Die DeThekTiVe

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Die DeThekTiVe
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Die DeThekTiVe

Margarete Richter

published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

Copyright: © 2012 Margarete Richter

ISBN 978-3-8442-4303-1

Die DeThekTiVe

Das sind Dieter (der von Beruf wirklich Detektiv ist), die 11-jährige Demi, Dieters Hund Thekla, sein Sohn Tim und Demis Mutter Verena.

Als Demi den alten Bibliothekar Gruber um Hilfe bei der Suche nach ihrem Vater Harry bittet weiß sie nicht, dass sie einmal ein Teil von „Die DeThekTiVe“ sein wird. Dazu muss sie erst Dieter, Tim und Thekla kennenlernen und eine neue Arbeit für ihre Mutter finden.

Ein Osterurlaub in Dänemark führt die fünf zu dem alten Fischer Kollund. Was weiß der über das rätselhafte Verschwinden von Demis Vater? Ist der wirklich ein Verbrecher?

Auf der Suche nach Antworten geraten die DeThekTiVe von einer Aufregung in die nächste.

I. Nichts als Probleme

„Demi, beeile dich bitte, das Frühstück ist fertig!“ Schrill riss die sonst so sanfte Stimme der Mutter das Mädchen aus seinen Träumen. Sie saß bereits angezogen auf ihrem Bett und die roten Haare fielen ihr ins sommersprossige Gesicht. Flink bändigte sie die Lockenpracht mit einem Haargummi und schlüpfte in ihre Turnschuhe, deren Schnürsenkel sie immer gebunden ließ. Dann griff sie ihre Schultasche und verließ rasch das kleine Zimmer, in dem gerade genug Platz für ihr Bett, den Minischrank und einen Schreibtisch war. Die Wohnung bestand nur aus diesem Zimmer, dem Wohnraum mit Kochnische, in dem auch ihre Mutter schlief und einem winzigen Bad.

Sie grinste ihre Mutter entschuldigend an, ließ sich vor der Schlafcouch auf den Boden plumpsen und verschlang ihre Cornflakes, die bereits auf dem niedrigen Tischchen standen.

„Musst du denn gleich nach dem Aufstehen mit dem Träumen anfangen?“ fragte ihre Mutter vorwurfsvoll. „Neben der Spüle liegt der Einkaufszettel und das Geld. Vergiss es bitte nicht, sonst haben wir morgen keine Milch zum Frühstück!“ „ Oh je, jetzt musst du aber los, sonst verpasst du noch den Bus.“

Die Mutter streifte Demis Stirn mit den Lippen, drückte ihr die Jacke in die Hand und öffnete die Wohnungstür. Das Mädchen schnappte sich ihre Schultasche und zog im Hausflur fröstelnd die Jacke an. Kaum hatte sie den Reißverschluss hochgezogen, als der von unten schon wieder aufging. „Mist, jetzt ist er endgültig hin“ dachte Demi. „Wie soll ich Ma nur beibringen, dass ich eine neue Jacke brauche?“ Nein, das ging gewiss nicht. Dann musste sie sich eben damit behelfen, die Jacke mit einer Hand zuzuhalten.

Das Mädchen bog um die Ecke und sah, dass die letzten Passagiere soeben den Bus bestiegen. Instinktiv beschleunigte sie ihre eh schon schnelle Gangart. An der Haltestelle angekommen fuhr der Bus bereits an. „Herr Hohlstein, Herr Hohlstein, so warten sie doch bitte“ hallte ihre Stimme durch die Straße. Gleichzeitig ruderte sie wie verrückt mit den Armen und versuchte, auf dem schlüpfrigen Schneematsch das Gleichgewicht zu halten. Vor Verzweiflung, Demi schrieb es allerdings der beißenden Luft zu, traten ihr bereits die Tränen in die Augen. Wenn sie wieder zu spät zur Schule kam, würde Frau Weiß wirklich ihre Mutter verständigen und was das bedeutete, mochte sie sich gar nicht erst ausmalen.

