Interviews Aus Dem Kurzen Jahrhundert

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Mireya Garcia

Ich kann nicht vergeben

Während im Präsidentenpalast la Moneda noch der von Präsident Frey eilig einberufene Nationale Sicherheitsrat tagte, wurde Chile, das noch unter dem Eindruck des widersprüchlichen Urteils der Londoner Richter in Sachen Pinochet stand, von einer neuen Schreckensmeldung erschüttert, die die allgemeine Anspannung noch erhöhte: die Meldung von der Entdeckung eines neuen illegalen Inhaftierungszentrums aus der Zeit der Militärdiktatur, wo man nach den Enthüllungen des Bischofs von Punta Arenas, Monsignore Gonzales die Überreste von hunderten verschwundener Personen gefunden hatte.

Das Gefangenenlager befand sich im äußersten Norden von Chile, einhundertzehn Kilometer von der Hauptstadt der gleichnamigen Region Arica entfernt, in einer verlassenen Gegend und bereits seit geraumer Zeit hatte man dessen Existenz dort vermutet. Jetzt erfuhr man, dass die örtlichen Justizbehörden seit einigen Wochen in streng geheimer Mission in diesem Zentrum ermittelten. Trotz einer vom zuständigen Richter der dritten Strafkammer von Arica, Juan Cristobal Mera in diesem Fall verhängten Nachrichtensperre sickerte durch, dass die Massengräber mit den menschlichen Überresten sich im Küstenbereich der Gemeinde Camarones befanden, in unmittelbarer Nähe des alten Friedhofs der Kleinstadt, und das die Gegend von den Behörden “als leicht zugänglich” beschrieben wurde.

«Es gilt klarzustellen», wie der Gouverneur Nuñez Journalisten gegenüber eilig betonte, «dass die geografischen Koordinaten nicht sehr genau sind, aber wir wissen, dass der Richter bereits die Existenz von mindestens zwei Massengräbern überprüft hat. Sollte es zu einer eventuellen Exhumierung der Überreste der desaparecidos kommen, werden wir selbstverständlich dafür sorgen, dass diese in Gegenwart von Minister Juan Guzan Tapia erfolgt».

Die Hinweise, die zur Entdeckung dieses Gefangenenlagers geführt hatten waren Enthüllungen des Bischofs Gonzalez zu verdanken, der wiederum die Informationen zu diesem Fall nach eigenen Angaben «unter dem Siegel des Beichtgeheimnisses» erhalten haben will. Unklar war noch, auf wie viele Lager sich diese Informationen bezogen.

Ich beschloss daher, der Sache nachzugehen und wollte mehr über die schreckliche Realität der chilenischen desaparecidos erfahren, indem ich ein Treffen mit der Leiterin des Familienverbands Verschwundener arrangierte.

*****

Gefangen genommen, gefoltert, in die Verbannung geschickt: Mireya Garcia hat während des Staatsstreichs von Pinochet mehr als nur ihre Jugend eingebüßt. Auch ihr Bruder ist verschwunden – inzwischen seit über einem viertel Jahrhundert. Heute ist Mireya Vizepräsidentin des Familienverbandes inhaftierter “desaparecidos” und für sie hat der Kampf auf der Suche nach der Wahrheit nie geendet.

Der Ort, an dem sie sich treffen – Tag für Tag schon seit Jahren – die Mütter und Großmütter, die alle ihren eigenen Schmerz im Herzen tragen, jede von ihnen mit dem Bild ihres verschwundenen Sohnes, Bruders, Ehemanns oder Enkels ist ein blaues Wohnhaus in der Nähe des Stadtzentrums von Santiago. Im Hof sind die Wände voll mit Fotos der desaparecidos. Für jeden von ihnen existiert ein vergilbtes Foto, zusammen mit stets demselben Satz, derselben Frage: “ Donde estan? “ «Wo sind sie?». Ab und zu wird diese Bilderwand, diese Serie von Fotos und derselben immer wiederkehrenden Frage, auf die es keine Antwort gibt, von einer Rose oder einer Blume unterbrochen.

