Buch lesen: «Transformativer Realismus»
Marc Saxer
Transformativer Realismus
Zur Überwindung der Systemkrise
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ISBN 978-3-8012-7033-9 (E-Book)
ISBN 978-3-8012-0595-9 (Printausgabe)
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by Verlag J.H.W. Dietz Nachf. GmbH
Dreizehnmorgenweg 24, D-53175 Bonn
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Satz: TypoGraphik Anette Bernbeck, Gelnhausen
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2021
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Inhalt
Cover
Titel
Impressum
Einleitung
Teil I Der Neoliberalismus kann die Systemkrise nicht lösen
Kapitel 1 Die Produktivitätsrevolution zündet nicht
Kapitel 2 Kostenreduzierung verschärft die Nachfragekrise
Kapitel 3 Die Zugänge zu den neuen Märkten werden beschränkt
Kapitel 4 Finanzkrisen ruinieren Wirtschaft und Staat
Kapitel 5 Die Staatsschuldenkrise spaltet Europa
Kapitel 6 Billiges Geld treibt die soziale Ungleichheit
Kapitel 7 Wer zahlt die Zeche für die Krise?
Kapitel 8 Der demokratische Staat lässt seine Bürger im Stich
Kapitel 9 Die reaktionäre Revolte gegen die Alternativlosigkeit
Teil II Das progressive Lager ist schwach und zerstritten
Kapitel 10 Das Bollwerk treibt den Rechten die Wähler in die Arme
Kapitel 11 Der neo-maoistische Rand der Linksidentitären probt die Kulturrevolution
Kapitel 12 Die postmarxistische Linke kann die Krise erklären, aber nicht überwinden
Kapitel 13 Progressive Neoliberale machen sich zu Helfershelfern der neoliberalen Misere
Kapitel 14 Die Sozialdemokratie steckt in der Glaubwürdigkeitskrise
Teil III Der Transformative Realismus
Kapitel 15 Eine Allianz für die neue Ordnung
Kapitel 16 Nur wer an eine gemeinsame Zukunft glaubt, verbündet sich
Kapitel 17 Strategische Narrative müssen anschlussfähig sein
Kapitel 18 Katalytische Leuchtturmprojekte als Kristallisationspunkte für transformative Bündnisse
Kapitel 19 Klassen, Lager, Lebenswelten: Der Baukasten der Allianzbauer
Kapitel 20 Wer mit wem? Die Strategiedebatte im progressiven Lager
Kapitel 21 Die Rolle der Sozialdemokratie in der transformativen Allianz
Teil IV Brücken bauen: Plattformen für transformative Allianzen
Kapitel 22 Der Green New Deal
Kapitel 23 Der hegende und pflegende Gärtnerstaat
Kapitel 24 Die menschengerechte Wirtschaft
Kapitel 25 Die solidarische und souveräne Schutzmacht Europa
Kapitel 26 Die lebenswerten Heimaten
Epilog
Danksagung
Endnoten
Einleitung
»Wenn das Alte stirbt, und das Neue nicht geboren werden kann, dann kommen Monster zum Tanz.«
Antonio Gramsci
Finanzkrise, Eurokrise, Flüchtlingskrise, Demokratiekrise, Klimakrise, Coronakrise. Krise überall. Die Welt kommt scheinbar gar nicht mehr zur Ruhe. Kaum ist ein Feuer ausgetreten, lodert ein anderes auf. Jetzt aber ist der Feuerlöscher leer, und es brennt weiter lichterloh. Die Krisen hängen zusammen, verstärken und bedingen sich gegenseitig. Sie sind die Symptome einer großen Systemkrise, die unsere Welt erschüttert. Warum ist das so? Und was können wir dagegen tun?
Die Wurzeln der Systemkrise reichen weit zurück. Im »Goldenen Zeitalter« der Nachkriegszeit schien es nur eine Richtung zu geben: nach oben. Doch in den 1970er-Jahren ging dem Industriekapitalismus die Puste aus. Die Nachfrage brach ein und mit ihr die Profite.
Um aus der Profitkrise herauszukommen sahen die Anbieter fünf Möglichkeiten. Erstens, ihre Produkte billiger zu machen. Zweitens, neue Märkte zu erobern. Drittens, die Verkaufsschlager von morgen zu entwickeln. Viertens, die Nachfrage durch Schulden anzuheizen. Oder ganz einfach die Flaute auszusitzen, indem sie ihr Geld an den Finanzmärkten parken. Das Programm der Deregulierung, Privatisierung, Globalisierung und Liberalisierung wurde zum Glaubensbekenntnis der kapitalistischen Welt. Der Neoliberalismus war geboren und trug seine Ideen bis in die entferntesten Winkel des Planeten.
