Epistolare Narrationen

Text
Aus der Reihe: Classica Monacensia #55
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

2 Epistolographie und Narratologie

Moderne Erzähltheorien haben sich in der Klassischen Philologie mittlerweile gut etabliert, insbesondere die Methoden der narratologischen Analyse, wie sie etwa Gérard Genette entwickelte, erweisen sich auch für die Arbeit mit antiken Texten als fruchtbar.1 So existieren inzwischen zahlreiche Studien, in denen Epen, Dramen, historische und biographische Werke, Reden, Romane sowie gelegentlich auch kleinere poetische Genres unter Zuhilfenahme narratologischer Ansätze analysiert werden.2 Was die antike Epistolographie betrifft, hat man sich hier insbesondere auf Briefromane und fiktionale Briefe konzentriert,3 wohingegen Sammlungen von Privatbriefen wie diejenige des jüngeren Plinius noch wenig aus der Perspektive der modernen Erzählforschung untersucht worden sind, wenn man von Interpretationen einzelner Briefe einmal absieht.4 Dies liegt einerseits sicherlich daran, dass dieses Briefkorpus lange Zeit eher als historische Quelle denn als literarischer Text angesehen wurde, und andererseits an der formalen Struktur der Briefsammlung. Im Gegensatz zu durchgängig narrativen Texten wie Epen, Historien oder Romanen, die in der Regel den Gegenstand narratologischer Analysen bilden, zerfallen Briefsammlungen in zahlreiche Einzeltexte, die sich an unterschiedliche Adressaten richten können, je nach Thema und Adressat durch verschiedene Sprechhaltungen des Briefschreibers auszeichnen und in denen jeder Brief räumlich und zeitlich ganz unterschiedlich verortet sein kann. In seiner Studie zu Ciceros Briefen weist Hutchinson (1998) auf die Schwierigkeit hin, epistolare Narrationen mit den gängigen modernen Theorien zu erfassen:

„These narrative letters…cut across the categories of narrative most considered by modern discussions…the narratives that we find in the letters look a peculiar mixture. Here we find accounts of actual events, but narrated from shortly after them, and often by a first person identified both with a principal character in the action and with the writer.“5

Durch ihren kommunikativen Rahmen unterscheiden sich briefliche Narrationen zwar von anderen Gattungen, machen sich jedoch auch die Konventionen dieser Genres zunutze. Ciceros Briefe wurden in der Form, wie sie uns überliefert sind, wohl nicht vom Verfasser selbst publiziert, sondern von späteren Herausgebern zusammengestellt.6 Anders verhält es sich mit dem Briefkorpus des jüngeren Plinius, der sein Werk selbst edierte; neben den einzelnen „narrative letters“ muss bei Plinius somit auch der Buch- bzw. Sammlungskontext mitberücksichtigt werden. Eine narratologische Untersuchung der auf den ersten Blick heterogen wirkenden Plinius-Briefe kann nach ähnlichen Kriterien erfolgen, wie es Liveley und Salzman-Mitchell (2008: 2) am Korpus der römischen Elegien demonstriert haben:

„Although this body of literature does not tell a continuous story in the sense of Callimachus’ ’aisma dienekes [sic], yet many stories surface in the web of the poems at different narrative levels…Throughout elegy there are many embedded tales – narratives in their own right – located within and interacting with the primarily nonnarrative structure of the external frame-text.“

Auch im Fall des Jüngeren Plinius, der sein Briefkorpus in Anlehnung an Gedichtbücher bewusst komponiert und arrangiert sowie selbst publiziert hat,7 dürfte eine narratologische Analyse lohnend sein. Ähnlich wie das elegische „web of poems“8 weist auch das dem Prinzip der variatio verpflichtete „web of letters“ des Plinius mehrere narrative Linien auf, die der Leser im Zuge der Lektüre zu rekonstruieren animiert wird.9 Anstelle einer linearen Narration haben wir es dabei meist mit einer fragmentierten bzw. elliptischen Form der Erzählung zu tun. So betont etwa Altman (1982): „Letter narrative is elliptical narration. Paradoxically many of its narrative events may be nonnarrated events of which we see only the repercussions.“10 Newlands (2010) argumentiert, dass die Briefe des Plinius sich, ähnlich wie die Silvae des Statius, mit Zeitgeschichte befassen, jedoch nicht „in a grand narrative“, sondern „as a series of isolated occasions“.11 Ash (2013a) weist im Rahmen ihrer Analyse des Briefzyklus über Regulus darauf hin, dass die Briefsammlung unterschiedliche Modi der Lektüre suggeriert: Während der Leser der publizierten Bücher eine sich von Buch 1 bis Buch 6 erstreckende „Regulus narrative“ mitverfolgen kann, erhalten die verschiedenen Adressaten dieser Briefe nur die Fragmente dieser Narration.12 Ähnliches gilt auch für andere Briefzyklen, die sich über das Korpus erstrecken und die einzelnen Bücher miteinander verbinden. Die narrative Organisation des epistolaren Korpus sowie einzelner Bücher, wo narrative Linien zwar angedeutet, jedoch nicht stringent durchgezogen werden, lässt sich mit dem Konzept der „weak narrativity“ beschreiben, wie es von McHale (2001) entwickelt wurde.13 McHale konstatiert im Rahmen der Analyse von Lyn Hejinians Gedicht Oxota: a Short Russian Novel (Great Barrington, MA, 1991) Folgendes (McHale 2001: 162):

