Zünftig

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Kapitel 3

»Jetzt halt doch mal still!« Sara zog am Ärmel des dunklen Vestons, den Felber über das T-Shirt angezogen hatte, und markierte mit Stecknadeln die Armlänge.

»Warum müssen solche Anlässe eigentlich so steif sein?«, seufzte er.

Sie lachte und machte sich am anderen Ärmel zu schaffen. »Für deinen Sohn kann es nicht elegant genug sein.«

Auch wenn Linus für gewöhnlich mit abgewetzten Jeans und bedruckten, nicht immer ganz frischen T-Shirts daherkam, das Haar wild durcheinander, legte er für die Hochzeit seiner Schwester Wert auf piekfeine Garderobe. Schon früher hatte er manchmal die Familie erstaunt, wenn er bei einem Familienfest, das man in lockerem Rahmen abzuhalten vereinbart hatte, partout mit Hemd und Krawatte erscheinen wollte – einer Kinderkrawatte mit Gummibändchen, wie sich Felber schmunzelnd erinnerte.

»Deine Tochter heiratet ja nur einmal«, nuschelte Sara, eine Stecknadel zwischen den Lippen. »Wäre blöd, wenn du als Einziger wie eine Vogelscheuche daherkommst.«

Felber zuckte mit den Schultern. »So komme ich mir vor wie ein Pinguin, das ist auch nicht besser.«

Meret heiratete ganz traditionell, was Felber nicht erstaunte. In solchen Sachen kam sie definitiv nach Deborah, nicht nach ihm. Der ursprüngliche Hochzeitstermin war Ende März gewesen, doch dann hatte man Deborahs Leiche gefunden und das Fest verschoben. Nun schien es, als wollten Meret und Jan den Aufschub durch doppelten Pomp wettmachen: zivile Trauung im Stadthaus an der Limmat, Apéro im Kirchgemeindehaus über dem Bahnhof Enge, Nachtessen im Belvoirpark-Restaurant etwas weiter stadtauswärts über dem See. Das Etablissement wurde von der Hotelfachschule geführt und hatte einen erstklassigen Ruf. Dabei waren die Preise vernünftig, was Felber sehr recht war, hatte er sich als Brautvater doch anerboten, für das Festessen aufzukommen. Der Lohn eines Kantonsbeamten in seiner Position war zwar anständig, aber Linus’ Ausbildung hatte lange Jahre an den Ersparnissen gezehrt, zudem war die Mietwohnung am Hadlaubsteig schweineteuer – wie mittlerweile überall in der Stadt.

Immerhin konnte er für seinen zukünftigen Schwiegersohn, der mit irgendwelchen Start-ups wahrscheinlich ein Vielfaches von Felber verdiente, mit einem besonderen Geschenk aufwarten, ohne noch einmal in die Tasche greifen zu müssen: Ihm schenkte er den Chrysler, Baujahr 1976, der Felbers Vater zu Lebzeiten gefahren hatte und der seither unbenutzt in der Tiefgarage der Liegenschaft am Hadlaubsteig stand. Mit Felbers Segen hatte sich Jan letztes Jahr darangemacht, den Oldtimer aufzumöbeln. Rechtzeitig zur Hochzeit hätte er ihn so weit, dass er den Wagen aus der Garage herausfahren könnte. Wenn Felber das restliche Gerümpel weggeräumt hatte, würde er den Parkplatz endlich aufgeben können.

Er sah schon vor sich, wie ihn Meret und Jan an schönen Frühlingstagen mit zwei, drei Kindern aus dem Altersheim abholten, für ein Ausfährtli mit dem Oldtimer, und sie gemeinsam zu Onkel Linus fuhren, der irgendwo im Appenzellerland einen Bauernhof betrieb, einen digitalisierten Hightech-Bauernhof vermutlich.

»Pascal, bitte!« Sara blickte zu Linus, der eben ins Wohnzimmer trat. »Dein Vater macht mich noch verrückt.«

Felber drehte den Kopf, so gut das in dieser Position eben ging.