Aber der Neoliberalismus war nie dafür geeignet, die Systemkrise zu lösen. Im Gegenteil, das neoliberale Programm hat die Krisen, mit denen wir uns heute konfrontiert sehen, hervorgerufen und verschlimmert. Um zu verstehen, wie sie sich zu einer großen Systemkrise verdichten, schreiten wir ihre vielen Brandherde im ersten Teil des Buches in schnellen Schritten ab.
Die Hoffnung auf eine neue Produktivitätsexplosion hat sich bis heute nicht realisiert. Im Gegensatz zu den vorangegangenen industriellen Revolutionen führt die Digitalisierung nämlich nicht zu vergleichbaren Produktivitätssprüngen (Kapitel 1).
Wächst die Arbeitsproduktivität nicht schnell genug, bleibt den Anbietern nur, ihre Kosten zu senken, um im immer härter werdenden globalen Wettbewerb mithalten zu können. Die Herstellungskosten wurden durch Automatisierung und Auslagerung in Billigstandorte minimiert. Gleichzeitig drückten die neoliberalen Reformer Löhne, Steuern und soziale Abgaben. Doch wer das Geld aus den Taschen der Konsumenten nimmt, verschärft die Nachfragekrise in den alten Industrieländern nur noch weiter (Kapitel 2).
In den Schwellenländern hat die Globalisierung eine neue Mittelschicht geschaffen, die eifrig konsumiert. Allerdings provozierte die Verlagerung von Arbeitsplätzen eine protektionistische Gegenreaktion in den alten Industrieländern. Der Konflikt zwischen den Vereinigten Staaten und China um die globale Vorherrschaft, könnte nun das Ende der Hyperglobalisierung einläuten (Kapitel 3). Setzen sich die globalen Entkopplungs- und Abschottungstendenzen fort, verlieren die Unternehmen den Zugang zu den neuen Märkten, die eigentlich die Sättigung ihrer Heimatmärkte kompensieren sollten.
Um die schwächelnde Nachfrage anzukurbeln, haben manche Länder die Verschuldung der Konsumenten begünstigt. Wenn Banken Kredite vergeben, schöpfen sie neues Geld. Weil es kaum attraktive Investitionsmöglichkeiten in der Realwirtschaft gab, nahmen die Gläubiger dieses unproduktive Geld und zockten damit in den Casinos des Finanzkapitalismus. Dieses um den Globus marodierende Kapital heizt die Vermögens- und Immobilienmärkte an. Können die Schulden jedoch nicht mehr bedient werden, kommen Anleger und Banken ins Rutschen. Platzen die Blasen, erschüttern sie das gesamte Finanzsystem, mit verheerenden Folgen für die Realwirtschaften. Die regelmäßigen Rettungsaktionen haben die Staaten an den Rand des Bankrotts gebracht (Kapitel 4).
Im Euroraum droht die Staatsschuldenkrise die Gemeinschaftswährung auseinanderzureißen. Um die Staatsfinanzen zu konsolidieren, wurden den Bevölkerungen im Süden Europas eiserne Sparprogramme aufgezwungen. Immer mehr Südeuropäer haben daher das Gefühl, die Verlierer der Gemeinschaftswährung zu sein. Hier liegt das eigentliche Dilemma Europas: Die Fehlkonstruktion der Währungsunion erschwert die Lösung der Eurokrisen innerhalb der bestehenden Verträge. Solange die europäischen Bürger das europäische Projekt jedoch als Bedrohung empfinden, sind die zur Überwindung der Krise notwendigen Integrationsschritte politisch kaum durchsetzbar (Kapitel 5).
Um den Infarkt des Finanzkapitalismus zu verhindern, drucken die Zentralbanken seit über einem Jahrzehnt Geld. Doch das billige Geld beschleunigt die Konzentration von Vermögen und Macht an der Spitze der Gesellschaft, während am unteren Ende immer mehr Menschen in die Prekarität abrutschen (Kapitel 6). In den westlichen Industrieländern ist die Schere zwischen reich und arm, oben und unten so groß wie nie zuvor.