Nachdem sie den Bus fast fünfzehn Meter verfolgt hatte und bereits einmal mit dem linken Knie im Matsch gelandet war, hielt der Fahrer den Bus doch noch an. Keuchend, kaum in der Lage, einen Ton aus dem schmerzenden Hals zu bringen, dankte sie Herrn Hohlstein. Der schüttelte nur den Kopf. „Na, setz‘ dich erst mal hin und komm wieder zu Atem.“

Während Demi sich gleich gegenüber dem Busfahrer auf den Sitz fallen ließ, betrachtete sie den Mann eingehend. Herr Hohlstein war schon älter, bestimmt vierzig oder fünfzig. Er hatte kurzgeschnittenes, dunkles Haar mit etwas Grau an den Schläfen und die intensivsten grünen Augen, die sie je gesehen hatte. „Er sollte etwas Sport treiben“ dachte das Kind. „Langsam bekommt er ein kleines Bäuchlein wie Papa.“

Papa! Die Erinnerung an ihren Vater brachte Demi oft zum Verzweifeln. Es war doch alles so schön gewesen. Sie hatten in ihrem eigenen Haus gewohnt. Demi war damals erst sieben gewesen. Mit einem tiefen Seufzer erinnerte sie sich an ihr riesiges Zimmer mit dem Balkon und den großen Fenstern. Im Wohnzimmer war sogar ein Kamin gewesen und sie hatte Papa immer beim Aufschichten des Holzes helfen dürfen. Wenn sie daran dachte, hatte sie noch jetzt den vollen, harzigen Geruch in der Nase.

Papa hatte immer viel gearbeitet, aber wenn er zu Hause war, verbrachte er immer Zeit mit seiner kleinen Prinzessin, wie er Demi nannte. Sie spielten im riesigen, wilden Garten, gingen im Sommer schwimmen und im Winter rodeln. Mama war immer fröhlich und musste nicht zur Arbeit gehen. Und dann, eines morgens, war Papa plötzlich verschwunden. In der Zeitung stand, er hätte Geld gestohlen. Ma weinte die ganze Zeit und Demi wusste nicht so recht, wie sie sich verhalten sollte. Sie war noch viel verwirrter, als ihre Mutter, denn für sie war ihre kleine Welt bis zu diesem Moment völlig heil gewesen. Sie konnte einfach nicht verstehen, was passiert war….

„Demi, träumst du schon wieder?“ drang die Stimme des Busfahrers, kaum wahrnehmbar, in ihr Bewusstsein.

Erschrocken schüttelte sich Demi, um in die Wirklichkeit zurückzukehren. „Du musst aussteigen, Kind. Wir sind schon an der Schule!“ mit einem leichten Hochziehen der Mundwinkel bedankte sich das Mädchen bei Herrn Hohlstein und stieg aus dem Bus. Dann schlenderte sie zum Schulgebäude und steuerte ihr Klassenzimmer an. Fast fiel sie über einen Stiefel, noch ehe sie die unangenehme Fistelstimme von Thomas Bernreuther hörte, der sie anscheinend zum alleinigen Ziel seiner Aggressionen gemacht hatte. „Na, haben wir es heute geschafft, pünktlich zum Unterricht zu erscheinen? Kaum zu glauben! Frau Weiß wird sich sicher riesig freuen!“ Thomas brachte sein Gesicht so nah an das von Demi, dass sein Pfefferminzatem, er hatte ständig Kaugummi im Mund, auf ihrem kalten Gesicht kondensierte.

Das Mädchen versuchte, die Feuchtigkeit mit ihrem Ärmel wegzuwischen, aber der größere Junge hatte ihre Arme mit seinen Händen an der Wand fixiert. Sein schwerer Stiefel grub sich langsam in ihren Fuß. Demi wollte aufschreien, denn ihre Turnschuhe waren bestimmt eine Größe zu klein und die verkrampfte Haltung ihrer Zehen steigerte den Schmerz ins Unermessliche.

„Thomas Bernreuther“ dröhnte es plötzlich durch den Gang. „Höre sofort auf, deine Mitschülerin zu tyrannisieren und begebe dich umgehend in dein Klassenzimmer!“ Murrend ließ Thomas von ihr ab. Frau Weiß nahm Demi am Arm und sah ihr in die tränengefüllten Augen. „Alles ok?“ fragte sie mitfühlend.

Das Mädchen nickte nur und ließ sich von der Lehrerin bis zum Klassenzimmer führen. Dort zog sie schnell ihre Jacke aus, warf sie über einen Kleiderhaken und huschte in den Unterrichtsraum. Sie konnte heute Morgen keine von Frau Weiß einfühlsamen „Armes-Mädchen-Reden“ ertragen.

Steif setzte sie sich auf ihren Platz und starrte nach vorn zur Tafel.

Frau Weiß warf ihr noch einen mitleidigen Blick zu und begann mit dem Matheunterricht.

Demi hatte das Gefühl, sich heute Morgen besser als sonst auf den Unterricht konzentrieren zu können. Eigentlich war sie ziemlich schlau. Die Lehrer meinten jedoch alle, sie könnte locker eine „Einserschülerin“ sein, wenn sie nicht die ganze Zeit träumen würde.