Oxota lacks a “main” narrative; rather, it incorporates a proliferation of “minor” narrative genres: anecdotes, gossip and hearsay, jokes, dream narratives, ekphrases of paintings with a narrative content. Moreover, it fragments these minor narratives and disperses them across noncontinguous lines or even noncontinguous chapters, interleaving alien materials. To us readers, then, falls the task of determining what belongs with what, of reassembling the scattered narrative fragments.“

Das von McHale Gesagte lässt sich auch an Briefsammlungen wie derjenigen des jüngeren Plinius beobachten, in der wir anstelle einer „main narrative“ mehrere „minor narratives“ vorfinden. Von der „weak narrativity“ eines Briefbuches oder Briefkorpus, das in chronologischer, räumlicher und thematischer Hinsicht heterogene Texte vereint, ist jedoch die „narrativity“ einzelner Briefe zu unterscheiden, die man mitunter keinesfalls als „weak“ bezeichnen kann: So bilden etwa Plinius’ Berichte über Prozesse, verschiedene Mirabilien und andere Vorfälle stringente und in sich geschlossene Erzählungen, wie in den folgenden Kapiteln noch stärker herausgearbeitet werden soll.

Eine narratologische Analyse ausgewählter Pliniusbriefe unter Rekurs auf die theoretischen Ansätze Genettes hat Illias-Zarifopol (1994) unternommen.14 Gegenstand ihrer Arbeit sind die Briefe 4,11, 3,16 und 7,19 („Historical Narratives“) bzw. 1,5, 3,11, 7,33 und 9,13 („Personal Narratives“), in denen immer wieder die Regierungszeit Domitians ein zentrales Thema darstellt. Illias-Zarifopol bietet überzeugende Interpretationen der einzelnen Episteln, in denen sie narrative Strategien aufdeckt und darlegt, wie Plinius „the reader’s perception of the material“ (3) kontrolliert. Die Untersuchung konzentriert sich allerdings stark auf einzelne Briefe, die als „self-conscious narrative entities“ bezeichnet werden (3). Auf den Buchkontext und die Organisation bzw. lineare Entfaltung dieser „Domitian-Narration“ sowie ihre Interaktion mit weiteren narrativen Linien bzw. Briefzyklen im Korpus wird hingegen wenig Rücksicht genommen. Die vorliegende Arbeit verdankt der Studie von Illias-Zarifopol wertvolle Anregungen und hat unter anderem das Ziel, die dort angestellten Beobachtungen weiterzuführen und zu vertiefen.

Mehrere Forscher haben bereits darauf hingewiesen, dass die Briefsammlung, in der die Selbstdarstellung des Epistolographen eine wichtige Rolle spielt, an eine Autobiographie erinnert15 und die Lektüre dieses Makrotextes durch die Anordnung der Briefe gesteuert wird. Unter Rückgriff auf die narratologische Terminologie könnte man also zwischen den drei vertikalen narrativen Ebenen text (der Text, den ein Leser/Hörer rezipiert), story (die vom Erzähler präsentierte Geschichte) und fabula (die der story zugrunde liegenden Ereignisse, die der Rezipient selbst rekonstruiert)16 unterscheiden, d.h. zwischen den literarischen Strategien, mit denen der Epistolograph verschiedene Aspekte seiner Vita und sozialen Interaktionen durch Auswahl und Anordnung einzelner Texte präsentiert (story) sowie der Biographie des Plinius, die der Rezipient durch die Lektüre des Briefkorpus chronologisch rekonstruiert und ergänzt (fabula). In diesem Zusammenhang sind nicht nur solche Briefe relevant, die nach antiker Auffassung die Funktion des narrare erfüllen, indem sie von konkreten Handlungen und Ereignissen berichten, sondern auch solche Schreiben, die stärker dem Prinzip des loqui/iocari verpflichtet sind; innerhalb der die Briefsammlung durchziehenden bzw. vom Leser rekonstruierten narrativen Linien können somit auch Briefe der letzteren Kategorie – nicht selten hat man sie als bloße „Fülltexte“ abgetan und nicht weiter beachtet17 ‒ wichtige Informationen liefern (indem sie z. B. verschiedene Stimmungen und Emotionen ausdrücken), wenn man sie im Kontext liest.