Nun hat die Coronakrise neue Löcher in die Staatsfinanzen gerissen. Wer wird am Ende die Zeche für die gigantischen Rettungspakete zahlen? Wie schon nach der letzten Finanzkrise werden Rufe laut, die Kosten durch harte Einschnitte bei den Sozialtransfers zu decken. Doch jeder Euro, der den Bürgern abgetrotzt wird, verschärft das Nachfrageproblem, an dem der Kapitalismus krankt. Die neoliberale Medizin tötet also ihren Patienten, statt ihn zu heilen. Aber auch politisch ist der Weg in die Austerität versperrt. Ein weiteres Jahrzehnt drakonischer Sparprogramme würde einen Tsunami populistischer Revolten provozieren, den weder die Demokratien Südeuropas noch die Europäische Union überleben würden (Kapitel 7).
Viele Menschen sind verunsichert und fragen sich, ob der demokratische Staat noch den Willen und die Mittel hat, diese Fehlentwicklungen in den Griff zu bekommen. Der Rückzug des neoliberalen Marktstaates aus der Fläche hat bei vielen Bürgern die Angst, im Stich gelassen zu werden, noch verstärkt (Kapitel 8).
In allen Bevölkerungsschichten wächst die Angst vor dem sozialen Abstieg. Ohne Aussicht auf eine bessere Zukunft für alle, verteidigen Individuen verbissen ihre Stellung in der sozialen Hierarchie. Die Gesellschaft wird zerrissen von Verteilungskämpfen, in denen um materielle Absicherung und Teilhabe, aber auch um Anerkennung und Sichtbarkeit gerungen wird. Sie zerfällt in Stämme, die sich in Schreikämpfen gegenseitig bekriegen. Bei manchen wächst das Gefühl, in den von Lobbyisten dominierten Postdemokratien kein Gehör zu finden. Abgehängt zu werden von den rasanten wirtschaftlichen Umbrüchen. Keine Anerkennung zu erfahren in der pluralistischen Gesellschaft im Allgemeinen und von den libertären Eliten im Besonderen. All jenen versprechen die Rechtspopulisten Schutz und Halt (Kapitel 9). Durch die Abschottung des Nationalstaates nach außen und die Homogenisierung der Nation nach innen versprechen sie Kontrolle und Anerkennung wiederherzustellen.
Der Neoliberalismus hat also eine Systemkrise heraufbeschworen, die er selbst nicht mehr lösen kann. Wenn der Neoliberalismus aber bankrott ist, warum gelingt es dann dem progressiven Lager nicht, einen Richtungswechsel zu erkämpfen? Warum ist der Neoliberalismus als wirtschaftliches Programm tot, lebt aber als Ideologie weiter fort? Im zweiten Teil des Buches werden die Schwachpunkte der wichtigsten progressiven Strömungen herausgearbeitet, um zu zeigen, wo eine neue, transformative Politik ansetzen muss.
Die Bollwerk-gegen-Rechts-Koalition glaubt, die rechtspopulistische Konterrevolution zurückschlagen zu können, indem sie Rechten die Salonfähigkeit abspricht (Kapitel 10). Haltung zeigen ist jedoch bestenfalls wirkungslos gegen die rechte Bedrohung, im schlimmsten Fall treibt diese Strategie den Rechten die Wähler in die Arme. Denn immer mehr Menschen kommen zu der Einsicht, dass sich ihr Leben im Krisen- und Katastrophenkapitalismus nur noch weiter verschlechtern wird, und sehen sich nach Auswegen aus der neoliberalen Alternativlosigkeit um. Kommen von links nur Ausgrenzungen und Belehrungen, fällt es den Rechtspopulisten leicht, sich als einzige Alternative zu inszenieren. Um den Rechten den Wind aus den Segeln zu nehmen, muss den Bürgern also ein echter Politikwechsel angeboten werden.
