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Kapitel 6

Übernächste Woche sollte er wieder anfangen, darauf beharrte auch Petra Meienberg, Dienstchefin und Felbers direkte Vorgesetzte. Sie war es zwar gewesen, die Felber mehrmals nahegelegt hatte, eine Auszeit zu nehmen, um die Sache mit seiner Frau zu verarbeiten (als ob man so etwas in ein paar Wochen verarbeiten könnte!), aber jetzt schien ihr doch sehr daran gelegen, ihn bald wieder im Team zu haben.

Er saß in ihrem Büro mit den gerahmten Stichen und Gemälden von Landschaften am Zürichsee, sie ihm gegenüber hinter ihrem dunklen Schreibtisch, mit der Goldbrille, dem ledergebundenen Notizbuch und den Markenkleidern. Im Lauf der Jahre hatte Felber die Mittfünfzigerin schätzen gelernt. Sie war es gewesen, die ihm vor einigen Monaten unter vier Augen mitteilte, dass die Aargauer Polizei eine Leiche entdeckt hatte – sehr wahrscheinlich diejenige seiner Frau. Und sie hatte, nach Abschluss des Vermisstenfalls von Wald, seinen Antrag auf eine Auszeit aus gesundheitlichen Gründen gutgeheißen.

Heute wirkte sie auf Felber ein wenig steif. Sie schien unsicher, wie sie die Dinge ansprechen sollte. Sie begann mit den laufenden Ermittlungen im Mordfall Deborah. Ein Team von Kollegen, unterstützt von Beamten der Kriminalpolizei Aargau, war seit März damit beschäftigt, die Erkenntnisse aus dem Leichenfund auszuwerten und neuen Spuren nachzugehen. Christoph Altherr, der am Anfang die Ermittlungen geführt hatte, als man noch nicht wusste, dass es sich um Mord handelte, war im Mai einem Krebsleiden erlegen.

Mit der neuen Ermittlungsgruppe um Peter Egloff, Sascha Hayo und Denise Glauser hatte Felber seine liebe Mühe. Sie arbeiteten seriös, nach Reglement, nach Polizeischule, gaben ihm aber wenig Einblick in die Untersuchung, da sie es für unprofessionell hielten, dass er als direkt Betroffener sich nicht raushielt.

Felber hingegen war überzeugt, dass er – gerade weil er direkt betroffen und weil er nicht an die gängigen Ermittlungsrichtlinien gebunden war – einen viel besseren Zugang hatte. Statt mit reglementarisch festgelegten Detailuntersuchungen, Laborberichten und staatsanwaltlich abgestimmten Ermittlungsschritten Zeit zu vergeuden, konnte er viel zielgerichteter vorgehen. Allein während seines Aufenthalts in Freiburg hatte er mit Sicherheit viel mehr interessantes Material zusammengetragen, als es die Kollegen in Jahren korrekter Polizeiarbeit tun würden. Das Problem war nur, dass er mit seinen Erkenntnissen nicht bei ihnen anklopfen konnte, weil sie ihn nicht ernst nahmen. Und wenn er ganz ehrlich war, wollte er das auch nicht. Bei der Sache mit den geheimnisvollen Todesanzeigen war er mehrmals angebrannt.

»Petra, du weißt selber, dass die Ermittlungen nicht vorankommen. Da ist nichts Neues, keine einzige Spur«, verbesserte er die viel zu positive Schilderung der Dienstchefin.

»Was würde denn deiner Meinung nach etwas bringen?«, versuchte sie ihn aus der Reserve zu locken, aber Felber winkte nur müde ab.

»Ich bin mir schon bewusst, dass du es mir nicht sagen würdest, wenn du auf eigene Faust ermittelst.« Sie schaute ihm über den Rand ihrer Brille streng in die Augen.

Felber hob fragend die Augenbrauen und schwieg.

Nach einer Weile senkte sie seufzend den Blick. »Du kennst meine Vorgaben, ich möchte mich nicht wiederholen.«

Felber nickte ergeben. Das Gespräch hatte einen seltsamen Charakter angenommen. Nicht wie unter zwei Vertrauten, die offen miteinander redeten, es war eher ein vorsichtiges gegenseitiges Umkreisen.