»Hast du dir jetzt überlegt, ob du auch eine Produktion machst?«, fragte Linus, während er kritisch Felbers Aufmachung musterte.

»Du glaubst doch nicht etwa, dass ich mich vorne hinstelle und einen Sketch vortrage oder Kindergeburtstagsspiele anleite!«

»Es wäre noch Platz für zwei, drei Vorführungen«, warf Linus ein.

Felber verdrehte die Augen.

»Jans Vater hat eine Drehorgel für den Einzug in den Belvoirpark organisiert.«

»Toll, dann deckt er ja den Bereich Unterhaltung vollständig ab. Meret erwartet wohl nicht von mir …«

Linus winkte ab. »Nein, sie nicht, aber ich in meiner Funktion …«

»Lass dir ja nicht einfallen, mich überraschend nach vorne zu holen!«, drohte Felber, doch Linus war schon auf dem Weg in sein Zimmer.

Vom Flur aus rief er: »Übrigens, morgen ist Schifferstechen. Geht ihr auch hin?«

»Was für ein Stechen?«, fragte Felber, überrascht von Linus’ plötzlichem Themenwechsel.

»Das Schifferstechen«, übersetzte Sara.

Felber zog entschuldigend die Augenbrauen hoch.

Linus, der bis zur Tür zurückgekehrt war, schüttelte entgeistert den Kopf. »Man könnte meinen, du seist erst vor Kurzem nach Zürich gezogen. Aber vom Sechseläuten hast du schon mal gehört?«

»Sagt mir etwas.«

»Das Schifferstechen ist der zweitwichtigste Anlass der Zürcher Zünfte nach dem Sechseläuten!«, erklärte Sara.

»Eine Art Ritterturnier«, ergänzte Linus. »Mit Weidlingen auf dem Wasser.«

»Klingt faszinierend«, murrte Felber.

»Bei dem Wetter wird es Unmengen von Zuschauern haben«, gab Sara zu bedenken.

»Ein guter Grund, nicht hinzugehen«, schloss Felber das Thema ab.

Sara blinzelte Linus zu und hob entschuldigend die Schultern.

Der verschwand in seinem Zimmer.

»Du meinst doch nicht etwa, dass Linus tatsächlich vorhat…«, begann Felber.

Sara schüttelte den Kopf. »Dafür nimmt er sein Amt viel zu ernst.«

Meret hatte Linus nämlich gebeten, an ihrer Hochzeit den »Tätschmeister« zu spielen, wie man hierzulande den Zeremonienmeister nennt. Auch wenn er es nicht zugeben mochte, war er unglaublich stolz darauf. Felber war überzeugt, dass er mit Hingabe und vollem Einsatz an die Aufgabe herangehen würde. So schwierig und unnahbar er als Kind gewesen war, so seltsam und unfreundlich er auch jetzt noch oft wirkte, legte er doch immer wieder eine Fähigkeit an den Tag, besondere Momente besonders zu gestalten. Einmal hatten Deborah und Felber bemerkt, dass sie ihren Hochzeitstag vergessen hatten. Sie waren losgegangen, um im Denner einen Prosecco zu kaufen. Als sie zurückkamen, war die Wohnung abgedunkelt, Kerzen brannten auf dem Tisch, auf ausgebreiteten Servietten lagen Teller mit Gebäck, aus der Stereoanlage drang Vogelgezwitscher und Meditationsmusik.

Felber waren Anlässe mit vielen Leuten in Anzügen und Krawatten ein Graus. Natürlich freute er sich für seine Tochter, mit der Mischung aus Stolz und Schmerz, die wohl alle Väter angesichts der Hochzeit ihrer Kinder empfinden. Gleichzeitig musste er sich eingestehen, dass er zurzeit keinen Sinn für solche Dinge hatte. Zu sehr beschäftigte ihn die Frage nach Deborahs Mörder, die ewige Sorge, auch Meret und Linus könnten auf der Todesliste des Wahnsinnigen stehen. Er fragte sich, ob sich das je ändern würde, ob er je die Fragen beantworten, die Sache abschließen könnte.