Sowohl die Struktur der Briefsammlung macht es nötig, narratologische Ansätze entsprechend zu adaptieren, als auch das Problem, dass wir die Plinius-Briefe weder eindeutig als fiktionale noch rein faktuale Texte klassifizieren können. In seiner Korrespondez mit verschiedenen Zeitgenossen sowie Kaiser Trajan suggeriert Plinius dem Leser, dass es sich hier um authentische Briefe handelt, die der Epistolograph, wie er in Epist. 1,1Plinius der JüngereEpist. 1.1 betont, auf Wunsch eines Freundes gesammelt und publiziert hat, ohne sich um eine weitere Überarbeitung oder Organisation der Texte zu bemühen. Der Rezipient nimmt somit in weiterer Folge die Rolle des stummen Zeugen verschiedener Phasen der Kommunikation zwischen Plinius und seinen Briefpartnern ein. In Spannung zu diesem Eindruck von Authentizität stehen Pliniusʼ literarische Kunstgriffe und seine wiederholten Anleihen an poetischen Werken.18 Zudem kann der Leser der Briefsammlung Zusammenhänge zwischen den einzelnen Texten herstellen, die sich den jeweiligen Adressaten nicht erschließen. Dass eine eindeutige Scheidung zwischen „real“ oder „fiktiv“ im Falle der Plinius-Briefe schwierig ist, betont etwa Shelton (1990: 171): „The debate about whether Pliny’s letters are real or fictitious has no objective solution“. Einen Mittelweg zwischen den beiden Gegensätzen schlägt Altman (1982) in ihrer Studie zum Briefroman mit dem Konzept der „epistolarity“ ein, das sich auch für die Untersuchung der Korrespondenz des Plinius als nützlich erweist: Unter dem Begriff „epistolarity“ versteht Altman „the use of the letter’s formal properties to create meaning“.19 An die Stelle der Einordung eines Briefes bzw. eines darin behandelten Ereignisses als entweder real oder fiktiv20 tritt hier die Frage, wie die Gattungskonventionen der Epistolographie die Darstellung von Handlungen, Personen, Gegenständen etc. beeinflussen. Dadurch, dass Pliniusʼ Prosabriefe zwar vorgeben, reale Ereignisse zu thematisieren, dabei aber verschiedene literarischer Kunstgriffe anwenden, sind sie in mancherlei Hinsicht mit der antiken Historiographie vergleichbar, deren Nähe zur Poesie bereits von antiken Lesern konstatiert wurde.21 Dafür, dass sich historiographische Erzählungen nach denselben narratologischen Kriterien untersuchen lassen wie fiktionale Texte, haben sich Theoretiker wie Roland Barthes, Hayden White und Gérard Genette22 ausgesprochen, wohingegen Dorrit Cohn23 dafür plädierte, zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Werken bei folgenden Aspekten („signposts of fictionality“) stärker zu differenzieren:24 Den drei vertikalen narrativen Ebenen text, story und fabula müsse bei historiographischen Texten noch eine vierte hinzugefügt werden, die sie als material bezeichnet, und die Quellen, Prätexte, frühere Versionen und dergleichen umfasst.25 Auch in Bezug auf die Organisation der Zeit sowie die Möglichkeiten zur Fokalisierung unterscheiden sich Cohn zufolge fiktionale und nicht-fiktionale Erzählungen; zudem müsse man in nicht-fiktionalen Texten nicht zwischen Autor und Erzähler unterscheiden, wie es bei fiktionalen Texten üblich ist.26 Diesen Forderungen hat Irene de Jong entgegengehalten, dass sich in der antiken Historiographie sehr wohl diejenigen Merkmale beobachten lassen, die Cohn nur fiktionalen Texten zusprechen will: Dazu gehören etwa vielfältige Methoden der Fokalisierung, Dramatisierung und Einbettung bühnenhafter Szenen, das Auschmücken von Ereignissen (amplificatio) und auch das Konstruieren einer persona des Historiographen, die sich nicht ohne weiteres mit dem historischen Autor gleichsetzen lässt.27 Allerdings zeichnen sich John Marincola zufolge historiographische Werke eben dadurch aus, dass der Autor zwar eine den historischen Stoff vermittelnde persona kreiert, der Text seine Glaubwürdigkeit jedoch dadurch generiert, dass der Leser diese persona mit dem realen Autor identifiziert.28