»Die Auszeit hatten wir an therapeutische Maßnahmen geknüpft. Siehst du Hofmann regelmäßig? Habt ihr etwas Weiterführendes aufgegleist?«

»Nun ja, ich kann diese Woche mal zu ihm gehen.«

»Was hast du in den letzten zwei Wochen gemacht?«, fragte sie ungewohnt streng.

Felber zuckte mit den Schultern und gab keine Antwort. Vor dem Fenster kreuzten sich die Stromabnehmer zweier Trams, mehr war vom ersten Stock aus nicht zu erkennen.

Petra Meienberg musterte ihn lange und schüttelte dabei langsam den Kopf. »Pascal, ich bin in einer schwierigen Lage. Ich will, dass du bald zurückkommst. Solche … Probleme kommen vor, und dafür macht der Kanton ein Case Management. Aber ich bin auf deine Kooperation angewiesen. Das Personalamt, ja, wir alle wollen, dass du bald wieder einsatzfähig bist. Und zwar voll und ganz.«

»Ja, klar.«

»Wir wollen ausschließen, dass jemand nach einer Auszeit zurückkommt und auf der gleichen Schiene weiterfährt wie vorher, dass sich das Problem hinzieht, verschlimmert …« Sie starrte auf die Brille, die sie abgenommen hatte und in der Hand hielt. »Ich weiß, dass es nichts bringt, aber ich sage es dir doch: keine Privatermittlungen, Pascal! Du hast keinen Ermittlungsauftrag, und vor allem hast du während der Auszeit keinen Zugriff auf Ressourcen der Kriminalpolizei. Alles, was du an Ideen hast, kannst du den Kollegen weitergeben, die den Fall untersuchen. Dein persönlicher Kreuzzug darf keinen Einfluss auf deinen Job haben.«

Nach dem Gespräch ging Felber zu seiner Abteilung, wo man ihn freudig überrascht, aber auch etwas verlegen begrüßte. Felber war erstaunt, wie weit er sich in den wenigen Wochen von seiner Arbeit distanziert hatte. Er kam sich vor wie die Kollegen im Ruhestand, die ab und zu mal auf einen Schwatz vorbeischauten und mit alten Geschichten aufwarteten. Oder wie die pensionierten Kollegen seines Vaters, mit denen er in den letzten Wochen in Freiburg geredet hatte. Man hörte ihnen höflich zu, um sich nach dem Besuch wieder den ernsthaften Fällen, der professionellen Polizeiarbeit zu widmen.

In diesem Moment konnte sich Felber schwer vorstellen, zurückzukehren, ein Rädchen in diesem ewig gleichen Getriebe zu sein. Aber gut, dieses Gefühl hatte er schon länger, wahrscheinlich war es ihm durch die Auszeit nur bewusster geworden. Doch er war nun mal Kriminalpolizist und in etwas mehr als einer Woche wieder im Dienst. Er hoffte, bis dahin endlich die Sache mit Deborah gelöst zu haben oder wenigstens für sich ablegen zu können.

Lukas Baumgartner war noch unterwegs. Pamela Galtzidis, die charmante Sekretärin, machte Felber einen Kaffee, plauderte über dies und das, als wäre er nie weg gewesen. Der Hausmeister mit der getönten Brille, dieser Monn, kam kurz vorbei, zog sich aber bei Felbers Anblick sofort wieder zurück.

Baumgartner tauchte nach einer Viertelstunde auf. »He, Chef, schön, dich zu sehen!«

»Chef«, wiederholte Felber und folgte ihm in sein Büro.

»Komm, nimm dir einen Stuhl, setz dich.«

»Baumgartner, ich komme nicht aus dem Pflegeheim!«

Der groß gewachsene Beamte, der im letzten Jahr so viel an Profil gewonnen hatte, dass es Felber ihm gegenüber sogar ein-, zweimal angedeutet hatte, setzte sich auf den Drehstuhl und zog sich an der Tischplatte ein Stück zum Chef rüber. »Wir machen beim Toten von der Allmend mit, dem Politiker«, sagte er voller Stolz, als handle es sich um einen Song Contest oder eine Quizshow mit Riesengewinn.