Im Moment zumindest konnte er es nicht. So saß er wieder einmal abends in seinem kleinen Arbeitszimmer neben der Essnische. Auf dem Schreibtisch hatte er eine Landkarte von Kanada ausgebreitet. Er hatte für August eine Bahnreise mit dem »Ocean« geplant, nur für sich und Linus, von Halifax nach Montréal, von da weiter nach New York. Dort würden sie Sara treffen, die ihrerseits einige Wochen bei ihrer Tochter Noélia in New Jersey verbringen wollte. Die Reise war ein kleines Zugeständnis an Linus, weil Felber für Meret und ihre Hochzeit so viel Geld aufwendete, während Linus keine Anstalten machte, sich fürs Leben zu binden.

Die Karte hatte er aber in einem ganz anderen Zusammenhang aufgeschlagen: Ein pensionierter Beamter der »Sûreté du Québec« hatte sich auf seine Anfrage hin per Mail gemeldet. Alex Fortin schrieb, er habe damals, 1997, die Ermittlungen bei den Sonnentempler-Morden von Morin-Heights und Saint-Casimir geleitet und wolle Felber gern bei seinen Untersuchungen weiterhelfen. Er bat ihn, ihm präzise Fragen zukommen zu lassen, und bot ihm an, sich in einigen Tagen über Skype zu besprechen.

Während Sara bei leiser orientalischer Musik im Wohnzimmer an seinem Anzug nähte und Linus pfeifend zwischen der Küche und seinem Zimmer hin- und herging, formulierte Felber seine Fragen. Die erste war diejenige nach dem Verbleib von Joël Dalimier.

»Was machst du denn mit diesem altertümlichen Ding?« Linus war vor der Bürotür stehen geblieben. Nun trat er zum Tisch und musterte die Karte. »Unsere Strecke?«

Felber nickte.

Linus folgte der Bahnlinie mit dem Finger und nahm dann die Reiseunterlagen in die Hand, die daneben lagen. Plötzlich stockte er. »Du hast Sleeper Touring Class gebucht?«, fragte er fassungslos.

Felber nickte lachend. Er hatte es sich nicht nehmen lassen, für die zweitägige Fahrt die teurere Kabine mit Zugang zum Panoramawagen zu reservieren.

»Das ist … Das ist … wow!«

Als Felber Linus kurz darauf am Kühlschrank hantieren und vor sich hin pfeifen hörte, nahm er seine Kartenstudien wieder auf. Nicht allzu weit von der Bahnstrecke entfernt lagen zwei kleine Ortschaften: Morin-Heights und Saint-Casimir, wo sich in den 90er-Jahren zwei Morde im Umfeld der Sonnentempler-Sekte ereignet hatten. Sollte sich wirklich eine Spur des verschollenen Joël Dalimier finden, dann hier. Von Montréal aus, rechnete Felber, waren es rund 100 Kilometer, in unterschiedliche Richtungen. Zwar hatten Linus und er dort einen Tag Aufenthalt geplant. Aber wie würde Linus darauf reagieren, wenn er ihn auf der gemeinsamen Reise allein ließ, um seinen eigenen Ermittlungen nachzugehen?

Kapitel 4

Von kräftigen Ruderschlägen vorangetrieben zogen zwei Weidlinge in gerader Bahn aufeinander zu. Die beiden Stecher hatten sich bereits auf das Podest im Heck gestellt, hoben nun mithilfe der vorne Sitzenden die Lanzen in Richtung des entgegenkommenden Bootes. Die Münster-, die Rathausbrücke und das Limmatufer waren voller Zuschauer, auf der Wühre, dem schmalen Fußweg auf der linken Flussseite, war kein Durchkommen mehr. Auch auf den Trottoirs des Limmatquais stand man dicht gedrängt, und von den regelmäßig durchfahrenden Trams sah man hinter Wurstbuden und Festzelten nur die Stromabnehmer hin- und herfahren.