Demi schluckte, kniff die Augen zusammen und konzentrierte sich wieder auf die Tafel und Frau Weiß.

Sie versuchte ja wirklich alles, damit ihre Lehrer und vor allem Ma mit ihr zufrieden waren. Aber es gab in ihrem jungen Leben, Demi war gerade elf geworden, einfach zu viele Fragen, die ihr niemand beantworten konnte. Nur darüber geriet sie ständig ins Grübeln.

„Also Demi, wie würdest du diese Aufgabe lösen?“ drang die Stimme der Lehrerin wie durch Nebel.

Erschrocken sprang das Mädchen auf und stieß dabei an ihren Stuhl, der daraufhin donnernd zu Boden fiel. Dies führte zu lautem Gelächter. „Ähm, ich … „ stotterte Demi.

„Na, komm an die Tafel. Und ihr anderen Ruhe!“ half ihr die Lehrerin aus der Verlegenheit.

Mit hochrotem Kopf nahm das Mädchen die Kreide entgegen, besah sich die Aufgabe und schrieb sowohl Rechenweg als auch Lösung an die Tafel. „Sehr gut“, kommentierte Frau Weiß ihre Arbeit und schickte sie mit einem leichten Nicken zurück auf ihren Platz.

In Mathe konnte sich Demi immer retten, da dies ein Fach war, welches nicht ihre volle Konzentration erforderte, sobald sie einmal verstanden hatte, worum es ging. Bis die Lehrerin die Klasse verließ, war das Mädchen ganz bei der Sache.

Durch Geschichte und Englisch schaffte sie es ebenfalls, ihre Aufmerksamkeit dem Lehrstoff zu widmen, da sie um keinen Preis nochmal zum Gespött der ganzen Klasse werden wollte.

Gegen Mitte der Deutschstunde jedoch drifteten ihre Gedanken wieder ab.

Warum waren damals so viele seltsame Leute zu ihnen nach Hause gekommen, warum hatte ihre Mutter wieder ihren Mädchennamen angenommen und auch Demis Nachnamen auf Richter ändern lassen? Warum waren sie nicht nur aus dem Haus ausgezogen, sondern gleich aus der Stadt? Das mit dem Haus hatte Ma ihr erklärt. Es war einfach zu teuer, denn die Bankkonten waren vor seinem Verschwinden von ihrem Vater restlos geplündert worden. Aber sonst hatte die Mutter nur gesagt, sie wisse auch nicht, was passiert sei.

„Vielleicht kann uns Fräulein Richter die Antwort auf diese Frage erläutern!“ meinte Herr Wolf soeben in ziemlich scharfem Ton.

Diesmal war Demi gelassener, um nicht wieder einen Anlass zur allgemeinen Belustigung zu liefern.

 

„Nun ja, das kommt ganz auf die Betrachtungsweise an!“ entgegnete sie zögernd. “Dann sei doch so freundlich und teile deine Betrachtungsweise mit uns! Weshalb hatte der Junge in Thomas‘ Geschichte plötzlich so großen Erfolg in der Schule und bei seinen Mitschülern?“

„Vielleicht, weil er plötzlich netter wurde?“ rutschte e ihr spontan heraus. Kopfschüttelnd betrachtete Herr Wolf sie mit dem für ihn typischen, stechenden Blick. Dann tat er mit lehrermäßiger Überheblichkeit seine, natürlich einzig richtige, Antwort kund. „Nein, er erkannte, dass ein Weiterkommen nur möglich ist, wenn er sein Leben selbst in die Hand nimmt!“

„… selbst in die Hand nimmt“ echote Demi.

Das war die Lösung! Sie konnte nicht darauf warten, dass ihr irgendjemand alle Antworten zu ihren Fragen auf einem silbernen Tablett lieferte. Sie musste selbst nach Lösungen suchen. Das war es! Warum hatte sie diesen Gedanken nicht längst selbst gehabt?

„Setz dich, Demi und pass gefälligst besser auf.“

Mit gesenkten Lidern und der Andeutung eines Lächelns auf ihrem sommersprossigen Gesicht setzte sich Demi und beschloss, gleich nach der Schule zur Zentralbibliothek zu gehen, um mit Herrn Gruber zu sprechen.