Welche Erinnerungen haben Sie an jene Jahre des Putsches?

Eine sehr vage Erinnerung. Ich war zu Hause und erinnere mich noch, dass das Radio Militärmusik brachte. Dann waren da viele Männer in Uniformen auf der Straße. Es war mir damals nicht bewusst, dass an jenem Tag die Geschichte meines Landes, die Geschichte Chiles einen schweren Schlag erlitten hat ...

Wie alt waren Sie damals?

Ich gehörte zur sozialistischen Jugend von Concepcion, einer Stadt einige hundert km südlich von Santiago. Ich hätte gerne studiert, geheiratet, eine Familie gegründet, Kinder gehabt … Stattdessen stürzte alles auf mich ein, schnell, viel zu schnell. Heute kann ich über das Geschehene relativ ruhig reden, aber viele Jahre war ich nicht in der Lage, mir diese Tage ins Gedächtnis zu rufen. Nicht einmal gemeinsam mit meiner Familie...

Sie kamen eines Abends und holten uns. Ich war mit meinem Bruder allein zu Hause ...Ich wurde festgenommen (wenn man das so sagen kann) und anschließend gefoltert. Ehrlich gesagt kann ich bis heute nicht über diese Demütigungen sprechen...

Meinen Bruder habe ich nie wieder gesehen. Später, als mir zusammen mit meiner Familie die Flucht ins Ausland gelang, erfuhr ich in Mexiko vom endgültigen Verschwinden von Vicente. Ich erinnere mich an das Gefühl der schrecklichen Angst, daran, dass er vielleicht noch am Leben war, irgendwo, und ich war hier, tausende von Kilometern entfernt, ohne die Möglichkeit, nach Chile zurückzukehren, ohne dass ich ihn suchen, ihm helfen konnte.

Kam Ihnen damals die Idee, diesen Verein zu gründen?

Ja. In Mexiko waren wir viele, im Exil, alle hatten wir Verwandte, die man während der Diktatur von Pinochet verschwinden ließ. Wir gingen auf die Straße. Eine sehr unbedeutende Waffe im Kampf gegen eine so grausame Diktatur, aber so wurden die Menschen wenigstens auf uns aufmerksam und wurden informiert.

Wann gelang es Ihnen, nach Chile zurückzukehren?

Es dauerte fünfzehn Jahre. Ich fühle mich heute noch als Exilantin. Eine Fremde im eigenen Land.

Was konnten Sie über das Schicksal Ihres Bruders in Erfahrung bringen?

Sehr wenig. Nur, dass er in ein geheimes Gefangenenlager und Folterzentrum namens Cuartel Borgoño deportiert wurde, das heute nicht mehr existiert. Sie haben alles zerstört und mit Bulldozern plattgewalzt, um alle Spuren und Beweise zu vernichten.

Glauben Sie, dass Pinochet alleine für all das verantwortlich ist?

Nein. Und das ist die unglaubliche Seite von Chile. In den Archiven der Gerichte gibt es anhängige Strafverfahren gegen mehr als dreißig Personen, im Rang eines Generals, oder Oberst, Politiker und einfache “Handlanger” des Todes, denen man Folter, Mord und Gewalttaten jeglicher Art vorwirft. Es gehört zu der absurden Seiten meines Landes, dass jeder weiß, dass Minimum dreitausend Menschen spurlos verschwunden sind, während lediglich das Versschwinden von elf davon gerichtlich festgestellt wurde. Es ist so, als würde das ganze Land Bescheid wissen und einfach wegschauen...

Jemand hat einmal gesagt, dass die Justiz kein Universalkonzept ist, sondern vom jeweiligen historischen Augenblick abhängig ist, von den Umständen, die in einem Land herrschen…schließen Sie sich dieser Meinung an?