 

Nur noch wenige Meter trennten die beiden Boote. Schon schien der Zusammenprall unvermeidlich, da erfolgten zwei kräftige Stöße mit den stumpfen Lanzen. Mit wenigen Zentimetern Abstand schossen die Boote aneinander vorbei. Die Stecher rangen einen Moment lang um ihr Gleichgewicht, dann stürzte einer von ihnen, es war der Vertreter der Stadtzunft, in voller Kleidung in die Limmat. Applaus und Hurra-Rufe aus den Zuschauerrängen, ein Punkt für die Zunft zum Kämbel. Die Boote wurden gewendet, der Besiegte schwamm zur Anlegestelle, wo man ihm aus dem Wasser half.

Der »Storchen«, Hotel, Restaurant und Tagungsort im Herzen der Zürcher Altstadt, war das Stammlokal der Zunft zur Schiffleuten, die zusammen mit dem Limmat-Club alle drei Jahre das Schifferstechen organisierte. In diesem Jahr hatte man sich wegen der steigenden Besucherzahl des gleichzeitig stattfindenden Züri-Fäschts dazu entschlossen, den traditionsreichen Anlass bereits einen Monat früher stattfinden zu lassen.

Gastgeber und geladene Gäste anderer Zünfte hatten sich unter den Arkaden des blumengeschmückten Gebäudes am Limmatufer versammelt, mit Blick auf das Turniergeviert und das Grossmünster mit seinen eigentümlichen Doppeltürmen, auf denen aus Anlass des Tages die weiß-blauen Kantonsfahnen wehten. Die meisten Anwesenden trugen Trachten, die an die Goethe-Zeit erinnerten, die Schiffleuten-Zünfter breitkrempige schwarze Hüte und blaue Gehröcke, andere Dreispitz oder Zylinderhut. Alles in allem eine bunte Blütenlese der »besseren« Zürcher Gesellschaft, wie schon seit der Gründung der Zünfte im späten Mittelalter.

Délphine Michelet stand zwischen Vater und Sohn Brunegg, mit einem schwarzen Sommerkleid und dunkler Sonnenbrille. Sie beteiligte sich nicht an den Gesprächen und wurde von niemandem angesprochen. Ihre Gedanken kreisten um den Anruf ihrer Tochter Carole am Vorabend. Der Wettkampf der jungen Zünfter ging völlig an ihr vorbei. Sie schaute höchstens kurz von ihrem Weißwein auf, wenn das Johlen der Menge anzeigte, dass wieder jemand seinen Kontrahenten ins Wasser befördert hatte und seine Zunft in die nächste Runde brachte. Mit halbem Ohr hörte sie, wie Jakob Brunegg mit Altregierungsrat Meienberg Small Talk hielt, über Wetter, Zunftanlässe und Familie, worüber man halt so sprach an einem solchen Tag.

Seine Nichte, erzählte der Weißhaarige, sei bei der Polizei, Kriminalpolizei, Leiterin einer Dienststelle.

Jakob zog bewundernd die Brauen hoch, mit diesem etwas spitzbübischen Ausdruck, der offenließ, was er wirklich dachte.

Jakob Bruneggs Sohn Thomas erklärte derweil einer hübschen jungen Frau in einem luftigen Sommerröckchen und einer großen Blume im Haar, dass man das Schifferstechen im Mittelalter mit Harnisch, Schild und Helm ausgeführt habe. Dabei seien immer wieder Wettkämpfer von ihrer Rüstung nach unten gezogen worden und ertrunken. Das sei bestimmt um einiges spannender gewesen als das hier.

Délphine rieb sich die Arme, sie hatte eine Gänsehaut bekommen. Sie zwang sich, ihren Stiefsohn zu ignorieren, aber es gelang ihr nicht. Die brutalen Züge um die Mundwinkel, die Kälte in seinen Augen … Sahen das die anderen denn nicht? Nun, man musste eben genau hinsehen. Nicht wie diese dummen Mädchen mit ihren Sommerröckchen und Sandalettchen.