Eigentlich war dies der ungünstigste Wochentag dafür, denn nach der letzten Schulstunde hatte sie noch Klavierunterricht. Dieser wurde von der Schule kostenlos angeboten und im Anschluss konnte sie die erlernten Stücke im Musiksaal üben, da sie selbst kein Instrument besaß. Demi wusste, dass sie nicht sonderlich begabt war, aber ihre Mutter bestand auf den Unterricht. Deshalb quälte sie sich auch diesmal durch die Stunde und übte danach noch unter den strengen Blicken der Musiklehrerin, Frau Grötschl.

Als sie das Schulgebäude verließ war es bereits später Nachmittag und dem Mädchen war klar, dass viel Arbeit zu Hause auf sie wartete. Die Hausaufgaben waren zu machen, saugen musste sie und das Geschirr vom Frühstück stand auch noch auf der Spüle. Trotzdem wollte sie kurz bei Herrn Gruber vorbeischauen, denn sie musste einfach mit jemandem sprechen. Auf der kurzen Strecke zur Bibliothek hoffte Demi, dass der alte Mann heute Nachmittagsdienst hatte und nicht anderweitig beschäftigt war.

II. Ein hoffnungsvoller Ausflug

Demi war eine richtige Leseratte und Bücher waren teuer. Deshalb kam sie mindestens einmal die Woche hierher, um sich neue Lektüre auszuleihen. Auf der Suche nach der Fortsetzung eines sehr spannenden Buches hatte sie Herrn Gruber kennengelernt und war mit ihm ins Gespräch gekommen. Seitdem hatte sie schon so manchen Nachmittag mit dem alten Herrn über Bücher diskutiert oder einfach nur geplaudert.

Herr Gruber war ein opamäßiger, rotgesichtiger Mann, der mit Pantoffeln durch die riesigen Hallen der Bibliothek schlurfte. Er wirkte fast immer griesgrämig, obwohl er eigentlich total nett war.

„Ah, du! Brauchst du etwa schon wieder Nachschub?“ fragte er mit strengem Blick. Demi lächelte. Sie wusste, dass der Alte diese schroffe Art nur schauspielerte. Schelmisch hob sie ihre Augenbrauen und legte den Kopf schief. „Nein, eigentlich suche ich Sie heute in ihrer Eigenschaft als Informationsquelle zu allen Lebensfragen auf“ erklärte sie spitzbübisch.

„Wie alt bist du? Anhand deiner Ausdrucksweise könnte man dich schon für ziemlich alt halten. Na, dann schieß mal los!“

„Tja, also ich habe beschlossen, ab heute mein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Aber ich weiß nicht, wie ich damit anfangen soll. Und Sie werden mich nicht auslachen, wenn ich Sie um Rat frage“ endete Demi schüchtern.

Herr Gruber sah sie lange und ernst an. Gerührt legte er ihr dann einen Arm auf die Schulter und räusperte sich leicht. „Dann komm mal mit in mein Allerheiligstes, wenn du schon so viel Vertrauen in einen alten Griesgram wie mich setzt.“

Genau das war es, was sie so an Herrn Gruber mochte. Er fand nichts lächerlich, unwichtig oder tat es als „Kinderkram“ ab. Er behandelte sie, als ob er einen Erwachsenen vor sich hätte.

Das „Allerheiligste“ war ein kleiner Raum mit einem Schreibtisch und zwei Stühlen. Es gab nicht einmal einen Computer. Herr Gruber weigerte sich strikt, eines dieser Dinger in sein Büro zu stellen, um damit die Schönheit seiner Bücher zu verschandeln. Da er seine Arbeit jedoch längst nicht mehr komplett ohne verrichten konnte, stand ein passwortgeschützter PC gleich um die Ecke. Die Regale an den Wänden waren bis zur Decke vollgestopft mit Büchern und Akten. Demi setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, Herr Gruber auf den dahinter. „Also, dann erzähl mal, wofür du meinen Rat benötigst.“

Demi erklärte ihr Problem und der alte Mann zupfte an seinem kurzen, weißen Bart. Nachdem sie geendet hatte, schüttelte er den Kopf und das Mädchen befürchtete, dass ihre Suche nach Antworten schon gescheitert wäre, ehe sie noch richtig begonnen hatte.

„Hm“, murmelte der Bibliothekar und nochmal „hm“ während er weiterhin den Kopf schüttelte. Demi konnte schon nicht mehr still sitzen, wollte sein Grübeln beenden, aber als sie den Mund öffnete, schüttelte Herr Gruber den Kopf nur umso eindringlicher und gebot ihr mit einer Handbewegung zu schweigen.

Dem Mädchen kam es wie eine Ewigkeit vor, bis der alte Herr anfing zu sprechen. Er begann, als wollte er ein Märchen erzählen.