 

Wie im Laufe der Analyse der Plinius-Briefe ersichtlich wird, lässt sich auch das Briefkorpus mit ähnlichen narratologischen Fragestellungen untersuchen, wenngleich an die Stelle einer durchgängigen Historie die fragmentierte Textualität einer Sammlung von Einzelbriefen sowie das die Darstellung bestimmende Prinzip der „epistolarity“ tritt. Im Folgenden sei das Briefkorpus im Hinblick auf zentrale Kategorien, die in narratologischen Studien immer wieder diskutiert werden,29 kurz skizziert: Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen Autor, Sprecher/Erzähler und Rezipient (narrator/narratee)? Welche Techniken der Perspektivierung bzw. Fokalisierung wendet Plinius an? Wie sind Zeit und Raum im Briefkorpus organisiert? Wie werden Adressaten und handelnde Figuren charakterisiert?

2.1 Epistolare Stimmen

Der epistolare Rahmen der Briefsammlung bringt es mit sich, dass wir mehrere Ebenen der Kommunikation zwischen Autor bzw. Erzähler und Rezipient unterscheiden können: Zunächst einmal ist da ein Autor namens C. Plinius Caecilius Secundus, der ein Briefkorpus publiziert hat, um damit einen größeren Leserkreis anzusprechen. Das Briefkorpus insgesamt dürfte nicht zuletzt auf die positive Selbstdarstellung dieses Plinius vor seinen Zeitgenossen sowie der Nachwelt abzielen.1 Auf einer zweiten Ebene finden wir dann sozusagen das epistolographische Ich bzw. die persona dieses Plinius, d.h. den Schreiber, der auch Sprecher der einzelnen Briefe ist, die an unterschiedliche Adressaten gerichtet sind.2 Wenngleich die Einzelbriefe verschiedene Themen behandeln und sich auch durch unterschiedliche Sprechhaltungen der persona des Briefschreibers auszeichnen,3 fällt dennoch auf, dass diese persona über die gesamte Briefsammlung hinweg relativ einheitlich charakterisiert ist.4 Dies trägt zur Kohärenz des Gesamtkorpus bei und animiert den Leser außerdem, aus den Briefen eine Biographie des Sprechers zu rekonstruieren. Da es sich hier auch um die Stimme handelt, die das Briefkorpus dominiert, können wir sie mit dem „primary narrator“ einer Erzählung wie in Epos, Roman oder Geschichtswerk vergleichen.5 Das epistolographische Ich bzw. der „primary narrator“ ist zugleich auch ein „internal narrator“ oder gar autodiegetischer Erzähler, da seine Person im Zentrum steht und er in zahlreichen Briefen als handelnde Figur auftritt,6 die auf intradiegetischer Ebene immer wieder mit anderen handelnden Figuren kommuniziert – dies geschieht allerdings zumeist mündlich, sodass wir in die schriftliche Korrespondenz auf der Ebene des „primary narrator“ häufig eine mündliche Kommunikation zwischen einem „secondary narrator“ und „secondary narratee“ eingebettet haben. Im Rahmen der Briefsammlung hat der „internal primary narrator“ mit den verschiedenen Briefadressaten zahlreiche korrespondierende „internal primary narratees“, an die er seine Ausführungen richtet; zugleich werden diese Kommunikationsakte vom allgemeinen Leser als „external narratee“ mitverfolgt,7 der die einzelnen Briefe in eine größere Narration von Pliniusʼ Biographie einzuordnen und sein soziales Netzwerk zu überblicken versucht.