So wie Délphine Michelet nie heimisch geworden war unter den Zunftleuten, hatten auch diese sie nie als ihresgleichen akzeptiert, auch nicht 25 Jahre nachdem der alte Brunegg ihretwegen seine Frau verlassen hatte, Erbin einer steinreichen Bankiers-Familie. Délphine war fast 20 Jahre jünger als Jakob, stammte aus einfachen Verhältnissen, hatte in ihren jungen Jahren als Stripperin gearbeitet und beschäftigte sich nun seit Längerem mit Persönlichkeitsentwicklung und Bewusstseinserweiterung, mit »Okkultismus und Sektendingen«, wie die anderen sagten. Aber sie hatte in all den Jahren auch nie die Akzeptanz dieser Gesellschaft gesucht. Wenn sie ehrlich war, empfand sie bloß Verachtung gegenüber diesen Leuten, die krampfhaft versuchten, ihren gesellschaftlichen Status zu betonen. CEOs, Anwälte, Politiker, in ihrem Gefolge Frauen mit Sandaletten und Sommerröckchen, die in dieser Männerdomäne nur Dekorationswert hatten, an bestimmten Zunftanlässen nicht einmal im gleichen Saal wie ihre Männer essen durften! Wenn man die jungen Männer betrachtete, die sich um Leute wie Jakob scharten, um Kontakte zu knüpfen, für Praktikumsstellen in international tätigen Anwaltskanzleien oder Handelskammern, dann war das jedoch auch eine Form der Prostitution.

Nein, sie hatte nur Verachtung für diese Gesellschaft und ihre spießbürgerlichen Traditionen und Anlässe übrig. Immerhin würden diese aufhören, wenn Jakob nicht mehr war. Denn auch wenn er mit seinen 80 Jahren noch stattlich daherkam, »etwas darstellte«, wie man sagte, in Tracht und Zylinder, so fraß doch der Krebs in ihm. Natürlich redete man in einer Familie wie der Brunegg’schen nicht darüber. Man stockte nur stillschweigend das Pflegepersonal auf und ließ von Zeit zu Zeit neues medizinisches Inventar liefern.

Aber die Zeichen standen auf Veränderung. Es war ein Mondjahr. Im März hatte man im Thurgau Hunderte toter Vögel gefunden. Wie Steine seien sie vom Himmel gefallen. Die zuständigen Behörden hatten keine Erklärung für das Phänomen. Dabei war es klar: Es waren Zeichen. Zeichen für Veränderung. Veränderungen waren unumgänglich, doch diese machte Délphine Angst. Nicht so sehr der Verlust von Jakob, vielmehr dass sie mit Thomas allein zurückbleiben würde. Ein Widder im Sternzeichen, Venus und Mond superdominant – eine hochproblematische Ausgangslage. Zwar machte die astrologische Konstellation einen Menschen nicht automatisch zum Psychopathen, aber in diesem Fall war es eben so.

Und nun auch noch dieser Anruf von Carole. Der Name Felber. Der Sohn des alten Felber forsche den damaligen Sorgerechtsfällen nach. Es war, als tauche der Geist des alten Beamten aus der Vergangenheit auf. Die schrecklichen Bilder vom vergangenen Winter kamen in ihr hoch, vom Herbst vor vier Jahren, Gedanken an die Fehler von damals vor über 20 Jahren. Das alles wirbelte auf, legte sich schwer um sie, während die Zünfter blind ihre immer gleichen sinnentleerten Veranstaltungen abhielten, Schifferstechen und Sechseläuten, Martinimahl und Bott, geordnet, verhalten, konventionell.

2004 war sie zusammen mit Jakob knapp dem Tsunami in Thailand entronnen. Sie erinnerte sich, dass nicht einfach eine Flutwelle gekommen war, sondern dass sich zuerst das Meer vollständig zurückgezogen hatte, völlige Ebbe, Schiffe lagen umgekippt auf dem Sand. Und dann, erst dann war die Welle gekommen und mit ihr Tod und Verwüstung.

Die Glocken von St. Peter schlugen 15 Uhr, es ging in die Finalrunde.

