Die verborgenen Geheimnisse

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Aus der Reihe: Das Verborgene #1
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Erst als der Reiter an der Eiche vom Pferd stieg und sich suchend umblickte, erkannte Ismar seinen Lehrer. Er sah ganz anders aus als üblich. Dabei fiel Ismar auf, dass er ihn nie in Reisekleidung gesehen hatte und erst recht nicht auf einem Pferd.

„Lehrer Wigandus“, gab sich Ismar zu erkennen. Obwohl er seinen Lehrer mochte, hatte sich Ismar nie so gefreut ihn wieder zu sehen.

„Pscht“, zischte Wigandus gleich seine Erleichterung heraus. „Wir sollten kein Aufsehen erregen.“

Wilbolt trat hinter Ismar aus dem Wald hervor.

„Danke Wilbolt, das werde ich dir nie vergessen“, begrüßte Wigandus Wilbolt, der ihn um über eine Kopfhöhe überragte.

„Gern geschehen“, brummte Wilbolt verlegen.

„Wir sollten gleich weiter“, wandte sich Wigandus gleich an Ismar und machte deutlich wie nervös er war.

Ismar wusste nicht recht, wie er sich von Wilbolt verabschieden sollte. Verlegen reichte er ihm die Hand. „Danke.“ Seine Stimme klang brüchig.

Wilbolt war auch nicht geübt darin, sich zu verabschieden. Nochmals wurde ihm bewusst, dass sich nun vieles ändern würde. Er hätte niemals gedacht einmal nicht froh zu sein, wenn Ismar ihn nicht mehr ärgern könnte.

Ohne darüber nachzudenken zog er Ismar an sich und klopfte ihm auf den Rücken. „Pass auf dich auf.“ Dann hob er ihn hoch und setzte ihn auf das mitgeführte Pferd.

Wigandus bedankte sich förmlich bei Wilbolt und drückte ihm eine Kleinigkeit in die Hand.

„Bitte geh mit einem großen Umweg nach Hause. Es ist besser für uns alle, wenn dich keiner mit Ismars Verschwinden in Verbindung bringt.“

Wilbolt bedankte sich mit einem Nicken. Er sah nachdenklich aus. Diese Miene hatte Ismar so noch nie bei ihm gesehen. Er stellte sich dicht neben die Eiche. Dort blieb er stehen bis die beiden Reiter außer Sicht waren. Erst dann wandte er sich ab und verschwand im Wald.

„Es tut mir leid, was passiert ist“, begann Wigandus nach einer Weile.

Ismar hatte geschwiegen, da ihm die Tränen gekommen waren und er nicht wollte, dass er es hörte.

„Wo ist Elisabeth? Wie geht es ihr?

„Ihr geht es gut und sie ist in Sicherheit. Einer der Wächter war gegenwärtig genug, sie zu verstecken.“ Wigandus erzählte daraufhin, was sich ereignet hatte.

Er hatte Elisabeth gleich mit zum Bischof genommen als er für sie zwei Schutz ersuchen wollte.

Der Bischof selbst war nicht zugegen gewesen, doch sein Stellvertreter hatte die Bedingungen ausgehandelt und schließlich akzeptiert.

Vom Mörder fehlte jede Spur, aber Wigandus hatte sich ohnehin keine Illusion gemacht, diesen zu erwischen und selbst wenn, wäre es wohl nur ein Handlanger gewesen. Wigandus hatte noch nicht gehört, dass jemand Ansprüche auf die Stadt stellte. Aber das war ohnehin zu früh, da es sonst verdächtig sein würde. Aber auch so wusste Wigandus, dass es besser für ihn war, nicht zu bleiben.

Ismars Vater war bei vielen Adligen unbeliebt. Er vertrat eine völlig andere Art zu regieren. Dementsprechend hatte er auch Leute um sich geschart, die ähnlicher Ansicht waren. Es war weithin bekannt, dass er die Sorgen seines ihm anvertrauten Volkes verstand und sich für sie einsetzte. Korruption und Machtmissbrauch gab es nur in kleinem Maße, dementsprechend viele fühlten sich um ihre Privilegien betrogen. Genau dafür würden all jene, die von ihm eingestellt worden waren, die Strafe zahlen müssen. Selbst in der Kirche hielt sich die Trauer in Grenzen. Das hatte Wigandus bereits zu spüren bekommen, als er den Preis für Ismar und Elisabeth ausgehandelt hatte.