»Spannend«, entgegnete Felber ohne eine Spur von Begeisterung und wechselte das Thema. »Erinnerst du dich noch an den Fall Leandra Winter?«

»Winter?« Baumgartner musste kurz überlegen. Dann nickte er. »Ja, klar.«

»Da war außerdem Sabrina Malic, die junge Frau, die diesem Léon Nacktfotos geschickt hatte. Ihre Kolleginnen hatten die Bilder im Netz verbreitet.«

Baumgartner nickte ernst. Die Handelsschülerin aus einer serbischen Familie hatte sich daraufhin mit Medikamenten aus der Hausapotheke das Leben genommen.

»Eine dieser Kolleginnen, die wir wegen Cybermobbing einvernommen hatten, war Mitglied einer religiösen Gemeinschaft.«

Baumgartner folgte gebannt Felbers Ausführungen.

»Kannst du mir ihre Personalien geben?«

Baumgartner grinste. »Haben wir gleich.«

Dass Baumgartner kooperativ sein würde, damit hatte Felber gerechnet. Aber dafür, dass er ihn nicht einmal fragte, warum und in welcher Sache Felber die Informationen brauchte, schrieb er ihm ein paar Extrapunkte gut.

Felber schaute ihm von der Seite zu, wie er geübt am Computer hantierte und die gewünschten Informationen an den Drucker schickte. »Scheinst gut zurechtzukommen«, stellte er fest.

Baumgartner hob fast entschuldigend die Schultern.

»Gewöhn dich nur nicht zu sehr daran. Übernächste Woche bin ich wieder da.«

»Da bin ich froh, Chef, ganz ehrlich. Die Leitung des Teams ist ein Heidenstress. Ist mir erst jetzt bewusst geworden, was du da immer leistest!«

Felber legte ihm väterlich eine Hand auf die Schulter, bevor er mit dem gewünschten Ausdruck die Abteilung verließ.

Am Abend googelte Felber die »Rosentempler« und fand tatsächlich eine Webseite, die im Stil der 90er-Jahre gehalten und auf den ersten Blick total unübersichtlich war. Es wimmelte von religiösen Sprüchen und Zitaten irgendwelcher spirituellen Meister und Bildern von Leuten auf Versammlungen. Eine ganze Seite verwies auf weiterführende Literatur: »Das Leben der Meister im Osten«, »Die großen Eingeweihten«, Bücher von Osho und einem Aleister Crowley über spirituelle Suche, Meditation und Bewusstseinserweiterung.

Dann gelangte Felber auf eine Art Porträtgalerie und stellte mit Befremden fest, dass es sich bei den Porträtierten um Personen handelte, die in Cheiry und Granges-sur-Salvan ums Leben gekommen waren. Er wurde nicht schlau daraus. Handelte es sich um Nachrufe, eine Warnung, eine Hommage? Einmal war von »Opfern des Transits« die Rede, gleich darauf wurde die »spirituelle Reise« in den herrlichsten Farben verklärt.

Auf einer Unterseite fand er Texte, die offenbar aus dem Nachlass der Sonnentempler stammten: »Transit in die Zukunft«, »Das Rosenkreuz«, »An alle, die die Stimme der Weisheit noch zu hören vermögen …«, schließlich sogar eine Abschrift des Briefs der Selbstmörder von Saint-Casimir an die Behörden von Québec vom März 1997.

 

Wer stellte so etwas ins Netz? Wozu? Und vor allem: Wer schaute sich so etwas an?

Kapitel 7

Thomas Brunegg ließ den sanften Sprühregen noch einige Sekunden lang seinen Körper massieren, dann stellte er die Regenwald-Dusche ab, schwang sich ein Handtuch um die Hüfte und ging zurück ins Schlafzimmer, wo er sich auf einen der Vitra Lounge Chairs setzte und die Nachrichten auf seinem Handy checkte. Auf dem Tisch stand vom Vorabend noch die leere Champagnerflasche neben dem Eiskübel und drei Gläsern. Am Boden, zwischen Reizwäsche und anderen Kleidungsstücken, lagen Handschellen, Lederriemen und Kondome, auf dem runden King-Size-Bett die beiden Frauen von Esplendid-Escort. Die eine, eine dunkelhaarige Tschechin, hatte sich in die Jersey-Decke eingewickelt und ließ nur einen Fuß sehen, die andere lag nackt auf dem Bauch, eine Nordafrikanerin, deren Rückgrat im gedämpften Licht eine perfekte Wellenlinie bildete.