Nein, ich glaube, dass Begriffe wie Würde und Respekt vor der Justiz universelle Konzepte sind. Warum sollte man sonst feierliche Menschenrechtskonventionen oder Anti-Folter-Verordnungen unterzeichnen?

Wie haben Sie die Geschehnisse in Verbindung mit der Festnahme Pinochets erlebt?

Als ein ständiges Auf und Ab zwischen Hoffnungen und Enttäuschungen. Die Ereignisse von London haben deutlich gemacht, dass Chile immer noch ein zutiefst gespaltenes Land ist. Ein Land, in dem das Militär noch immer große Macht hat und ent-

scheidet, wenn es um das politische und institutionelle Gleich-gewicht geht. Ein anderes Detail hat mich beinahe verblüfft. Pinochet hat es in all den Jahren verstanden, sich seine eigene Straffreiheit mit fast manischer Akribie zu sichern. Er hat sogar eine Verfassungsänderung durchgesetzt, damit ihn niemand belangen kann. Ich bin ganz sicher, wenn man ihm nicht im Aus-land den Prozess macht, hier in Chile wird er nie vor Gericht gestellt werden. In Chile, niemals.

Was bedeutet für Sie das Wort Vergebung?

Ich denke, es ist etwas absolut Persönliches, etwas, das für jedes Individuum etwas anderes bedeutet. Ich kann den Henkern meines Bruders nicht vergeben. Man könnte meinen, ich sei

rachsüchtig. Aber das stimmt nicht. Ich will keine Vergeltung.

Ich will einzig und allein die Wahrheit wissen.

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Kenzaburo Oe

Literaturnobelpreis 1994

Der stille Schrei

 

Im Frühjahr 2001 hielt ich mich wegen einer Reihe von langer Hand geplanter Reportagen in Japan auf. In einem kleinen Dorf im äußersten Norden, dick vermummt, inmitten von Schneemassen sah ich dem maroden Autobus nach, der mich in dieses eisig kalte Fleckchen Erde auf dem japanischen Eiland gebracht hatte und der nun rasch davon fuhr und nichts als eine Fontäne von Schneematsch zurückließ. Mir fielen die berühmten Worte von Bruce Chatwin ein: What Am I Doing Here?/Was tue ich hier?

Wie schon Tiziano Terzani schrieb «Man mag es kaum glauben, aber die Japaner sind davon überzeugt, dass sie auf ihrer Insel alles haben». Ich sollte mich persönlich davon überzeugen können, als ich wenig später im Distrikt Aomori auf einen höflichen Knoblauchbauern traf, den alle für einen direkten Nachkommen von Jesus Christus hielten … den aus Nippon! [3] .

Einige Zeit zuvor wurde mir das Privileg zuteil, einen der größten noch lebenden zeitgenössischen Literaten Japans, den Literaturnobelpreisträger Kenzaburo Oe interviewen zu dürfen.

Der Autor von “Gli anni della nostalgia” [A.d.Ü.: vermutlich Romantrilogie mit dem deutschen Titel „Grüner Baum in Flammen], und von “der stille Schrei”, erklärte mir, warum seiner Meinung nach das Problem der Japaner seiner Epoche in der vergeblichen Suche nach der “Rettung der menschlichen Seele” liegt.

*****

Nach seinem Literaturdebüt im Alter von zweiundzwanzig Jahren verging kein Monat, in dem Kenzaburo Oe, heute sechsundsechzigjährig, nicht an einem Roman arbeitete. Er wurde 1935 in einem kleinen Ort auf der Insel Shikoku im Südwesten Japans geboren, studierte Romanistik und machte an der Universität Tokyo seinen Abschluss in französischer Literatur. In seinen Werken hat er mit viel Mut Themen behandelt wie den Wahnsinn, die Grausamkeiten von Menschen an Menschen, die Angst vor einer unsichtbaren Realität. Sein Stil war immer direkt, klar, penetrierend. Indem er geschickt mit Formen und Ausdrucksformen jonglierte und sich einer enormen stilistischen Bandbreite bediente, die vom Grotesken bis zur Fabel und zum kompromisslosesten Realismus reichte, gelang es dem Autor des stillen Schreis seinen Obsessionen in einem intensiven Gedankenaustausch, stets im Clinch mit den eigenen Geistern, den eigenen Nöten Gestalt zu verleihen. Daraus entstanden Werke wie Lehre uns, unseren Wahnsinn zu überleben , wo man nichts als gegeben und selbstverständlich erwarten darf und wo der Prozess des Schreibens wie ein Fotoshooting abläuft, wo reihenweise Überraschungen vorprogrammiert sind.