Einen besonderen Status in diesem kommunikativen Geflecht nimmt der bereits oben diskutierte Brief 1,1Plinius der JüngereEpist. 1.1 ein, mit dem Plinius seine Sammlung eröffnet und in dem er sich zur Publikation der Briefe äußert.8 Zwar ist dieser Brief, der zugleich die Funktion einer praefatio hat, nicht explizit an den allgemeinen Leser, sondern an Septicius Clarus gerichtet, doch lassen die meta-epistolaren Aussagen den Rezipienten glauben, hier den realen Autor des gesamten Korpus sprechen zu hören, nicht nur den Verfasser einzelner Briefe. Die Konstellation ist hier mit derjenigen vergleichbar, die Pausch (2011) am Geschichtswerk des Livius beobachtet hat: Ihm zufolge lassen sich in Ab urbe condita zwei Stimmen des Livius unterscheiden, nämlich die des Erzählers, der aus einer allwissenden Perspektive von der römischen Geschichte handelt, und die des Autors, der sich in den praefationes zur Genese seiner Historie äußert oder im Zuge der Narration verschiedene Überlieferungsvarianten diskutiert.9 Bei Plinius können wir möglicherweise sogar drei verschiedene Stimmen unterscheiden: Die des Autors Plinius, der sich zur Genese seiner Briefbücher10 sowie zu den Konventionen seiner Gattung11 äußert, die des Verfassers einzelner Briefe an einzelne Adressaten sowie die des Plinius als handelnde Figur in einzelnen Erzählungen. Der Rezipient freilich bezieht all diese Stimmen auf dieselbe Person, sodass wir im Fall der Briefe eine ähnliche narrative Identität vorliegen haben, wie sie Genette zufolge für die Autobiographie typisch ist: Autor (A) = Erzähler (N) = Person (P).12

Wie oben ausgeführt wurde, dominiert in der Briefsammlung diejenige Stimme, die sich an verschiedene Adressaten zu verschiedenen Themen und mit unterschiedlicher Sprechhaltung richtet, wohingegen die Stimme des Autors des gesamten Briefkorpus lediglich einmal an programmatischer Stelle in Epist. 1,1, durchscheint. Will man die den Makrotext beherrschende Stimme des Verfassers einzelner Briefe mit derjenigen eines homo- bzw. autodiegetischen Erzählers oder „internal primary narrator“ gleichsetzen, dann fällt als erstes ins Auge, dass wir es nur selten mit einem distanzierten bzw. allwissenden Erzähler zu tun haben, viel häufiger jedoch mit einem Sprecher, der seine Adressaten (sowie den allgemeinen Leser) an seiner Wahrnehmung der Dinge sowie an seinen Gedanken, Zweifeln und Emotionen teilhaben lässt. Die Gattung Brief setzt also von vornherein einen gewissen Grad an Perspektivierung und Fokalisierung voraus, und dies umso mehr, als man in der antiken Theorie den Brief bekanntlich als „Spiegel der Seele“ sowie als Zeugnis für den Charakter des Verfassers betrachtete.13 Man kann also sagen, dass mehr oder weniger jeder Brief einen Akt der Fokalisierung darstellt, indem sich der Sprecher abwechselnd freudig, besorgt, traurig, wütend, zweifelnd, nachdenklich, neugierig, selbstsicher, stolz usw. oder auch relativ neutral bzw. distanziert präsentiert. Häufig finden sich schon am Anfang des betreffenden Briefes Hinweise auf die Gemütslage des Sprechers, wie etwa in Epist. 1,15Plinius der JüngereEpist. 1.15.1 an Septicius Clarus, der einer Einladung zum Abendessen nicht nachgekommen ist: Mit dem Ausruf heus tu! und der Frage promittis ad cenam nec venis? (1) bringt Plinius (scherzhaft) seine Empörung zum Ausdruck. In anderen Briefen wiederum begegnen wir ihm in besorgter oder gar angstvoller Stimmung, etwa wenn es um den Gesundheitszustand von Freunden geht (1,22,1Plinius der JüngereEpist. 1.22.1: perturbat me longa et pertinax valetudo Titi Aristonis; 7,1,1Plinius der JüngereEpist. 7.1.1: terret me haec tua tam pertinax valetudo; 7,19,1Plinius der JüngereEpist. 7.19.1: angit me Fanniae valetudo), oder in Trauer über den Tod verschiedener Personen (1,12,1Plinius der JüngereEpist. 1.12.1: iacturam gravissimam feci…decessit Corellius Rufus…quod dolorem meum exulcerat; 7,30,1Plinius der JüngereEpist. 7.30.1: torqueor, quod discipulum…amisisti; 8,23,1Plinius der JüngereEpist. 8.23.1: …dolor, quem ex morte Iuni Aviti gravissimum cepi). Erfreut zeigt sich Plinius etwa über die Freundschaft zwischen Saturninus und Priscus (7,7,1Plinius der JüngereEpist. 7.7.1: …est enim mihi periucundum; 7,8,1Plinius der JüngereEpist. 7.8.1: exprimere non possum, quam iucundum est mihi), von Sehnsucht gequält präsentiert er sich in einem Brief an seine Gattin Calpurnia, die in Kampanien weilt (7,5,1Plinius der JüngereEpist. 7.5.1: incredibile est, quanto desiderio tui tenear). Eine Art Schadenfreude scheint der Sprecher in Epist. 1,5 gegenüber Regulus zu empfinden, der sich nach dem Tod Domitians ängstlich und kriecherisch verhält (1,5,1Plinius der JüngereEpist. 1.5.1: vidistine quemquam M. Regulo timidiorem, humiliorem post Domitiani mortem?). Verächtlich und zugleich verärgert zeigt sich Plinius, als er über die Ehreninschrift für Pallas, den Freigelassenen des Kaisers Claudius, berichtet (7,29,1Plinius der JüngereEpist. 7.29.1: ridebis, deinde indignaberis, deinde ridebis; vgl. 8,6).