In Gedanken ließ Thomas Brunegg die wilde Nacht Revue passieren, dann las er weiter. Roth hatte geschrieben wegen des Kredits. Thomas überlegte sich, wie er ihn am besten dazu bringen konnte, zu tun, was er wollte.

Währenddessen hatte sich die Tschechin aus der Decke gewickelt. Sie zog sie sich wie einen Umhang über eine Schulter, tänzelte zu ihm herüber und schmiegte sich an ihn. »Hey, Sweetheart …«

Er schob sie unsanft weg. »Zieht euch an und verschwindet!«

Jetzt war auch die andere wachgeworden – er konnte sich nicht an den Namen erinnern, wahrscheinlich Vanessa, Samantha, Sandy, irgend so was. In seiner Vorstellung hießen alle Nutten so. Sie setzte sich auf den Bettrand, ein wildes Tier. Aber dann machte sie alles zunichte, indem sie fragte, ob er gut geschlafen habe.

»Verpisst euch!«, schrie er und schlug mit der Hand auf den Glastisch, dass das Sektglas auf den weißen Shaggy fiel, ging mit dem Handy in die Ankleide und knallte die Tür hinter sich zu. Er bezahlte nicht fünfstellige Beträge, um am nächsten Morgen den Babysitter für die Tussen spielen zu müssen. Aus dem Wandschrank suchte er Unterwäsche, eine dünne Leinenhose und ein gebügeltes Poloshirt, wählte Roths Nummer und stellte das Handy auf Lautsprecher, um sich während des Gesprächs anzuziehen.

Der Arzt war sofort am Apparat und wiederholte seine Bitte, die Rückforderung des privaten Kredits aufzuschieben.

Thomas Brunegg gab vor, nicht zu verstehen, was Roth wolle. »Die Bedingungen sind doch klar.«

Natürlich hatte Roth das Geld nicht. Er hatte sich verspekuliert, sich eine teure Wohnung, einen Sportwagen leisten wollen, um seiner Freundin zu imponieren. Brunegg hatte ihm ausgeholfen, gegen gewisse Dienstleistungen, und nun bettelte Roth um Stundung. Er behauptete, Brunegg habe ihm eine flexible Rückzahlung versprochen.

»Die Dinge haben sich geändert, das Geld ist fällig.«

Vom Schlafzimmer her hörte er die beiden Mädchen tuscheln.

»Das ist nicht mein Problem«, sagte er kühl.

Roth bemühte die Freundschaft, die Zunftbruderschaft. Brunegg schlüpfte in ein Paar Louis Vuitton Loafers. Wie erwartet verlegte sich Roth nach einer Weile aufs Drohen.

»Es ist umgekehrt«, erklärte Brunegg ruhig. »Wenn du dich nicht an meine Regeln hältst, dann lasse ich deinem Spital Informationen zukommen, über unsauber deklarierte Medikamente, andere Unregelmäßigkeiten … Du weißt schon.«

Er kämmte sich das Haar, zog einen Seitenscheitel und brachte mit beiden Händen Gel auf, während Roth zappelte und sich wand.

»Es gibt keine Hinweise auf mich, das weißt du genau! Das ist nicht mein Problem, wie gesagt.«

Ob er wenigstens sicher sein könne, dass die Sache aus der Welt wäre, wenn er das Geld irgendwo beschaffen würde, fragte Roth.

»Ich werde es mir überlegen.«

Endlich erkannte Roth, dass er nicht mehr rauskommen würde, egal was er machte. Brunegg sei ein Teufel, meinte er, er höre nie auf.

Thomas lachte nur. Er hatte Roth genau dort, wo er ihn haben wollte. »Teufel ist gut. Aber du hast recht, ich werde vielleicht nie aufhören. Das hättest du dir vorher überlegen sollen.«

Als der Arzt ausfällig wurde und ihn als verdammtes Arschloch betitelte, legte Brunegg auf. Er ging durch das lichtdurchflutete Wohnzimmer. Auf dem Tisch war das Frühstück angerichtet, Speck, Rühreier, Kaffee, Toast, Backwaren. Er nahm sich ein Vollkornbrötchen. Auf der anderen Seite der Villa war ein Angestellter auf der Sonnenterrasse dabei, mit einem langen Wischer den Pool zu reinigen.