Kapitel 5

Neben einer Apotheke führte eine Glastür ins kühle Treppenhaus. Die Sektenberatung befand sich im dritten Stock, die anderen Stockwerke beherbergten Zahnärzte, Physiotherapeuten, Psychologen und anderen Dienstleister für Körper und Seele. Felber war froh, dass er im Wartezimmer allein war. Er blätterte in einigen Broschüren, legte sie aber bald wieder zur Seite, ging im nüchternen Zimmer herum und blickte durch das doppelverglaste Fenster. Von hier aus hatte man eine herrliche Aussicht über das Universitätsviertel bis hinunter zum See.

Der kleine Mann mit dem schütteren Haar, der ihn nach einigen Minuten abholte, stellte sich als Herr Lüönd vor und führte Felber durch einen langen Gang in ein Besprechungszimmer auf der anderen Hausseite. An den Wänden hingen moderne Malereien, die aussahen wie das Gekleckse, das Meret und Linus ein paar Jahre lang aus Spielgruppe und Kindergarten nach Hause gebracht hatten. Lüönd wies Felber einen Platz auf einem schwarzen Ledersessel zu und setzte sich hinter einen Schreibtisch mit Glasplatte.

»Sie haben wegen den Sonnentemplern geschrieben«, resümierte er nach einem Blick auf seinen kleinen Laptop.

Felber nickte.

»Mir ist nicht ganz klar geworden, aus welcher Motivation heraus Sie Informationen suchen. Sie sind mit der Gruppierung wohl kaum in Berührung gekommen?«

Felber schüttelte den Kopf. »Schauen Sie: Mein Vater hat lange Zeit für die Vormundschaftsbehörde des Kantons Freiburg gearbeitet. Als sich die Dramen von Cheiry und Granges-sur-Salvan ereigneten, war ich etwas über 20. Wir lebten bereits in Zürich, aber mein Vater hat sich noch mit den Sorgerechtsfällen befasst, bei denen es darum ging, ob man Sektenmitgliedern die Kinder wegnehmen und zu ihrem eigenen Schutz in Pflegefamilien unterbringen durfte.«

Der Sektenexperte nickte langsam. »Verstehe ich also richtig, dass Sie hier sind, um Ihre Familiengeschichte aufzuarbeiten?«

Felber nickte langsam.

»Wissen Sie, eigentlich beraten wir Menschen, die unsicher sind, weil sie mit Gruppierungen in Berührung gekommen sind, von denen sie nicht wissen, ob es Sekten sind; Eltern, deren Kinder sich von ihnen abwenden oder sich radikalisieren, Leute, die in Abhängigkeit geraten sind und Hilfe für den Ausstieg suchen.«

Felber reagierte nicht. Aus unzähligen Einvernahmen wusste er genau, welche Redestrategien zum Ziel führten. In vielen Fällen war es das Beste, nichts zu sagen.

»Also Familiengeschichte«, schloss Lüönd etwas irritiert ab.

»Gibt es heute noch Ableger des OTS hier in Zürich?«, fragte Felber.

»Der Orden des Sonnentempels war in der Romandie aktiv, daneben gab es Gruppen in Frankreich und in Kanada, aber in Zürich …«

»Die Führungsriege«, fuhr Felber fort, »hat sich immer wieder auf sogenannte Meister in Zürich berufen, die auf die Entscheide Einfluss genommen haben sollen. Wer war das?«

Lüönd lehnte sich vor und lächelte verschwörerisch. »Diese Meister in Zürich«, erklärte er, »waren wohl Di Mambros Finanzbeziehungen.«

Felber runzelte die Stirn.

»Man weiß heute, dass die Sektenführung, also Jo Di Mambro und Luc Jouret, das Ganze auf zwei Ebenen betrieben haben: Zum einen verfolgten sie eindeutige finanzielle Interessen, und da spielten diese Beziehungen in Zürich bestimmt eine wesentliche Rolle. Auf der zweiten, der spirituellen Ebene konnten sie diese sogenannten Meister aber auch gut brauchen, um die Leute in Schach zu halten.«

Felber verstand noch immer nicht ganz. »Waren das Banken?«

Der Experte zuckte mit den Schultern. »Das hat man nie herausgefunden«, sagte er geheimnisvoll. »Di Mambro ist vor dem Transit mehrmals nach Zürich gefahren. Offenbar ging es um Geld. Wer dahinterstand, weiß man nicht.«

»Und heute? Gibt es heute noch Ableger?«

»Mir sind keine Aktivitäten des OTS bekannt. Wir haben ein Wirrwarr von neuen Gruppierungen, der islamistische Extremismus ist ein großes Thema. Es ist schwierig, die Übersicht zu behalten.«

Felber nickte verständnisvoll.