Er ist ein Erzähler, der kein Mitleid kennt, auch wenn er mit einer ordentlichen Portion Humor ausgestattet ist. Kenzaburo Oe fordert den Leser heraus, stellt sein Gefühlsleben und seine Nerven auf eine harte Probe, geht oft bis an die Grenzen des Erträglichen.

«Ich habe damit begonnen, die Möglichkeiten einer neuen Art des Schreibens zu erahnen, die die Struktur des zeitgenössischen Romans besser definiert. Ich dachte, der typische Roman des Neunzehnten Jahrhunderts sei in der dritten Person geschrieben, um die Psychologie verschiedener Personen besser analysieren zu können und zum besseren Verständnis unseres Zeitalters. Jean-Paul Sartre, mein intellektueller Führer kritisierte diese Art von Schriftstellerei, in der der Autor dadurch, dass er die Personen dominiert und die Psychologie eines jeden Einzelnen kennt, sich dem Leser als eine Art Gott offeriert. Ich hatte ebenfalls beschlossen, in der ersten Person zu schreiben, aber dann habe ich nachgedacht und nach der Lektüre von Texten aus dieser Zeit habe ich begriffen, dass der Erzähler durch die Verwendung der ersten Person nicht in jeder Beziehung zu sich selbst finden kann. Aus diesem Grund habe ich eine neue Reflexion über das Schreiben in der dritten Person angestoßen.»

Oe zitiert in diesem Zusammenhang große Schriftsteller dieses Jahrhunderts, Thomas Mann und Robert Musil und von den zeitgenössischen Literaten Günter Grass. «Sie haben im Zwanzigsten Jahrhundert den Niedergang des Romans vorhergesehen und wollten eine andere Art zu schreiben» versichert er «und ein Meisterwerk wie “Der Mann ohne Eigenschaften” von Musil demonstriert dies auf eine Art und Weise, die man ohne zu Schmeicheln als herausragend bezeichnen kann. Auf diesem An der Wende vom Zwanzigsten zum Einundzwanzigsten Jahrhundert ist jedem bewusst, dass es keine ideale Sicht der Dinge mehr gibt, die in der Lage wäre, ein Gesamtbild unserer Welt zu erfassen und wiederzugeben. Man glaubt weder an einen Gott im traditionellen religiösen Sinn, noch an einen Gottesbegriff wie ihn Hegel beschrieb und auch an keinen marxistischen Gott. Die Geschichte unseres Jahrhunderts zeigt, dass es notwendig war, sich von diesen drei Modellen zu lösen. Ich denke daher, dass in der erzählenden Kunst die Rolle der Imagination dem Versuch dienen sollte, eine Gesamtsicht der Dinge zu schaffen. Wenn man meine früheren Werke mit einem Klaviersolo vergleichen kann, dann möchte ich heute ein Stück für ein Klavierquintett komponieren». So will er versuchen, einen neuen persönlichen Stil auszuprobieren. Oe hat den Wunsch, einen Roman zu schreiben, der sein Lebenswerk beschließt: «Ich habe noch keine bestimmte Handlung im Sinn, aber ich möchte die Geschichte von Menschen schreiben, die am Ende dieses Jahrhunderts über ihre Seelenproblematik nachdenken. Dieses Werk sollte dann das letzte in meinem Leben sein und mein Lebenswerk beschließen».