„Vor vielen Jahren lernte ich einen Jungen kennen, der damals etwa in deinem Alter war. Dem ging es aber längst nicht so gut wie dir…“ begann Herr Gruber und fuhr mit schärferer Stimme fort, als sie ansetzte, ihn zu unterbrechen.

„Es ging ihm also längst nicht so gut wie dir. Denn seine Eltern und sein älterer Bruder waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen und er wuchs in einem Waisenhaus auf. Ich habe damals die Bibliothek dort ehrenamtlich verwaltet und so lernte ich diesen jungen Mann kennen. Wir sahen uns oft, denn er verbrachte fast seine gesamte Freizeit mit Lesen und kam deshalb immer, um Nachschub zu holen. Am besten gefielen ihm Kriminalromane.“ Demi unterdrückte ein Gähnen. Falls Herr Gruber ihr aufzeigen wollte, wie gut es ihr im Vergleich zu manch anderen Kindern ging, war dies der falsche Augenblick! Als sie jedoch ins Gesicht des Mannes blickte, sah sie, dass er in Gedanken weit weg war, bei schönen Momenten aus lang vergangenen Tagen. Deshalb wollte sie ihm aufmerksam zuhören, auch wenn seine Geschichte sie zu Tode langweilen würde.

„Schon damals“, fuhr Herr Gruber fort „war sich der kleine Dieter sicher, dass er eines Tages ein berühmter Privatdetektiv werden würde.

„Super“ dachte Demi spöttisch. „Er kennt einen berühmten Detektiv, der mir aus alter Freundschaft zu Herrn Gruber mit Wonne helfen wird herauszufinden, was mit meinem Papa passiert ist.“

„Dieter war ein kluges Kerlchen und irgendwann bürgerte es sich ein, dass wir jeden Dienstagabend Schach spielten.“ „Das tun wir übrigens auch heute noch“ unterbrach Herr Gruber seine Geschichte mit einem Lächeln.

„Nun, der kleine Junge wurde groß und größer. Er hätte werden können, was er wollte. Seine Lehrer rieten zu einem Jurastudium. Aber Dieter war noch immer fest entschlossen, sich seinen Kindheitstraum zu erfüllen. Als er Ende Zwanzig war, hatte er bereits die beste Privatdetektei der ganzen Stadt.

Irgendwann, er war wohl Mitte Dreißig, lernte er eine Frau kennen. Sie war wunderschön und es endete, wie es enden musste, die beiden heirateten. Sie kauften sich eine alte Villa in einem riesigen Park, waren glücklich und bekamen bald einen kleinen Jungen. Dieter verbrachte so viel Zeit wie möglich mit seiner Familie, aber natürlich hatte er noch immer seinen Beruf und war auch häufig unterwegs.

Eines Tages flog er bei schlechtem Wetter mit einem Kunden in dessen Privatflugzeug. Die Maschine stürzte ab und Dieter wurde schwer verletzt. Er verbrachte fast ein Jahr in einer Rehaklinik. Danach war er zwar soweit genesen, dass er wieder gehen konnte, aber die Narben, die zurückblieben beschränkten sich nicht auf die sichtbaren an Kinn und Brust.

Seine Frau hatte ihn immer seltener besucht und als er endlich nach Hause durfte, fand er nur die Haushälterin mit seinem Sohn und einem Brief vor. Darin stand, dass es ihr Leid täte, aber sie hätte sich verliebt und müsse ihr eigenes Leben leben, anstatt ständig nur in dem großen Haus auf ihn zu warten. Zur Mutter sei sie anscheinend nicht geeignet und deshalb würde sie mit ihrem Freund nach Amerika gehen und dort eine Kunstgalerie eröffnen.

Dieter war am Boden zerstört. Seine Firma lief weiter gut und er war gut gegen Unfälle versichert, weil er in seinem Beruf einem erhöhten Risiko ausgesetzt war. Trotzdem erholte er sich nie so richtig von seinen Schicksalsschlägen und verlässt seitdem kaum sein Grundstück. Er lebt zurückgezogen mit seinem Sohn und einer Hausdame. Mit seiner Firma verkehrt er nur telefonisch oder per Mail.“

Nach einer kurzen Pause fuhr Herr Gruber fort: „Ich glaube, ich würde euch beiden einen Gefallen tun. Er ist – oder war der beste Detektiv, den man sich denken kann und vielleicht fehlt ihm nur der richtige Auslöser – nämlich du –„ flocht er mit nach oben gezogenen Brauen ein, „um wieder etwas von seiner alten Motivation zurückzubekommen.“

„Also gebongt – oder wie ihr jungen Leute das gerade nennt – morgen Nachmittag gehen wir beide Dieter besuchen!“

Demi war sich nicht sicher, ob sie begeistert sein sollte oder nicht. Aber ein bekannter Detektiv – es könnte auf keinen Fall schaden, mit ihm zu sprechen. Lächelnd verabschiedete sie sich von Herrn Gruber und machte sich auf den Heimweg.

