichzeitig ein rhetor wurde (2). Seinen Adressaten unterhält Plinius außerdem mit dem Zitat eines Ausspruchs des Licinianus, den dieser in der Vorrede zu einem Vortrag getätigt haben soll (2): quos tibi, Fortuna, ludos facis? facis enim ex senatoribus professores, ex professoribus senatores. Bemerkenswert sei dieses bon mot29 nicht nur wegen seines Pathos (2: dolenter et graviter), sondern insbesondere wegen seiner Bitterkeit (2: tantum bilis, tantum amaritudinis), wodurch man den Eindruck gewinne, dass Licinianus nur deshalb Redelehrer geworden sei, damit er Sentenzen wie diese zum Besten geben könne (2: ut mihi videatur ideo professus, ut hoc diceret). Mit dieser pointierten Feststellung liefert Plinius zugleich sein eigenes rhetorisches Gegenstück zum geistreichen Ausspruch des Licinianus. Eine weitere Anekdote, von der Plinius dem Adressaten berichtet, besteht darin, dass der verbannte Licinianus nicht in der Toga auftreten durfte, sondern ein griechisches pallium trug,30 jedoch trotz seiner Montur verkündete, auf Latein vortragen zu wollen (3: ‘Latine’, inquit, ‘declamaturus sum’). Der Widerspruch zwischen dem griechischen Habitus und der lateinischen Deklamation erinnert an die schon in Epist. 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9 evozierte Vorrede zu Buch 2Martial2 praef. der Martial-Epigramme, wo der Interlokutor Decianus die Kombination von Epigrammen und Prosaepistel mit dem Auftritt eines Tänzers in einer Toga vergleicht und als lächerlich bezeichnet.31 Zudem lässt der Gegensatz zwischen pallium und toga an die in fabula palliata und fabula togata unterteilte römische Komödie denken,32 wodurch der Auftritt des Licinianus demjenigen eines komischen Schauspielers ähnelt.

Nicht als komisch, sondern tragisch dürfte der Adressat, so mutmaßt Plinius, das Schicksal des Licinianus empfinden (4): dices tristia et miseranda, dignum tamen illum, qui haec ipsa studia incesti scelere macularit. Mit dem Gerundiv miserandus wird der in der aristotelischen TragödientheorieAristotelesPoet. 6.1449b diskutierte Begriff des ἔλεος evoziert,33 und auch das scelus incesti ist – freilich in einer etwas anderen Ausprägung – ein in der Tragödie beheimatetes Motiv, insbesondere im Ödipus-Drama.34 Die Überleitung von den jüngsten Neuigkeiten über Licinianus zu einem Vorfall in der Zeit des Domitian legt Plinius seinem Adressaten in den Mund, der sich hier als Interlokutor in indirekter Rede äußert und meint, Licinianus habe sein Schicksal verdient, da er die studia durch das scelus incesti entehrte. Mit dieser Äußerung wird dem Leser suggeriert, dass der Adressat die Geschichte über den Inzest-Skandal bereits kennt und dass seine Zwischenbemerkung die weitere Narration motiviert. Nachdem Plinius die neuesten Informationen über Licinianus präsentiert und mit der Geschichte an ihrem Ende begonnen hat (1‒3),35 fingiert er nun eine Diskussion mit dem Adressaten, der Licinianus für schuldig hält, während Plinius dies zunächst infrage stellt (5: confessus est quidem incestum, sed incertum, utrum quia verum erat, an quia graviora metuebat, si negasset) und dann mit der Erzählung über die Verurteilung der Vestalin CorneliaPlinius der JüngereEpist. 4.11 fortfährt. Illias-Zarifopol (1994: 34) interpretiert diese von Plinius geäußerten Zweifel über die Schuld des Licinianus als Versuch, die Lektüre der weiteren Erzählung zu steuern und dem Leser zu suggerieren, dass auch die Vestalin unschuldig sei. Die von diesem Skandal handelnde Narration des Briefes (5‒13) lässt sich, nicht zuletzt wegen der vielen Figurenreden,36 als tragische Geschichtsschreibung in epistolarem Format interpretieren,37 in deren erster Szene ein wutentbrannter Domitian auftritt (5: fremebat enim Domitianus aestuabatque in ingenti invidia destitutus),38 der uns in der gesamten Briefsammlung nur hier als handelnde Figur begegnet.39 Domitians Albaner Landhaus ist der Schauplatz des ersten Aktes (6), wo der Kaiser die Vestalin Cornelia in ihrer Abwesenheit wegen Inzest verurteilt und lebendig begraben lassen will. Als Erzähler spart Plinius hier nicht mit Bewertungen, wenn er diese Tat als Zeichen der immanitas tyranni und als Verbrechen bezeichnet, das demjenigen, über das geurteilt wurde, um nichts nachstand, zumal Domitian selbst seine eigene Nichte nicht nur geschändet, sondern sogar getötet haben soll, da sie an den Folgen einer Abtreibung verstarb.40 Der zweite und mittlere Akt (7‒10) bildet zweifellos die Klimax der Erzählung und handelt von der Hinrichtung der Vestalin in einer unterirdischen Kammer sowie von der Bestrafung ihres angeblichen Liebhabers Celer auf dem Comitium. Beide Figuren betonen ihre Unschuld in direkter Rede (7: me Caesar incestam putat, qua sacra faciente vicit triumphavit!; 10: quid feci? nihil feci!), wobei sich Plinius bei den Worten der CorneliaPlinius der JüngereEpist. 4.11 fragt, ob sie ernst gemeint waren oder Domitian verspotten sollten (8).41 Auch über Schuld oder Unschuld der Vestalin will der Erzähler kein Urteil fällen (8: nescio an innocens), hält aber fest, dass sie tamquam innocens (8) abgeführt worden sei. Als man sie nämlich ins subterraneum hinabführte, blieb sie mit der Stola hängen, und als der Henker ihr helfen wollte, wies sie seine Berührung energisch zurück, quasi plane a casto puroque corpore (9), was Plinius mit einem Zitat aus EuripidesEuripidesHec. 569 kommentiert (9): omnibusque numeris pudoris πολλὴν πρόνοιαν ἔσχεν εὐσχήμων πεσεῖν. Plinius greift hier einen Vers aus der euripideischen Hekabe heraus, der zum Bericht des Herolds Talthybios über den Tod der Polyxena durch die Hand des Neoptolemos gehört,42 und signalisiert dadurch abermals die Nähe seiner Erzählung zum Drama sowie die seiner eigenen Person zu einem tragischen Berichterstatter.