„Du wirst ebenso wie deine Schwester bis zur Vollendung deines zwanzigsten Lebensjahres im Kloster bleiben.“

„Aber wie lerne ich das Kämpfen?“

„Du lernst lesen und schreiben.“

„Aber das kann ich schon. Warum können sie mich nicht weiter lehren?“

„Das geht nicht. Wir könnten nirgends sicher leben und ich muss für meine Familie sorgen.“

Ismar verfiel in Schweigen. Ihm gefiel es gar nicht, in einem Kloster zu leben, aber ihm blieb keine Wahl. Er wusste, dass sich Wigandus nicht umstimmen lassen würde. Ebenso war er sich bewusst, dass er nur sein Bestes wollte. Auch war Wigandus keiner der leichtfertig Entschlüsse fasste.

„Ich habe zwei Briefe von deinem Vater, die er mich gebeten hat aufzubewahren und dir im Falle seines Todes zu geben.“

Wigandus griff in seine Satteltasche und nahm zwei dicke Briefe hervor.

„Lese erst den. Den hat er mir gegeben, als du beinahe sieben warst.“

Ismar erkannte das Siegelzeichen seines Vaters. Er zögerte lange bis er es wagte das Siegel aufzubrechen. Was mochte das sein, was er ihm all die Jahre nicht gesagt haben konnte. Er las langsam und viele Stellen doppelt. Es war ihm unheimlich und in seinem Kopf hörte er seinen Vater ihm den Brief vorlesen. Mehr als einmal kamen ihm die Tränen. Das konnte nicht wahr sein. Nach einer Weile machte er sich nicht einmal die Mühe sie wegzuwischen.

„Du sagst nichts?“, fragte Wigandus nachdem Ismar den Brief eine Weile neben sich in der Hand hängen ließ.

„Wussten sie das?“

„Ja, dein Vater hat es mir gesagt, als er mir den Brief gab.“

„Aber er ist nicht mein Vater!“

„Unsinn, er ist dein Vater! Er hat dich groß gezogen und er hat dich geliebt, wie seinen eigenen Sohn. Das darfst du nie vergessen!“

„Aber wer ist denn mein wirklicher Vater? Kann ich nicht zu ihm?“

„Ich weiß nicht wer dein leiblicher Vater ist. Deine Mutter war bei deiner Geburt gestorben. Dein Vater war ein armer Bauer und verzweifelt. Reinhart war auf einer Reise und hörte die Schreie deiner Mutter und bot die Hilfe seines Leibarztes an, doch ihr Tod war unvermeidbar. Dein Vater hatte noch zwei weitere Kinder, doch beide waren noch sehr jung. Reinhart wusste es würde auch deinen Tod bedeuten, wenn du dort bleiben würdest. Und Reinhart hatte ein Problem. Nach langen kindlosen Jahren war Alheyt endlich schwanger, doch um ihr Leben stand es nicht gut und auf ein weiteres Kind konnte er nicht hoffen. Selbst wenn sie und das Kind es überleben sollte, wäre ein Junge ungewiss. Deshalb nahm er dich mit und gab deinem Vater reichlich Geld, damit er seine zwei älteren Söhne ernähren konnte. Als er mit dir ankam, war deine Schwester bereits zwei Tage alt und so wurdet ihr als Zwillingskinder vorgestellt. Nur der Leibarzt, eine Hebamme und eine Dienerin deiner Mutter wussten Bescheid. Wie es scheint haben sie bis heute alle Wort gehalten und darüber geschwiegen.

„Aber was ist mit meinem Vater passiert?“

„Ich weiß nicht viel mehr als im Brief steht. Nur, dass dein Vater als du zwei wurdest die gleiche Reise wiederholt hatte, um nach ihm zu suchen und ihm von dir zu berichten. Aber er fand nur ein verlassenes Haus und keiner in der Gegend konnte sagen, wo die Drei hin waren.“

„Das heißt er lebt noch?“

„Gut möglich, denn er hatte das Dorf im Herbst verlassen und alles mitgenommen, was er besaß. Keiner der ihn zuletzt gesehen hatte wusste zu berichten, dass er schwach oder gar krank gewesen wäre.“

„Wie heißt er denn?“

„Sie nannten ihn der arme Willi“, erzählte Wigandus. „Es hieß, er hätte oft Pech im Leben gehabt. Dein Vater hat in dem Dorf jedem eine Goldmünze versprochen, der dazu helfen würde ihn zu finden. Aber bis heute hat sich keiner gemeldet.“

Ismars Gedanken schossen kreuz und quer.