Im Bus kamen ihr allerdings Zweifel. Eigentlich kannte sie ja nicht mal Herrn Gruber besonders gut – eben nur aus der Bücherei. Konnte sie da so einfach mit ihm weggehen, in ein wildfremdes Haus, von dem sie nicht einmal wusste, wo es lag? „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt!“ wischte sie ihre Zweifel beiseite und als sie die Wohnungstür aufschloss war sie frohen Mutes, dass sich alles in ihrem Sinne entwickeln würde.

Ihr Blick fiel zur Spüle und dann sofort zu dem kleinen Wecker, der neben der Couch stand. Noch zehn Minuten bis 18 Uhr! Dann würde der Edeka-Laden um die Ecke schließen und ihre Mutter wäre schrecklich ärgerlich, wenn sie gegen 22 Uhr von der Arbeit kam und der Einkauf nicht erledigt war.

Flink schnappte sie sich Einkaufszettel und Geld und rannte zum Geschäft. Der Besitzer steckte soeben den Schlüssel ins Schloss, als Demi um die Ecke bog.

Er sah das völlig aufgelöste Mädchen vor der Tür stehen und öffnete ihr freundlich, um sie schnell noch zu bedienen.

Zurück nach Hause, zwei Scheiben Toast gegessen, den Abwasch erledigt, zwei Minuten Staub gesaugt und das Bad gewischt, geduscht und Zähne geputzt, dann fiel Demi todmüde ins Bett, was sie allerdings nicht hinderte, noch mit widerstrebenden Augen zu lesen.

Als die Mutter nach Hause kam, war sie mit dem Gesicht auf dem Buch eingeschlafen. Vorsichtig zog Frau Richter es unter ihrem Kopf hervor, hauchte einen Kuss auf die Stirn ihrer Tochter und löschte das Licht.

Der nächste Tag in der Schule verlief außergewöhnlich ruhig. Thomas war nirgends zu sehen und sie hatte keine Schwierigkeiten, sich auf den Unterricht zu konzentrieren. Na ja, vielleicht ab und zu, wenn sie versuchte, sich vorzustellen, wo diese alte Villa nun lag, wie es dort aussah und wie dieser „Dieter“ wohl auf sie reagieren würde. Die Zeit bis zum Schulschluss verging im Schneckentempo. Demi konnte sich nicht erinnern, jemals einen derart langen Schultag erlebt zu haben und als die Glocke endlich das Ende der letzten Stunde kundtat, flog sie förmlich aus dem Schulgebäude hinüber zur Bibliothek.

Herr Gruber wartete bereits vor dem Gebäude und winkte ihr zu. Er stand vor einem uralten, grauen Mercedes, der aber in Top-Zustand war, und bedeutet ihr einzusteigen, während er sich hinters Steuer quetschte

Wieder überkamen Demi Zweifel. Wie gut kannte sie Herrn Gruber wirklich? Konnte sie ihm so weit vertrauen, einfach zu ihm ins Auto zu steigen? Sie hatte nicht einmal ihrer Mutter gesagt, dass sie mit ihm unterwegs sein würde, weil diese es ihr sofort strikt verboten hätte. Aber wieder gewann der Wunsch nach Antworten die Oberhand und das Mädchen hüpfte schnell in den alten Wagen.

Herr Gruber fuhr sehr langsam. Eben seinem Alter entsprechend, dachte Demi gähnend, während sie sich mit 40 km/h durch die Stadt bewegten.

Demi überlegte: wohnt dieser Typ tatsächlich an dem Ende der Stadt, das am weitesten von der Bibliothek entfernt ist? Aber mit welcher Begründung sollte sie jetzt aussteigen? Herr Gruber würde sie glatt für bescheuert halten.

 

Sie lachte halbherzig über die Anekdoten des alten Mannes und blickte interessiert auf jedes große Haus, an dem sie vorbeikrochen.

Lächelnd warf ihr der Bibliothekar einen Seitenblick zu. „Gleich sind wir da, Fräulein Ungeduld.“ Und schon stoppte er den Wagen vor einem riesigen Metalltor. Herr Gruber ging zur Gegensprechanlage, sagte etwas und kaum saß er wieder im Auto, öffnete sich das Tor.