Er ereifert sich und für einen Augenblick weicht die Strenge und Unnachsichtigkeit aus seinem Blick. Die Begeisterung steht Oe ins Gesicht geschrieben, hinter der Brille mit den großen Gläsern, die so japanisch wirkt, als er ein Buch des israelischen Historikers und Theologen Gershom Scholem mit dem Titel Schabbatai Zvi zitiert, eine Biografie von der Art, die die hebräische Mystik gegen Ende des siebzehnten Jahrhunderts für den Messias hielt. Während seine Bewegung an Bedeutung gewann und der Tag des Weltuntergangs näher rückte, war Schabbatai, nachdem er von einem ihm feindlich gesinnten polnischen Rabbiner denunziert worden war und von einem anderen ottomanischen Funktionär gezwungen worden war, seinem Glauben abzuschwören, zum Islam konvertiert.

Nach Meinung von Oe war der Einfluss der Schabbatai Zvi Bewegung sehr stark. «Auch nach der Apostasie [A.d.Ü.: Abfall vom Islam] des “Messias” hat ein bedeutender Teil der religiösen Führer und des Volkes an ihrem Glauben festgehalten. Die Jünger haben ihren Meister überholt» sagt er im Brustton der Überzeugung.

Das Scheitern einer Bewegung, eines Glaubens, eines Credos, all das sind Themen, die in den Romanen von Oe häufig zu finden sind, angefangen bei Spiele unseres Zeitalters bis Die Flut erreicht unsere Seelen . Ein Schriftsteller, der nach Ansicht von Kenzaburo «kein Intellektueller in Großbuchstaben ist, sondern ein sub-Intellektueller, der aus einer Subkultur stammt», muss immer in engem Kontakt mit den sozialen Ereignissen bleiben. Er muss sie auf geschichtlicher Ebene vertiefen, um sie im internationalen Kontext analysieren zu können.

«In den letzten Jahren» fährt er fort, «hat diese Problematik auch in meinem Land traurige Aktualität erlangt. Der Fall der Aum Shinrikyo Sekte, die im Frühjahr 1995 für den Anschlag mit Saringas in der Tokioter U-Bahn verantwortlich war, ist hierfür ein aussagekräftiges Beispiel. Die Frage, die sich hier stellt ist die, was die Anhänger nach dem Scheitern dieser Bewegung tun werden. Und, will man diese Betrachtungen auf eine breitere kulturelle Ebene verlagern, könnte man sich fragen, wie die Menschen nach dem Verschwinden ideologischer Strömungen weiterleben. Die Japaner hatten schon immer einen Hang zum Irrationalen; das hat sie in der Vergangenheit am Tag vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs auch auf die Straße des Nationalismus geführt. Noch heute ist die Jugend auf der Suche nach Mystizismus. Aber durch den Modernisierungsprozess und insbesondere während des Wirtschaftswachstums haben die Japaner mit der Tradition gebrochen. Man kann daher die Gläubigen zwar dazu bringen, Sekten, wie der Aum Sekte den Rücken zu kehren, aber es ist unmöglich, ihnen zu sagen, wohin sie sich wenden können, um ihr Seelenheil zu finden. Und das ist vermutlich das Problem unserer Kultur, oder nicht?»

Am Tag nach dem Tod seines Freundes Toru Takemits hat Oe damit begonnen, das zu schreiben, was er in aller Bescheidenheit meine “Stilübungen” nennt. Und er versichert, weitermachen zu wollen, stets in der Erwartung, es möge ihm gelingen, die Psychologie der Personen komplett in der dritten Person auszudrücken, als da sind: ein intelligentes aber naives Kind, ein seltsames, bekehrtes Mädchen; ein Messias unserer Tage und sein Prophet, das Gehirn der Bewegung.