Daher rufen einige danach, sich wieder auf materielle Verteilungs- statt auf kulturelle Anerkennungsthemen zu konzentrieren. Wer die weiße Arbeiterklasse gegen die bunten Minderheiten ausspielen will, konstruiert einen Gegensatz, wo keiner ist. Aber auch der fundamentalistische Rand der Linksidentitären ist nicht ganz unschuldig an dieser Polarisierung. Wer der Bevölkerungsmehrheit pauschal unterstellt, unheilbar rassistisch zu sein, und selbst Progressiven das Wort verbieten will, muss sich nicht wundern, wenn sich natürliche Verbündete genervt abwenden. Die Exzesse der Cancel Culture spalten das progressive Lager in konkurrierende Stämme, die sich mit lautem Getöse gegenseitig bekriegen. Schlimmer noch, die wütenden Attacken auf die bösen »alten weißen Männer« haben die autoritären Rechtsidentitären bis tief in die Mitte der Gesellschaft hinein anschlussfähig gemacht. Die neo-maoistische Kulturrevolution befeuert also die rechtsidentitäre Revolte, die sie zu bekämpfen vorgibt (Kapitel 11).
Der postmarxistischen Linken ist es bis heute nicht gelungen, aus den Trümmern des Marxismus ein hegemoniefähiges Projekt zu zimmern (Kapitel 12). Unklar bleibt, wer nach dem Niedergang des Industrieproletariats die Fahne der Revolution tragen soll. So kann die postmarxistische Linke die Krise des globalen Kapitalismus zwar analysieren, findet aber keine Mittel, um sie zu überwinden.
Auch die progressiven Neoliberalen setzen sich für Vielfalt ein, vertuschen damit allerdings ihre Rolle als Helfershelfer der Marktradikalen (Kapitel 13). Wenn Verteilungskonflikte, Machtasymmetrien oder Klasseninteressen aus dem Blickfeld geraten, dann bleibt den verantwortlichen Unternehmern, ethischen Konsumenten und postmateriellen Selbstverwirklichern nur die individuelle Selbstoptimierung, um die Welt zu verbessern. In einer kulturell polarisierten Gesellschaft provoziert aber jeder Moralappell zur Umkehr nur ein trotziges Jetzt-erst-recht der anderen Seite. Vor allem aber ist die freiwillige Selbstoptimierung ein untaugliches Mittel, wenn sie auf Machtkonzentrationen und Partikularinteressen trifft.
Auch die Sozialdemokratie der Agendajahre hat neoliberale Reformen vorangetrieben (Kapitel 14). Ihr historisches Ziel, den Kapitalismus in den Dienst der Gesellschaft zu stellen, hat sie dem Primat der Standortsicherung untergeordnet. Aus der Schutzmacht der Arbeitenden wurde so die Reparaturwerkstatt des Kapitalismus. Enttäuscht und nicht selten verbittert wendete sich eine Wählergruppe nach der anderen ab. Bis heute sucht die Sozialdemokratie nach einem Ausweg aus dieser Glaubwürdigkeitsfalle.
Derartig geschwächt und zerstritten sind die progressiven Strömungen nicht in der Lage, die Richtungswechsel durchzusetzen, die notwendig sind, um die Systemkrise zu überwinden. Ganz im Gegenteil haben die Konflikte über Werte, Identitäten, Prioritäten und Methoden einen heftigen Familienstreit entfacht, der die kollektive Handlungsfähigkeit des progressiven Lagers schwächt.
Wir brauchen also ein neues Denken, das es erlaubt, gesellschaftliche Gruppen mit unterschiedlichen Werten und Weltsichten, Identitäten und Interessen zusammenzuführen.
Was tun?
Die vielen Krisen, die das System unablässig erschüttern, können nicht durch kleinere Reparaturen gelöst werden. Eine Systemkrise kann nur durch die Transformation der alten, sterbenden Ordnung überwunden werden.
Die überfälligen Paradigmenwechsel scheitern aber seit Jahrzehnten am Widerstand derjenigen, die vom Status quo profitieren oder zu profitieren glauben. Kein noch so ausgeklügelter Plan zur Lösung der Klimafinanzeuropamigrationsdemokratiekrise wird daran etwas ändern. Denn die eigentliche Frage ist, welche gesellschaftlichen Akteure die Richtungswechsel gegen den Widerstand der Beharrungskräfte durchsetzen können.
Dass dies dem progressiven Lager bislang nicht gelungen ist, liegt nicht zuletzt an seinen untauglichen Strategien. Aktivisten glauben, dass sich die Welt verändert, wenn nur genügend Menschen einsehen, dass sie ihr Verhalten anpassen müssen. Ob sich für die Neugestaltung der Welt Verbündete finden lassen, ist demnach zweitrangig; die Aufgabe der Aktivisten sei es vielmehr, mit Nachdruck das Richtige zu fordern. Die Technokraten halten die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse dagegen für nahezu unveränderlich. Weil die politischen Spielräume im Status quo so eng sind, bleibt ihnen nur die Politik der kleinen Schritte. Die Aktivisten scheitern also, weil sie zu radikal sind, während die Technokraten zu kleinmütig sind, um einen echten Umbau überhaupt zu versuchen. Weil beide Denkschulen nicht willens oder in der Lage sind, die notwendigen Pfadwechsel durchsetzen, verstärken sie ungewollt die Krise des Status quo.