In denjenigen Briefen, die stärker dem Prinzip des narrare verpflichtet sind und in denen handelnde Figuren auftreten, wird mitunter auf die Perspektive dieser Figuren fokalisiert – sei es, dass Plinius selbst als handelnde Person in Erscheinung tritt, sei es, dass andere Figuren betroffen sind. So schildert Plinius etwa in Epist. 2,11Plinius der JüngereEpist. 2.11.11 seinePlinius der JüngereEpist. 2.11.11 Aufregung vor seinem Auftritt als Redner vor Kaiser und Senat im Prozess gegen Marius Priscus (11): imaginare, quae sollicitudo nobis, qui metus…tunc me tamen ut nova omnia novo metu permovebant.14 In Epist. 9,13Plinius der JüngereEpist. 9.13 gewinnen wir Einblick in die Gedanken des Plinius vor der Anklage des Publicius Certus im Senat.15 Ein schlechter Traum sucht den jungen Plinius in Epist. 1,18Plinius der JüngereEpist. 1.18 vor einem Prozess heim, in dem er einen gewissen Iunius Pastor vertritt. In Epist. 1,5Plinius der JüngereEpist. 1.5 wird die Furcht des M. Aquilius Regulus vor Plinius nach dem Tode Domitians durch direkte und indirekte Rede zum Ausdruck gebracht.16 Der Brief 2,20Plinius der JüngereEpist. 2.20 wiederum charakterisiert Regulus als üblen Erbschleicher und gibt in diesem Zusammenhang dessen Gedanken und Überredungsversuche wieder. Epist. 6,16Plinius der JüngereEpist. 6.16 schildert die Beweggründe des älteren Plinius, den Vesuvausbruch näher zu untersuchen, zum Teil aus dessen Perspektive.17

 

Ein Mittel, durch das immer wieder stärker auf die Perspektive einer handelnden Figur fokalisiert wird und Plinius als Erzähler-Instanz in den Hintergrund tritt, ist das der indirekten und direkten Rede. Insbesondere die direkte Rede verleiht der Darstellung einen stärker mimetischen Charakter, und Plinius macht in mehreren seiner Briefe ausführlich davon Gebrauch, wenn er Dialoge zwischen handelnden Figuren, zu denen auch er selbst gehört, in einen epistolaren Rahmen integriert.18 Der Brief 1,5Plinius der JüngereEpist. 1.5 etwa enthält einen Wortwechsel zwischen Plinius und seinem Kontrahenten Regulus vor Gericht (5‒7), sowie weitere Dialoge zwischen Regulus und Spurinna (8), Plinius und Spurinna (9‒10) und abermals Plinius und Regulus (11‒14); die beiden Dialoge zwischen Plinius und Regulus stehen einander diametral gegenüber, der erste Wortwechsel spielt in der Zeit Domitians und illustriert die Gefährlichkeit des Regulus als Ankläger, der zweite fällt in die Zeit nach dem Tod des Kaisers und zeigt Regulus voll Angst vor dem Zorn des Plinius. Zudem werden in diesem Brief die mündlichen Reden durch Zitate aus Schriftstücken ergänzt, einmal aus einem liber des Regulus, wo dieser über Arulenus Rusticus herzieht (2: Stoicorum simiam…Vitelliana cicatrice stigmosum), und als Gegenstück dazu aus einem Brief des Mettius Modestus, der Regulus als omnium bipedum nequissimus bezeichnet (14).19