Sie fuhren durch einen riesigen, wilden Park und machten vor dem Portal der Villa halt.

Demi war sprachlos. Niemals hatte sie etwas derart gigantisches gesehen. Dieses Haus hatte bestimmt 15 Zimmer oder mehr. Die Eingangstür war fast doppelt so hoch wie jede Haustüre, aber im Gegensatz zu dem verwilderten Garten wirkte das Haus hell und gepflegt. Selbst auf der breiten Treppe war kein Staubkorn zu sehen.

Apropos sehen – sehen konnte sie sonst nichts, aber durch das offene Fenster neben dem Eingang drang ein Höllenlärm nach draußen.

„Dieses Kind treibt einen einfach in den Wahnsinn. Das hält auf Dauer kein normaler Mensch aus! Und dazu der Hund!“ Die letzte Äußerung wurde von einem tiefen, wütenden Bellen quittiert. „Irgendwann beißt der nochmal! Und diese Hundehaare. Schon beim ersten Wischen ist das Putzwasser vollkommen verseucht. Man kann dann nicht mehr putzen, sondern nur noch Hundehaare verteilen! Meine Nerven machen da nicht mehr mit. Deshalb werden Sie in Zukunft Ihren Rotzlöffel von Sohn und diese Bestie wohl selber zähmen müssen! Auf Wiedersehen – oder besser auf Nimmer-Wiedersehen!“

Demi konnte kaum noch zurückspringen, als die große Eingangstür aufgerissen wurde und eine völlig aufgebrachte, ziemlich füllige Frau mit wirrer Frisur an ihr vorbeirauschte.

„Guten Tag, Frau Hartmann“ grüßte Herr Gruber freundlich. Aber die würdigte ihn nur eines kurzen „Tsss" im Vorübertrampeln, wobei man ihr die Geschwindigkeit, mit der sie sich fortbewegte bei ihrer Leibesfülle gar nicht zugetraut hätte.

Sprachlos starrten die beiden der aufgebrachten Frau hinterher, bis aus dem Inneren des Hauses eine resigniert klingende Stimme drang! „Hallo Benno, kommt doch rein.“ Vorsichtig schob sich Demi hinter Herrn Gruber ins Haus und sah sich argwöhnisch nach dem Sprecher um.

Aber zunächst war sie nur überwältigt von der Größe der Eingangshalle. Graue Marmorfliesen, ein wunderschöner Kamin, ein Sofa, ein kleiner Tisch mit zwei Sesseln und ein – Indianerzelt – in Originalgröße? Tatsächlich, das war ein echtes Tipi mit der Grundfläche ihres Schlafzimmers. Es stand mitten in der Halle und verdeckte den Redner.

Als sie hinter Herrn Gruber um das Zelt bog, sah sie einen Mann auf der untersten Treppenstufe sitzen, die Ellbogen auf den Knien und das Gesicht in den Händen vergraben.

Ehe sie diese Figur auch nur einer näheren Betrachtung unterziehen konnte, brach schon das nächste Spektakel los. Sie hört „Thekla, hiiiiiiiiiier“, dann sprang ein riesiges schwarz-braunes Ungetüm bellend die Treppe herunter, rempelte den dort kauernden Mann an und rannte sie und Herrn Gruber fast nieder.

Vor der von Demi geschlossenen Tür setzte sich der Hund und bellte lautstark weiter. Das Mädchen, das eigentlich alle Tiere liebte, drängte sich näher an Herrn Gruber und sah hinter seinem Rücken hervor einen kleinen, blonden, etwa fünf Jahre alten Jungen, schreiend die Treppe herunterspringen. „Thekla hiiiier, hiiiiier habe ich gesagt, aber schnell!“

Der auf der Treppe sitzende Mann zog sich am Geländer hoch. Er war fast 1,90 m groß, hatte dunkelblondes Haar und wunderschöne blaue Augen. Über sein Kinn zog sich eine tiefe, hässlich orangerote Narbe, was aber Demi nicht davon abhielt, ihn für gut aussehend zu halten.

„Thekla hier! Und du Tim, gehst sofort wieder auf dein Zimmer. Zu dir komme ich später noch!“

„Aber Papa, sei doch froh, dass wir die alte Zimtziege los…“ weiter kam er nicht.

„Auf dein Zimmer“ wiederholte der Vater in scharfem Ton. Seine vorher so resigniert wirkende Gestalt drückte plötzlich eine Autorität aus, die sogar Demi fast Angst machte. Der Hund lag bereits still zu seinen Füßen und auch das Kind wagte keine weiteren Einwände, rannte die Stufen hinauf und entschwand ihren Blicken.