Im dritten Teil wird daher ein Perspektivwechsel vorgeschlagen. Alle Politik entsteht aus lokalen Kräfteverhältnissen – und zielt auf die Veränderung dieser Kräfteverhältnisse. Der Transformative Realismus versteht Paradigmenwechsel als Ergebnis gesellschaftlicher Machtkämpfe. Den Status quo kann also nur eine breite gesellschaftliche Allianz überwinden, die genügend Machtmittel mobilisieren kann, um sich gegen den Widerstand der Beharrungskräfte durchzusetzen. (Kapitel 15).
Wie man potenzielle Bündnispartner mit unterschiedlichen, sich oft widersprechenden Interessen, Weltsichten und Identitäten zusammenzubringen kann, ist seit jeher die Gretchenfrage der Politik. Der Transformative Realismus schlägt einen neuen Ansatz zur Allianzbildung vor. Statt wie bisher eine Koalition von Interessengruppen um einen Bauchladen von Angeboten zu versammeln, sollen gesellschaftliche Bündnisse um die Erzählung einer besseren Zukunft herum gebildet werden, in der sich möglichst viele Gruppen wiederfinden können. Utopische Erzählungen sind keine Traumtänzerei, sondern strategische Narrative, die Brücken zwischen verschiedenen Lebenswelten schlagen (Kapitel 16).
Strategische Narrative müssen einen Spagat vollbringen (Kapitel 17). Wenn sie potenzielle Verbündete nicht verprellen wollen, müssen sie deren Moral- und Ordnungsvorstellungen reflektieren. Um andererseits jedoch eine möglichst breite gesellschaftliche Allianz zusammenzuführen, sollten strategische Narrative anschlussfähig in verschiedenen Wertewelten sein.
Diskurse alleine reichen allerdings nicht aus, sondern müssen in kollektives Handeln überführt werden. Diese Funktion erfüllen katalytische Leuchtturmprojekte. Katalytische Projekte sind Kristallisationspunkte, um die herum sich potenzielle Verbündete versammeln können, um gemeinsam konkrete erste Schritte zur praktischen Umsetzung der grundlegenden Richtungswechsel zu gehen. Gelingt dies, helfen die Erfolgsgeschichten, bisherige Skeptiker zu überzeugen, dass die Transformation tatsächlich möglich ist (Kapitel 18).
Wer potenzielle Verbündete wirkungsvoll ansprechen will, muss ihre materiellen Interessen, subjektiven Sorgen, normativen Moralvorstellungen, alltäglichen Lebensweisen und politischen Ordnungsvorstellungen kennen. Als Orientierungshilfe in der Unübersichtlichkeit der pluralen Gesellschaft können hybride Typologien dienen, die all diese Dimensionen zusammenbringen (Kapitel 19).
Im progressiven Lager werden derzeit grundlegende Strategiedebatten geführt (Kapitel 20). Die Catch-all-Strategie versucht, mit einem Bauchladen maßgeschneiderter Angebote Wähler quer durch die Gesellschaft zu umwerben. Doch sie funktioniert nicht mehr, wenn die Gesellschaft in konkurrierende Stämme zerfällt, die sich in nicht enden wollenden Kulturkämpfen gegenseitig bekriegen. Das Gegenmodell, die Mobilisierung einer intersektionalen Minderheitenallianz, ist strukturell nicht hegemoniefähig. Gesellschaftliche Allianzen müssen immer breit genug sein, um sich in den spezifischen Kräfteverhältnissen eines Politikfeldes (Pierre Bourdieu) gegen die Beharrungskräfte durchsetzen zu können. Für die neogramscianische Denkschule bestimmt sich die Koalition daher aus der Mission.