«Ich habe mich stets bemüht» so seine ruhigen Schlussworte. «Ich war wie einer jener Studenten, die sich stets bemühen, die schriftlichen Prüfungsaufgaben vor der Zeit abzugeben. Jetzt habe ich mir fest vorgenommen, mir all die Zeit zu nehmen, die ich brauche. Oder zumindest die, die mir bleibt; und das ist nicht viel».

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Benazir Bhutto

Das tragische Schicksal einer Frau an der Macht

Mein erster Kontakt mit dem indischen Subkontinent geht zurück auf den Mai 1996. Ich war erst ein knappes Jahr in Hong Kong, als Panorama mich bat, ein Interview mit der pakistanischen Premierministerin Benazir Bhutto zu machen. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als man sich international große Sorgen wegen der Entwicklung des Atomwaffenprogramms in Karachi machte und insbesondere die schon historischen Spannungen mit Indien ihren Höhepunkt erreicht hatten. Vor diesem internationalen Hintergrund war ein Exklusivinterview mit der Bhutto aus journalistischer Sicht ein Volltreffer.

Inmitten enormer Sicherheitsmaßnahmen – die Bhutto galt permanent als Zielscheibe möglicher Attentate – traf ich in Karachi eine wunderschöne Frau von außergewöhnlichem Charisma. Mit einer politischen Ahnentafel erster Güte. Erstgeborene Tochter des abgesetzten Premiermisters Zulfikar Ali Bhutto, die Mutter, Begum Nusrat Bhutto, war kurdisch-iranischer Abstammung. Der Großvater väterlicherseits Sir Shah Nawaz Bhutto war hingegen ein Sindhi, einer jener Schlüsselfiguren der pakistanischen Unabhängigkeitsbewegung. Benazir trat ihr Amt als Premierministerin am zweiten Dezember 1988 an, als erste Frau, die in einem muslemischen Land eine solche Position innehatte, und wurde am neunzehnten Oktober 1993 erneut in das Amt des Premierministers gewählt, nachdem sie während ihrer ersten Amtszeit in eine Reihe von Skandalen verwickelt gewesen war.

Im November 1996, wenige Monate nach diesem Interview wurde Bhutto abgesetzt (zum zweiten Mal, wie zuvor schon 1990), wegen des Verdachts der Korruption, vor allem aber unter dem Einfluss der dreisten finanziellen Aktivitäten des Ehemanns, Asif Ali Zardari, den sie “Mister zehn Prozent” nannten, wegen der Schmiergelder, die er von diversen Geschäftsleuten verlangt haben soll.

Madame Bhutto, die anfänglich in die Reihen der pakistanischen Opposition wechselte, setzte ihre turbulente Karriere bis 2007 als Präsidentin der pakistanischen Volkspartei fort.

Am siebenundzwanzigsten Dezember 2007, sie hielt gerade eine Volksrede in Rāwalpindi, dreißig Kilometer östlich der Hauptstadt Islamabad, sprengte sich ein Selbstmordattentäter inmitten der versammelten Menschenmenge ihrer Zuhörer in die Luft und riss mindestens zwanzig Menschen mit in den Tod.

Benazir Bhutto wurde noch in eine Klinik gebracht, wo sie wenig später ihren schweren Verletzungen erlag.

 

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Die Vereinigten Staaten haben Pakistan kürzlich beschuldigt, von China hoch entwickelte Apparaturen zur Anreicherung von Uran gekauft zu haben. Es besteht daher der Verdacht, Pakistan bereite einen Atomtest vor. Was können Sie dazu sagen?

Sowohl China als auch Pakistan haben beschlossen, dass keine Apparaturen zur Produktion von angereichertem Uran exportiert oder importiert werden. Vor diesem Hintergrund betrachtet denke ich, dass die Vereinigten Staaten die in ihrem Besitz befindlichen Informationen nochmals überprüfen sollten. Das pakistanische Atomprogramm dient friedlichen Zwecken. Indien hingegen soll kurz davor stehen, Atomtests durchzuführen, während der ex Premierminister von Neu-Delhi erklärt hat, eine nukleare Kampfhandlung nicht ausschließen zu können. Daher habe ich beschlossen, an Bill Clinton und an andere Staatschefs zu schreiben, und sie von meiner Sorge in Kenntnis zu setzen.