Kurz darauf fuhr Thomas Brunegg mit seinem BMW Cabrio von der Villa über dem Zürichsee los und durch die Rebberge Richtung Seestraße. Der Zürichsee lag spiegelglatt zwischen den Hügelzügen, die Gipfel der Innerschweizer Alpen waren im Dunst nur zu erahnen. Auf der Höhe eines großen Bauernhofs kam ihm eine Limousine mit abgedunkelten Scheiben entgegen. Esplendid-Escort holte seine Ladys ab.

Es herrschte wenig Verkehr auf der Seestraße. Brunegg donnerte mit überhöhter Geschwindigkeit Richtung Stadt. Auf der Höhe von Erlenbach musste er allerdings wegen des Lastwagens einer Blumenhandlung stark abbremsen. Zwei Kleinwagen trauten sich offenbar nicht zu überholen. Er hupte, fuhr nahe auf, schwenkte Richtung Mittellinie, um nach vorne zu schauen, und drückte dann das Gaspedal durch. Der Motor heulte auf, der Wagen überholte die drei Fahrzeuge. Wie in Zeitlupe nahm er das entgegenkommende Fahrzeug wahr. Er drückte das Gaspedal ganz durch, die Scheinwerfer des anderen fest im Blick, spürte das Adrenalin, den Kick. Im allerletzten Moment schwenkte er wieder ein. Der andere war auf die Bremse gegangen, auf den Pannenstreifen gelangt und hupte langanhaltend. Thomas Brunegg raste fröhlich die letzten Kilometer Richtung Zürich.

Kapitel 8

Orte um den Zürichsee, an denen vorrömische Naturheiligtümer, Ritualplätze, Steinkreise oder Kulthügel nachgewiesen werden können, sind ausnahmslos in Relation zu Sonne oder Mond gesetzt, sind ausgerichtet auf den Sonnenaufgang an Mittwinter, die große südliche Mondwende und andere Einschnitte im astrologischen Kalender. Sie zeugen davon, dass lange vor unserer Zeitrechnung, wahrscheinlich schon in den matriarchalen Gesellschaften der Jungsteinzeit, ein tiefes Bewusstsein für das harmonische Zusammenspiel der Jahreszeiten, der Lebewesen wie auch der Gestirne bestand. Oft sind es Kraftorte mit besonderer feinstofflicher Energie. Eine solche Stelle mit Kraftwerten von bis zu 700.000 Boviseinheiten (!) befindet sich nur wenige Kilometer außerhalb von Zürich, auf der Forch bei Aesch. Hier kreuzen sich nämlich mehrere sogenannte Ley-Linien, Energie-Adern, die prähistorische Kraftorte wie Stonehenge, die Pyramiden, die Extern-Steine oder das Labyrinth von Chartres verbinden. Der Architekt Otto Zollinger, der 1922 beauftragt wurde, dort ein Denkmal für die Zürcher Gefallenen des Ersten Weltkriegs zu bauen, muss die spirituelle Bedeutung des Ortes erkannt haben; ist die 18 Meter hohe Flamme auf dem Stufensockel doch nichts anderes als ein Obelisk, Symbol für die Verknüpfung der materiellen mit der geistigen Welt.

Auch Otto Froebel, der Ende des 19. Jahrhunderts den Garten der Villa Brunegg entworfen hatte, musste tiefe Ahnung vom geheimen Zusammenwirken universeller Prinzipien gehabt haben. Im Gegensatz zu anderen Zürcher Villengärten dieser Epoche war derjenige der Villa Brunegg ein wahrer Mikrokosmos voll innerer Harmonie und Symbolik. Im Zentrum, als Herzstück, die Rosenbeete; in jeder Himmelsrichtung ein Wasserelement: der Springbrunnen beim Haus vor der unteren Loggia, das flache Bassin auf der Westseite, die Nymphengrotte hinter dem Laubengang in Osten, der großzügige Neptunbrunnen in Norden. Dahinter der kleine Tempel auf dem Belveder. Geschwungene Wege, kleine Stützmauern, Kaskaden, Statuen antiker Gottheiten von einem venezianischen Bildhauer, Symmetrie ohne Starrheit. Eine Anlage, dafür geschaffen, die großen Einschnitte im Kalender zu begehen, wie die Sommersonnenwende in ein paar Wochen. Als spürten sie die Kraft des Ortes, hatten sich in den letzten Jahren Glühwürmchen angesiedelt, die in Sommernächten den Bereich um das Rosenbeet bis zum Nympharium in ein Meer magischer Lichtpunkte verwandelten.