Aber welche gesellschaftlichen Gruppen sollen in welchen Allianzen zusammengeführt werden? Die Plattform der weltoffenen Linksliberalen spricht andere gesellschaftliche Gruppen an als die der heimatverbundenen Realisten. Die progressiv-neoliberale Strategie hat eine andere Allianz im Blick als die postmarxistische Mosaiklinke (Hans-Jürgen Urban). Bei genauerer Betrachtung der Vor- und Nachteile zeigt sich jedoch, dass keine dieser schmalen Bündnisse hegemoniefähig ist. Am erfolgversprechendsten ist die Strategie der Brücke, die darauf angelegt ist, möglichst viele Lebenswelten in einer breiten gesellschaftlichen Allianz zusammenzuführen.
Historisch haben die beiden Volksparteien verschiedene Milieus zu breiten Wählerallianzen zusammengeführt. Wer kann heute die neuen Brücken zwischen der weißen und der bunten Arbeiterklasse sowie der alten und der neuen Mittelklasse bauen? Das Schmieden sozialer Kompromisse zwischen gesellschaftlichen Gruppen ist seit jeher die Stärke der Sozialdemokratie. Und auch im 21. Jahrhundert ist das Aushandeln neuer sozialer Kompromisse zur Überwindung der gesellschaftlichen Spaltung die Rolle der Sozialdemokratie (Kapitel 21). Sie darf sich also keinesfalls gegen eine ihrer Lebenswelten entscheiden.
In der polarisierten Gesellschaft gibt es derzeit aber keine Themen, die sich als Brücke zwischen den konkurrierenden Lebenswelten eignen. Die Brücken müssen daher neu konstruiert werden. Im vierten und letzten Teil des Buches wird gezeigt, wie das Brückenbauen konkret aussehen kann. Dafür werden einige Plattformen skizziert, auf denen sich breite gesellschaftliche Allianzen versammeln können. Die Leitfrage dabei ist nicht nur, was getan werden muss, um die Krisen zu überwinden, sondern auch und gerade, welche Allianz die nötigen Machtmittel mobilisieren kann, um die Pfadwechsel gegen den Widerstand der Beharrungskräfte durchzusetzen. Je nach Politikfeld wird daher neu vermessen, auf welcher Policy-Plattform und um welches Narrativ herum sich welche gesellschaftlichen Kräfte versammeln können.
In der Coronakrise muss der Staat kräftig Geld ausgeben, um die schwächelnde Nachfrage anzukurbeln. Die historisch niedrigen Zinsen geben ihm die Spielräume, diese neue Rolle auszufüllen. Klug investiert, können mit dem billigen Geld die Fundamente der Wirtschaft von morgen gelegt werden. In Deutschland gibt es aber nach wie vor breite Widerstände gegen das Schuldenmachen, gegen den investierenden Staat, gegen ein solidarisches Europa, und gegen mehr Klimaschutz. Allerdings haben in der Coronakrise wichtige Akteure damit begonnen, ihre Interessen neu zu definieren. Um diese historische Chance auf eine Neuordnung der gesellschaftlichen Allianzen zu nutzen, brauchen wir Policy-Plattformen und strategische Narrative, die für eine breite Mehrheit anschlussfähig sind.
Die Zukunftsvision der transformativen Allianz ist ein Wirtschaftssystem, das innerhalb der planetarischen Grenzen die Lebensgrundlagen aller Menschen sichert. Um die Menschen für die sozialökologische Transformation zu begeistern, wird ein Bündnis zwischen Kapital und Klimaschützern nicht ausreichen. Nur ein echter Green New Deal, der die Verlierer des Strukturwandels entschädigt, kann die Plattform sein, auf die sich Kapital und Arbeit, Stadt und Land, Gewinner und Verlierer einigen können (Kapitel 22).
Zentraler Bestandteil dieses sozialökologischen Entwicklungsmodells ist ein neues Verhältnis zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft (Kapitel 23). In einer komplexen, fragmentierten und pluralen Gesellschaft kann weder ein bevormundender Obrigkeitsstaat noch ein neoliberaler Marktstaat funktionieren. Breite gesellschaftliche Mehrheiten befürworten dagegen eine vorausschauende Steuer- und Industriepolitik, welche die sozialökologisch-digitale Transformation vorantreibt, aber auch demokratiefeindliche Monopolstellungen in der Plattformökonomie durch eine robustere Anwendung des Wettbewerbsrechts aufbricht. Im digitalen Kapitalismus sollte sich der Staat als Gärtner verstehen: säen, wässern, aufziehen, schützen und zurechtstutzen.