Welche?

Es könnten sich tragische Konsequenzen für den indischen Subkontinent ergeben, wenn die Internationale Gemeinschaft nicht alles daran setzen würde, einen indischen Atomtest abzuwenden. Ich hoffe, dass künftige Kontakte belegen, dass es sich hier um Gerüchte handelt, die jeglicher Grundlage entbehren. Es wäre falsch zu denken, Pakistan könne eine Erpressung durch Nuklearwaffen oder Raketen von Seiten Indiens stillschweigend akzeptieren.

Und die Antwort auf die taktische indische Rakete aus dem Prithvi-Atomprogramm ?

Es ist sehr bedauerlich dass in einer Ära der Abrüstung ein indisches Waffenprogramm für Mittel- und Langstreckenraketen existiert. Da führt zu Konflikten in einem Gebiet, das vom Jemen bis zur Straße von Malakka reicht. Sollten Raketen auf Lahore oder Karachi gerichtet sein, wird sich Pakistan überlegen, welche Gegenmaßnahmen ergriffen werden sollen.

Besteht die Möglichkeit, dass die Verhandlungen zwischen Indien und Pakistan wieder aufgenommen werden?

Der Grund für die Spannungen zwischen unseren beiden Ländern ist Kaschmir. Ich würde gerne eine Lösung finden, aber Indien verweigert jeden Dialog. Nach Ansicht von Neu-Delhi besteht kein Gesprächsbedarf, da Kaschmir ein Teil von Indien ist und basta. Unter diesen Voraussetzungen muss jede Hoffnung auf einen Dialog scheitern. Wir haben eine Dritte Partei in der Rolle des Vermittlers angeboten und dargelegt, dass es sich bei der Kaschmir-Frage um ein Problem handelt, das von allgemeinem Interesse ist, da der Frieden und die Sicherheit einer ganzen Region auf dem Spiel steht. Indien hat schließlich, quasi als letzte Alternative angeboten, in der Region Kaschmir freie Wahlen auszurufen, Wahlen, die von den lokalen politischen Gruppierungen abgelehnt werden. Es ist unmöglich, eine Lösung auszuhandeln, ohne Zustimmung der Menschen.

Welche Position beziehen Sie in Bezug auf den Vertrag zum Verbot von Nuklearwaffentests?

Wir unterstützen ihn, aber wir sind besorgt auf Grund der Tatsache dass Indien versucht, die Unterschrift hinauszuzögern, mit der Forderung, erst müsse ein Internationaler Plan zur Abrüstung in die Wege geleitet werden: es ist unrealistisch, zu denken, die Welt könne einen solchen Plan kurzfristig aktivieren.

Es gibt Stimmen, die behaupten, sowohl in Indien als auch in Pakistan gäbe es politische Strömungen, die die Explosion eines nuklearen Sprengkörpers favorisieren, um sich danach bei Unterzeichnung des Atomwaffensperrvertrags durch den Status einer Atommacht in einer Position der Stärke zu befinden…

Ich denke, “Falken“ im Sinne von Hardlinern gibt es auf beiden Seiten, in meinem Land sowie auf der anderen Seite der Grenze. Ich persönlich habe stets an Abrüstung, an atomwaffenfreie Zonen und an den Frieden geglaubt. Ich habe alles getan, um in Pakistan Dinge wie ethnische Vorurteile und Sektierertum jeglicher Art anzuprangern, das, was ich «Kalaschnikow-Kultur» nenne, Menschen, die sich ein Maschinengewehr um den Hals hängen, um damit ihre Probleme zu lösen. Ich wünsche mir, dass weder in Pakistan noch in Indien nie der Tag kommen möge, an dem die Falken gewinnen.

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