»Die Sonnentempler wurden eine Zeitlang noch observiert, aber irgendwann hat sich die Gruppe aufgelöst. Ihr Gedankengut ist übrigens ein Amalgam verschiedenster esoterischer Richtungen, wie man sie auch bei anderen Gruppierungen findet. Nicht nur bei esoterischen Geheimbünden, auch bei Anthroposophen …«

»Vor einem Jahr«, unterbrach ihn Felber, »hatte ich mit einem Fall von Cybermobbing zu tun. Ein Mädchen sagte aus, sie gehöre zu einer Gemeinde von Rosenkreuzern oder Sonnentemplern – ich erinnere mich nicht an die genaue Bezeichnung.«

»Einen Fall?«, fragte der Experte kritisch.

»Kriminalpolizei. Wir hatten damals …«

»Moment mal, sind Sie jetzt als Polizeibeamter hier oder als Privatperson?«

»Ich bin im Moment nicht im Dienst und wegen der … Familiengeschichte hier«, erklärte Felber.

»So, so«, murmelte Lüönd und schien zu überlegen, ob er Felber seine Hilfe weiter angedeihen lassen sollte oder nicht. »Warten Sie«, sagte er schließlich und hämmerte eine Zeitlang auf seinem Laptop herum. »Es gibt eine Gruppe, die sich als Rosentempler bezeichnet – wie originell! Wie ich der Übersicht entnehme, sollen auch Leute darunter sein, die aus dem Umfeld des OTS stammen, Überlebende, die sich wieder zusammengefunden haben. Interessant, war mir nicht bekannt.«

Felber war hellhörig geworden. »Das verstehe ich nicht: Da sind über 50 Menschen brutal getötet worden, und diese Leute können einfach weitermachen, als ob das eine kleine Panne gewesen wäre?«

Der Experte musterte ihn. »Das ist ein Phänomen, das man nach solchen Ereignissen häufig beobachtet. Zuerst sind die Überlebenden schockiert, die Medien decken schreckliche Dinge auf, man redet von Verbrechen, von Wahnsinn. Aber nach und nach finden sie sich wieder zusammen, beginnen die Sachen umzudeuten, geben Einzelnen die Schuld, um an den Glaubensinhalten festhalten zu können. Wer jahre- oder jahrzehntelang in einer solchen Struktur gelebt hat, kann das nicht von einem Tag auf den anderen ablegen.«

 

Das leuchtete Felber ein.

»Das Gedankengut des Ordens«, fuhr der Schüttere fort, »ist in seinem Kern ungefährlich. Gefährlich ist, was Einzelne daraus gemacht haben: Sie haben die Leute in Abhängigkeit gebracht, sie genötigt, alle anderen Beziehungen abzubrechen, und das bedeutete gegenseitige Kontrolle, totale Überwachung, Fronarbeit und finanzielle Ausbeutung. Dann, gegen Ende, kamen die Polizeiermittlungen dazu, Paranoia, Endzeitstimmung …«

»Die Gruppe steht also nicht mehr unter Beobachtung?«, hakte Felber nach.