Wie können die Menschen ihren Lebensunterhalt erwirtschaften, wenn in Zukunft Maschinen immer mehr Tätigkeiten übernehmen (Kapitel 24)? Auch im Maschinenzeitalter wird uns die Arbeit nicht ausgehen. Solange sich der ökologische und digitale Strukturwandel vollzieht, könnte es aber zu Verwerfungen an den Arbeitsmärkten kommen. Die menschengerechte Wirtschaft stellt daher neben den kapitalistischen einen solidarischen Arbeitsmarkt, auf dem ein solidarisches Grundeinkommen garantiert, dass jeder, der einen Beitrag zum Gemeinwohl leistet, davon auch gut leben kann. Der innovative und dynamische kapitalistische Markt erwirtschaftet das nötige Produktivitätswachstum, um den solidarischen Arbeitsmarkt zu subventionieren. Haben die Menschen genügend Geld zum Konsumieren in der Tasche, profitiert davon wiederum die soziale Marktwirtschaft.
Quer durch das politische Spektrum wächst das Verständnis, dass sich die deutsche Wirtschaft nicht erholen kann, wenn ihre südeuropäischen Absatzmärkte in der Rezession gefangen bleiben. Sollte die globale Arbeitsteilung in Blöcke zerfallen, die sich voneinander abschotten, wird der europäische Heimatmarkt erst recht überlebenswichtig. Unter den geltenden Verträgen ist es aber nahezu unmöglich, die aggregierte Nachfrage in ganz Europa anzukurbeln. Ganz im Gegenteil: Die Fehlkonstruktion der Gemeinschaftswährung, die doch eigentlich für gleichwertige Lebensverhältnisse sorgen sollte, spaltet die Europäer. Immer mehr Menschen sehen daher in der neoliberalen Politik Brüssels nicht die Lösung, sondern einen Teil des Problems. Um ihr Vertrauen zu gewinnen, muss Europa seinen Bürgern zeigen, dass es an ihrer Seite steht. Ist der Status quo der Währungsunion unhaltbar, und der Sprung in die Europäische Republik politisch blockiert, gilt es die Europäische Union fit für die Welt von morgen zu machen. In einer bedrohlichen Umwelt voller Krisen und Kriege ist die solidarische und souveräne Schutzmacht Europa die Plattform, auf der sich eine breite gesellschaftliche Allianz versammeln kann (Kapitel 25).
Um den Kampf gegen rechts zu gewinnen, muss der Politik der Spaltung eine Politik des sozialen Zusammenhalts entgegengesetzt werden (Kapitel 26). Um der verbreiteten Furcht vor dem Kontrollverlust entgegenzuwirken, müssen den Bürgern die Mittel an die Hand gegeben werden, die es ihnen erlauben, ihr Leben und das ihrer Gemeinschaft selbstbestimmt zu gestalten. Durch die Rückkehr des schützenden und fürsorgenden Staates in die Fläche wird den Verunsicherten signalisiert, dass sie nicht im Stich gelassen werden. Gesunde Kommunen ermöglichen die Teilhabe am sozialen, kulturellen und politischen Leben. Die lebenswerten Heimaten erkennen das menschliche Bedürfnis nach Zusammenhalt, Zugehörigkeit und Halt im Taumel des Wandels an. Fern von jeder Deutschtümelei, sind sie weltoffene Orte mitten in Europa.
Um die Systemkrise zu überwinden, strebt der Transformative Realismus den Umbau der gesellschaftlichen Ordnung von Kopf bis Fuß an. Statt in der Pose des moralischen Appells zu verharren, sucht er nach gangbaren Wegen, diesen Umbau politisch zu gestalten. Auch der Transformative Realismus versteht Politik als die Kunst des Möglichen. Er weiß aber, dass kleinere Reparaturen nicht ausreichen, um die vielen miteinander verwobenen Krisen zu lösen. Echte Politikwechsel können nur im Ringen mit den Beharrungskräften des Status quo erreicht werden. Sinn und Zweck des Transformativen Realismus ist daher die Bildung breiter gesellschaftlicher Allianzen, die genügend Machtmittel mobilisieren können, um die notwendigen Pfadwechsel durchzusetzen. In den letzten Kapiteln werden fünf Plattformen vorgestellt, auf denen sich solche transformativen Allianzen versammeln können. Um die Systemkrise zu überwinden, werden weitere entwickelt werden müssen. Dieses Buch will zeigen, wie das gelingen kann.