Besonders in Briefe, die über Prozesse berichten, streut Plinius häufig direkte Reden ein, insbesondere seine eigenen Worte, die seine rhetorische Schlagfertigkeit illustrieren: So etwa in Epist. 3,9Plinius der JüngereEpist. 3.9 über den Fall des Caecilius Classicus, wo Plinius neben einem Ausspruch der Baetiker (3: dedi malum et accepi) und einem virtuellen Dialog aus seiner Rede (21: dicet aliquis ‘iudicas ergo?’; ego vero non iudico, memini tamen me advocatum ex iudicibus datum) seine Antwort auf den Einwand eines Richters (25) sowie die Worte des Adressaten als Interlokutor (27) wiedergibt.20 Auch Epist. 5,1Plinius der JüngereEpist. 5.1, wo es um eine Erbschaft und einen Prozess vor dem Zentumviralgericht geht, ist durch mehrere direkte Reden angereichert, die vor allem Gespräche zwischen Plinius und dem von seiner Mutter enterbten Asudius Curianus betreffen, wobei wir hier in erster Linie die Worte des Plinius vernehmen (4‒6; 9‒10).21 In Epist. 7,6Plinius der JüngereEpist. 7.6 über die Verteidigung des Varenus gegen die Bithynier streut Plinius seinen Wortwechsel mit dem gegnerischen Anwalt Nigrinus ein, wobei hier in direkter Rede ausgerechnet die Gründe des Plinius, sich im Prozess in Schweigen zu hüllen, vorgetragen werden (4‒5). In den Brief über die Verhandlung des Varenus ist außerdem eine Digression über einen früheren Prozess eingelegt (8‒13), bei dem Plinius ebenfalls durch Schweigen triumphieren konnte. Auch diese Narration enthält neben einem Bonmot des Passienus Crispus (11) direkte Reden des Anwalts Iulius Africanus und des Plinius (11‒12).22 Wie ein kleines Gerichts-Drama liest sich auch Epist. 7,33Plinius der JüngereEpist. 7.33, wo Plinius von seinem gemeinsamen Auftritt mit Herennius Senecio gegen den Delator Baebius Massa während der Herrschaft Domitians berichtet: Auf einen Dialog des Senecio mit Plinius (4‒6) folgt ein Wortwechsel in indirekter Rede zwischen Plinius, Senecio und Massa, in dem Senecio von Massa wegen impietas belangt wird (7). Dies ruft allgemeines Entsetzen hervor, doch Plinius hebt sich davon durch eine schlagfertige Antwort ab, die im Brief wieder in direkter Rede erfolgt. Auch hier werden die mündlichen Figurenreden durch ein Zitat aus einem Schriftstück ergänzt, diesmal ist es der schon in anderem Zusammenhang erwähnte Brief Nervas (9).23 Dramatische Elemente weist auch Epist. 9,13Plinius der JüngereEpist. 9.13 auf, wo Plinius die Hintergründe zu seiner Rede De Helvidi ultione erläutert:24 Zunächst erfolgt ein Dialog des Plinius mit der Witwe des Helvidius, Anteia, die er über seinen Entschluss informiert, den Tod des Helvidius zu rächen (4‒5). Wir vernehmen hier lediglich die Worte des Plinius in direkter Rede, während Anteia stumm bleibt. Abgesehen von Plinius selbst kommen auch mehrere Senatoren in direkter Rede zu Wort, als Plinius im Senat andeutet, Publicius Certus belangen zu wollen und sich mit protestierenden Zwischenrufen konfrontiert sieht (7). Nach einem kurzen Dialog des Plinius mit dem Konsul (8‒9) treten mehrere Warner auf, die Plinius von seinem Vorhaben abzubringen versuchen (10‒12) – ihre Worte sowie die Antworten des Plinius stehen erneut in direkter Rede, auch ein Zitat aus der Aeneis gehört dazu.25 Aus der Diskussion während der Abstimmung über die Frage, ob eine Klage gegen Publicius Certus zugelassen werden soll (13‒17), gibt Plinius lediglich die Worte des Satrius Rufus wieder, der sich für Certus ausspricht (17). Nachdem Plinius seine Rede gehalten und alle auf seine Seite gezogen hat (18), versucht nur noch Veiento, ihm zu antworten, wird aber von den restlichen Senatoren übertönt – den Wortwechsel zwischen Veiento und dem Tribun Murena sowie das anschließende Homer-Zitat,26 mit dem Veiento seine Niederlage eingesteht, lesen wir in direkter Rede (19‒20). Am Ende seiner langen Narration zitiert sich der Autor und Erzähler Plinius abermals selbst, wenn er im Brief die Schlussworte seiner oratio einstreut (23).Plinius der JüngereEpist. 9.13