„Guten Tag Benno. Entschuldige bitte dieses Chaos.“ Der Mann zog sein rechtes Bein schleppend hinter sich her, als er mit ausgestreckter Hand auf Herrn Gruber und sie zukam. „Ah, und du musst Demi sein. Herr Gruber hat mir schon von deinem Problem erzählt.“

Unsicher lächelnd streckte ihm Demi die Hand entgegen. „Guten Tag, Herr…“ – oh Mist, sie wusste ja nicht einmal seinen Nachnamen.

„Das Herr lass mal stecken, ich bin einfach Dieter“ unterbrach er sie lächelnd. Er sah wirklich gut aus und in seinen Augen blitzte es lustig auf, als er sie ansah. Damit gab er dem Mädchen das Gefühl, willkommen zu sein und während sie zurücklächelte, wusste sie bereits dass sie Dieter mochte.

„Willst du Thekla kennenlernen? Sie ist eigentlich eine ganz Liebe, aber Frau Hartmann konnte sie nie leiden und als die dann noch so gebrüllt hat, war der Hund richtig aufgebracht.“

Etwas unsicher ging Demi zwei Schritte auf den riesigen Hund zu. Der blickte an ihr vorbei und bewegte sich erst in ihre Richtung, als Dieter ein leises „ok“ von sich gegeben hatte. Langsam beschnüffelt Thekla eine Hand des Mädchens und ließ dann ihre furchteinflößenden Zähne sehen. Sie schleckte zuerst die Finger und danach den gesamten rechten Ärmel von Demis Jacke.

Erleichtert lachte das Kind auf, ging neben dem Hund in die Hocke und kraulte das weiche, schwarze Fell. „Na du bist ja eine Brave, eine Schöne….“ „Hilfe!“ Thekla war vor Freude über diese Zuwendung völlig aus dem Häuschen und hatte Demi beim Versuch, ihr Gesicht zu lecken, mit ihrem massigen Körper zu Boden geworfen.

„Thekla, aus!“ kaum mehr als ein Raunen und schon saß der große Hund wieder neben Dieter. Lachend erhob sich das Mädchen von den Fliesen. „Eine stürmische bist du, nicht wahr?“

Dieter lächelte und lud sie ein, ihm ins Arbeitszimmer zu folgen. Auf dem Tisch der kleinen Sitzgruppe stand eine Thermoskanne bereit. Der Mann schenkte Herrn Gruber und sich selbst Kaffee in große bunte Kaffeebecher. „Ich nehme an, du möchtest lieber Saft“ wandte er sich an Demi und schenkte ihr ein Glas Apfelsaft ein. Der Hund hatte sich gleich neben Dieters Stuhl gelegt und machte keinen Mucks.

„Also, dann schieß mal los und erzähle, was ich für dich tun kann!“ kam der Detektiv gleich zur Sache.

Plötzlich unsicher geworden wusste Demi nicht, was sie sagen sollte. Das Auffinden verschwundener Personen gehörte schließlich zu seinem Beruf und nach dem Aussehen seines Hauses war er sicherlich auch nicht billig. Herr Gruber hatte zwar nichts von Bezahlung gesagt, aber Demi hatte nicht einmal Genug Geld für eine neue Jacke, wie sollte sie da einen Privatdetektiv bezahlen? Dieter schien ihre Gedanken zu erraten. „Herrn Grubers Freunde sind auch meine Freunde und unter Freunden verlangt man kein Honorar. Also mach dir um eine Bezahlung keine Sorgen!“

Erleichtert erzählte Demi das Wenige, das sie wusste und blickte dann gespannt in Dieters Gesicht.

„Na ja, viel ist das ja nicht gerad, aber doch genug, um einen Anfang zu machen. Ich möchte jedoch ehrlich mit dir sein. Die Aussichten auf Erfolg sind nach vier Jahren nicht besonders groß. Außerdem müssen wir uns vorher noch über etwas anders unterhalten. Benno, ich meine Herr Gruber, hat mir erzählt, dass deine Mutter nichts von deinen Absichten weiß. Wenn meine Ermittlungen also etwas zutage bringen, werde ich die Ergebnisse selbstverständlich zuerst deiner Mutter mitteilen müssen. Es kann schließlich sein, dass Sie gar nicht möchte, dass du bestimmte Einzelheiten erfährst, weil sie dich schützen will. Das ist meine Bedingung, um diesen Fall anzunehmen. Einverstanden?“

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