Der andere schüttelte den Kopf. »Seit Ende der 90er-Jahre nicht mehr. Dazu kommt, dass dieser Ableger, wie ich hier lese, keine neuen Mitglieder rekrutiert. Es scheint eine kleine, fast private Gemeinschaft geworden zu sein.«

»Gibt es Teilnehmerlisten?«

»Nein, natürlich nicht.«

Felber kratzte sich am Nacken. »Wenn ich diese Leute kontaktieren wollte, an wen müsste ich mich da wenden?«

Lüönd blickte ihn mit einem Ausdruck von spöttischem Unglauben an. »Mein Guter, wir sind eine Sektenberatung, keine Sektenvermittlung!«

Es gab sie also doch, sagte sich Felber, als er mit dem 6er-Tram zurück ins Zentrum fuhr, inmitten von lärmenden Schulklassen, die wahrscheinlich den Zoo besucht hatten. Lukas Baumgartner würde ihm weiterhelfen müssen. Er würde seinen Kollegen und momentanen Stellvertreter um die Informationen bitten, wenn er morgen das Gespräch mit der Dienstchefin hatte.

Es war so heiß, dass die Studentinnen von Uni und ETH kaum mehr als Hotpants, Trägershirts und Wasserflaschen trugen. Ums Unispital heulten ununterbrochen die Sirenen von Krankenwagen, die Hitzeversehrte aus den umliegenden Alters- und Pflegeheimen einlieferten. Die News-Anzeige im Wageninneren gab bekannt, dass wieder ein neuer Hitzerekord verzeichnet worden war: 34,2 Grad. Es folgte die Ankündigung eines massiven Stellenabbaus bei einer Großbank, danach die Meldung, ein lokaler Jungpolitiker sei in der Zürcher Allmend tot aufgefunden worden. Felber war froh, dass ihn solche Dinge im Moment nichts anzugehen brauchten.

In einer plötzlichen Eingebung rief er Sara an. Sie war im Kunsthaus, ganz in der Nähe also, hatte eine Klasse durch eine Ausstellung geführt und eben verabschiedet. Sara arbeitete als Lehrerin für Kunstgeschichte an einem Zürcher Gymnasium. Sie schlug vor, vor dem Kunsthaus auf ihn zu warten.

Dieses war vor einigen Jahren renoviert worden. Auf der gegenüberliegenden Seite, wo früher ein altehrwürdiges Schulhaus gestanden hatte, hatte man ein weiteres Gebäude, einen architektonisch hochmodernen Würfel gebaut, der noch mit Baufolie verdeckt war. Von Weitem schon sah Felber Sara, die sich im museumseigenen Café einen Platz unter einem Sonnenschirm gesichert hatte, neben einer schwarzen Plastik, die mit viel Fantasie eine Meerjungfrau darstellte.

Sie hatte mit einer fünften Gymi-Klasse eine Ausstellung von Picasso, Gorky, Kandinsky und weiteren Künstlern besucht und war vor allem hingerissen von der Arbeit einer französischen Malerin, die Farbe, Unmengen von Farbe, auf große Leinwände spritzte. Sie zeigte ihm eines der Bilder im Katalog. Spritzer, Schlirggen. »Diese Dynamik … diese Kraft!«

Das Bild weckte bei Felber vor allem einen unbändigen Durst. Während Sara ihre Begeisterung zum Ausdruck brachte, sah er sich nach einem Kellner um, als könne er ihn allein durch die Kraft seiner Blicke an den Tisch ziehen.

Als Sara es bemerkte, hielt sie inne und legte das Buch sorgfältig in ihren Rucksack zurück. »Und du?«, fragte sie.

»Sektenberatung.«

»Wegen … Wegen der Sache?«

Er nickte und hoffte, sie würde nicht weiterfragen. Sie redeten selten, eigentlich nie darüber, aber Felber entging es nicht, dass sie sich Sorgen machte. Sorgen, dass er sich verrannte, dass ein richtiges Burn-out drohte, dass er paranoid wurde.

Er versuchte, das Thema auf etwas anderes zu lenken.

Nach einer Weile legte Sara lächelnd ihre Hand auf seine. »Du bist nicht bei mir.«

Er zog entschuldigend die Brauen hoch und war froh, dass in diesem Moment der asiatische Kellner die zuvor georderten eisgekühlten Getränke brachte.

Felber erzählte Sara, um überhaupt etwas zu sagen, dass er morgen mit Petra Meienberg über seine Wiedereinstellung reden würde.

»Übernächste Woche, da steigst du wieder ein, oder?«

»Mhm.«

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