Es dürfte deutlich geworden sein, dass Plinius insbesondere in Briefen, die seine Leistungen als Anwalt und Redner ins Zentrum stellen, häufig seine eigenen Worte als handelnde Figur wiedergibt und somit seine rhetorischen Fähigkeiten nicht nur im narrativen, sondern auch mimetischen Modus inszeniert. Abgesehen vom Schauplatz Gericht gibt es noch andere Kontexte, in denen wir Plinius in direkter Rede sprechen hören: So etwa in Epist. 2,6Plinius der JüngereEpist. 2.6, wo er sich bei einer cena mit einem anderen Teilnehmer über die unterschiedliche Behandlung von Gästen je nach sozialem Status unterhält und seine eigenen, dem Prinzip der humanitas verpflichteten Gewohnheiten erläutert (3‒4).27 Seinen Dialog mit einem Vater und dessen Sohn aus Comum, der wegen Lehrermangels zum Studieren nach Mailand reisen muss, streut Plinius in Epist. 4,13Plinius der JüngereEpist. 4.13 an Tacitus ein (3‒9), wobei wir hauptsächlich ihn selbst sprechen hören, wenn er seine Beweggründe für die finanzielle Unterstützung bei der Anstellung von Lehrern in Comum ausführt.28 Im Rahmen dieser langen direkten Rede charakterisiert sich Plinius als Freund der Bildung und Wohltäter seiner Heimat. Mehrere direkte Reden enthält auch der Vesuv-Brief 6,20Plinius der JüngereEpist. 6.20, wo wir neben dem Gastfreund aus Spanien, der Plinius und seine Mutter zur Flucht auffordert (10), die Worte des achtzehnjährigen Plinius vernehmen, der seine Mutter während der allgemeinen Panik dazu auffordert, von der Straße abzubiegen (13). In Epist. 6,16Plinius der JüngereEpist. 6.16 über den Tod des Onkels hingegen findet sich nur eine direkte Rede, wenn wir den älteren Plinius während der Bootsfahrt im Golf von Neapel sprechen hören (11).29

Auch Narrationen, in denen Plinius selbst nicht als handelnde Figur auftritt bzw. im Vordergrund steht, sind des Öfteren durch direkte Reden angereichert, wie etwa Epist. 3,16Plinius der JüngereEpist. 3.16 über Leben und Selbstmord der älteren Arria,30 wo sich neben Epist. 1,5 und 9,13 die meisten direkten Reden finden; Arria wird in diesem Brief acht Mal zitiert – kein anderes Individuum enthält im Briefkorpus so viel Redeanteil, abgesehen von Plinius selbst.31 Eingelegt sind Arrias Worte in eine Epistel, die sich als Bericht eines mündlichen Gesprächs mit Fannia, der Enkelin der berühmten Arria, präsentiert (2: hesterno Fanniae sermone), sodass es sich genaugenommen um Doppelzitate handelt. Insgesamt sechs direkte Reden enthält Epist. 4,11Plinius der JüngereEpist. 4.11 über den Inzest-Skandal um die Vestalin Cornelia.32 Nach den Worten des in den Skandal verwickelten und nach Sizilien verbannten Valerius Licinianus, der dort sein Dasein als Redelehrer fristet (3), spricht auch die der Unzucht beschuldigte Vestalin (7) sowie der römische Ritter Celer, der Cornelia entehrt haben soll, bei seiner Auspeitschung (10); auch Herennius Senecio, der Anwalt des Valerius Licinianus, kommt zu Wort (12), ebenso wie der Kaiser Domitian (13: absolvit nos Licinianus). Abgesehen von direkten Reden schmücken auch Dichter-Zitate den Brief, wie etwa aus der Hekabe des EuripidesEuripidesHec. 569 (9)33 und der IliasHomerIl. 18.20 (12).34