Es war ein besonderes Jahr, ein Mondjahr, ein Jahr der Veränderung. Zuerst im Mai der Blutmond: Sie war allein mit Jakobs Mercedes zur Forch hochgefahren, zu diesem einmaligen Kraftort neben der Flammenskulptur, um sich dem energetischen Einfluss des riesigen Mondes hinzugeben. Wenig Leute waren oben gewesen, mehrheitlich Familien, aber abseits. Der Himmel war wolkenlos gewesen, wie seit Längerem wieder. Kein Regen, keine Wolken. Auch das waren Zeichen.

Früher hatten sie manchmal auf dem Jura-Bölchen, an diesem magischen Berg, Holzfeuer entfacht, aber das war lange her. Noch früher waren sie ums Holzfeuer im Garten der Pyramide in Genf getanzt – vor mehr als 25 Jahren. Von den Leuten von damals war heute niemand mehr dabei, die meisten waren tot. Es war eine neue Gemeinschaft, eine kleinere, friedlichere, passend zu dem Garten der Industriellenvilla, passend auch zu einem Jakob Brunegg, der immer teilnahm, wenn auch nur am Rande.

Für die Feier müsste die Brunnenanlage repariert werden. Die Verwaltung würde morgen jemanden vorbeischicken, um die Sache anzuschauen. Durch das Alter des Brunnens und die Vorgaben der Denkmalpflege könnte es allerdings schwierig werden.

Sie setzte den Strohhut auf und machte sich mit dem Kugelschreiber eine Notiz in ihre kleine Agenda. Um den Brunnen war mit hellem und dunklem Kies eine Art Sonnengeflecht auf den Boden gezeichnet. Mit Holzfackeln würde sie den Kreis verstärken, diesen dann dreimal abschreiten, das Licht aufnehmen, die höheren Kräfte anrufen, gewahr werden der Macht des Rituals. Vielleicht gemeinsam das »Awen« singen, auf die eine oder andere Form sich das Vergangene vergegenwärtigen, es rituell zum Abschluss bringen mithilfe des Feuers oder in einer kleinen Retraite auf dem Belveder beim Tempelchen. Niederschreiben, was einen beschäftigte, die Papiere später dem reinigenden Feuer übergeben. Oder doch lieber ohne Stift und Papier, intuitiver, vielleicht mit schamanischen Holzstäben? Danach aber auf jeden Fall etwas Gemeinsames … Sie hatte so viele Ideen, und hinter jeder taten sich neue Bezüge auf. Sie würde sich beschränken müssen. Ja, das war es, Beschränkung, Beschränkung auf ein, zwei einfache, archaische Rituale. Das allein wäre der Wende würdig.

Von der Rückseite des Hauses hörte sie einen Automotor, dann das Zuschlagen einer Tür, kurz darauf Schritte auf dem Kies. Thomas. Délphine Michelet verkrampfte sich.

In gemächlichem Schritt kam er auf sie zu, ohne eine Geste des Grußes, als wäre sie eine der vielen Statuen.

»Das Zeug ist total verrostet«, bemerkte er mit Blick auf den trockenen Neptunbrunnen.

»Die Handwerker werden das anschauen.«

»Steht eine hohe Feier an?«

»Erst in ein paar Wochen«, sagte sie knapp.

»Was betet ihr diesmal an, die Sonne, den Baal, den Golem?«

»Wir feiern die Sonnenwende.«

»Die Sonne, die allmächtige – Mutter.« Er schaute seine Stiefmutter schräg an.

»Ja, die Sonne«, sagte sie trotzig, »der Quell allen Lebens und …« Immer wenn sie mit ihm redete, kamen ihre Worte schal und floskelhaft heraus, die Sätze versiegten halb ausgesprochen.

»Ich bin kein Kenner dieser hohen Wissenschaft«, fuhr Thomas großspurig fort, »aber ist die Sonnenwende nicht auch das Fest der Vergänglichkeit?«

»Ein Moment in einem Zyklus, der zur Wiedergeburt und in einen neuen Jahreskreis führt, immer wieder.«

»Die alte Illusion, dass alles ewig weitergeht.«

»Das geht es auch, es ist eine Kontinuität über den Einzelnen hinaus …«

»Ich habe nie verstanden, wie man sich für eine Kontinuität begeistern kann, die über den Einzelnen hinausgeht«, erklärte er. »Entscheidend ist, wann der Einzelne geht, und da gibt es sehr große Unterschiede.«

Sie zuckte trotzig mit den Schultern und drehte den Strohhut zwischen den Händen. Warum sollte sie mit ihrem Stiefsohn diskutieren? Es ging ihm nur um Provokation und Spott.

»Macht ihr auch Opferrituale?«, fragte er.

Sie holte tief Luft, bevor sie ihm antwortete, dass sie das natürlich nicht vorhatten.

»Schade.«

»Es geht darum, den Jahreskreis, die Wiederkehr zu feiern, eine Art Reinigung, wie schon unsere Vorfahren seit Urzeiten …«

 

»Aber gerade bei den Kelten war die Sühne ein wichtiges Element in diesem Zusammenhang. Rituelle Opferungen, um Sühne zu leisten.«

Sie schüttelte den Kopf und blickte auf das leere Wasserbecken, in dem sich trockene Blätter angesammelt hatten.

»Es sühne, wer zu sühnen hat«, stichelte er weiter.

»Ich habe mir nichts vorzuwerfen«, fuhr sie auf, schaute jedoch gleich wieder weg. Eine Sekunde lang hatte sie das Bild der toten Frau im Foyer vor Augen. Sie bekam trotz der Junihitze Gänsehaut.

»Qui tacet consentire videtur«, sagte Thomas und zeigte mit dem Finger auf sie.

Sie verstand kein Latein und fragte sich, ob er extra vor ihren Treffen immer ein Zitat heraussuchte, bloß um sie zu demütigen.

»Wie geht’s ihm heute?«, wechselte er plötzlich das Thema.

Sie wusste, dass er seinen Vater meinte. »Mäßig. Die Pflege ist seit einer halben Stunde da.«

»Also dann«, sagte er fröhlich und wandte sich zum Gehen. »Weiterhin frohes Hokuspokus!« Er schnipste mit den Fingern in der Luft und ging pfeifend über den Kiesweg auf die Villa zu, die mit ihrer efeubewachsenen Fassade, den Loggien und Balkonen im Schatten alter Bäume stand.

Délphine blickte ihm nach und versuchte, das Gesicht der Toten zu verdrängen. Doch mit den Bildern war die Angst wieder da, die Angst und das Bewusstsein, selber Teil des Verbrechens zu sein, auch wenn sie nur das Schlimmste hatte verhindern wollen.

Wieder wurde ihr klar, dass Thomas sie umbringen würde, wenn sich die Gelegenheit ergäbe. Ohne mit der Wimper zu zucken, wie bei der anderen. Nicht nur wegen der Erbschaft, die ohnehin zum größten Teil schon als Vorbezug an ihn übergegangen war, sondern weil sie zu viel wusste. Sühne – damit lag er nicht einmal falsch. Sühne war ein wichtiger Schritt auf dem Lebensweg, viele Kulturen hatten Rituale dafür geschaffen, verstanden Sühne nicht als bloßes Entschuldigen und dann Weitergehen, sondern als ein Eingestehen der Schuld, als Bedingung für eine Versöhnung. Aber für Thomas war Sühne Aburteilen, Strafen. Sie diente nicht der Wiederherstellung der Harmonie, an die er ohnehin nicht glaubte, sondern der Befriedigung seiner Lust an Schmerz, an Gewalt und dem Leid anderer.

Der Dunsthimmel lag wie ein Leichentuch über dem Garten, als habe sich allein mit dem Auftauchen ihres Stiefsohnes alle Energie verflüchtigt. Wie jedes Mal, wenn er in ihre Gegenwart trat.

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