„Möchtest du nicht auch den zweiten Brief lesen?“

„Steht da noch etwas über meine Eltern darin?“

„Nein, dein Vater gab ihn mir vor drei Jahren. Damals hatte bereits einer versucht ihn zu töten und er wollte dir deshalb diesen Brief hinterlegen, für…“

„Davon weiß ich nichts!“, fuhr Ismar erschrocken dazwischen.

„Das wissen auch nur sehr wenige. Der Täter wurde erwischt und gezwungen sein eigenes Gift zu essen. Die Symptome damals wie diesmal waren die gleichen, weshalb ich denke, dass es der gleiche Auftragsgeber war.“

„Aber warum weiß ich das nicht?“

„Er wollte nicht, dass du in Angst aufwächst und es hätte sein Ansehen geschwächt, würden es alle wissen.“

Wigandus hob den zweiten Brief Ismar entgegen.

„Nein.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube ich will den heute nicht mehr lesen.“

„Sicher?“

Ismar nickte und betrachtete den Brief in seiner Hand. Mehrmals während des Nachmittags setzte Ismar an etwas zu sagen, doch er brach jedes Mal ab. Das ergab alles keinen Sinn.

Erst als sie zur Nacht Rast einlegten, war er mit seinen Gedanken wieder einiger Maßen bei seiner gegenwärtigen Situation.

Wigandus war das Reisen nicht gewohnt und er machte daraus auch keinen Hehl. Andererseits reichte es ihm beim Feuermachen zuzuschauen. Rein theoretisch wusste er wie es ging, allein es fehlte ihm die Übung.

„Darf ich dir helfen?“, fragte Ismar und versuchte seine Belustigung zu verbergen.

„Ich fürchte meine Hände sind es zu sehr gewohnt Buch und Feder zu halten und zu sonst nicht viel nutze“, gestand Wigandus und freute sich, dass Ismar lebhafter wurde.

„Das ist ganz einfach, wenn alles Nötige zur Verfügung steht“, erklärte Ismar stolz und wühlte in Wigandus' Tasche.

„Caspar hat mir alles zusammen gepackt, was wir bräuchten“, meinte Wigandus und klang leicht verloren.

„Haben sie nie Feuer gemacht?“ Ismar war verwundert, aber voller Begeisterung seinem Lehrer etwas zeigen zu können.

„Nein, wenn immer ich es gebraucht hätte, war ein anderer dabei, der es tat.“

„Und als sie mit Elisabeth die Stadt verlassen haben?“ Er musste eben an seine Schwester denken und dass auch sie so gereist sein musste, wie er eben.

„Wir waren zu viel mehr. Allein hätte ich auch nicht mit deiner Schwester unterwegs sein wollen. Cunlin, Jorge, Gilig, Ott und Ewalt waren mit dabei.“ Das waren der Schatzmeister, zwei Ratgeber, der Koch und der Wachtmeister gewesen. Ihre Nachsicht für das Volk würde der neue Stadthalter zu unterbinden wissen und dem kamen sie so zuvor. Sie wollten nicht, dass an ihnen ein Exempel errichtet würde.

 

Wigandus sah Ismars verwundertes Gesicht.

„Sie haben die Absicht später zurückzukehren, wenn der Stadthalter erst einmal bekannt ist. Sie sind deinem Vater über den Tod hinaus loyal. Sie werden nur bleiben, wenn sie hören, dass der Stadthalter das Erbe Reinharts ehrt und in dessen Sinn weitermacht.“ Wigandus blickte in Richtung Horizont.

„Aber das glauben sie nicht?“

Wigandus verengte die Augen. Dann kehrte er mit seinem Blick und seinen Gedanken zurück.

„Nein.“ Er zeigte ein resignierendes Lächeln. „Nein, das tut keiner von uns. Aber Einige hoffen, dass es nicht zu schlimm wird.“

„Und was glauben sie?“

Wigandus suchte Ismars Blick und hielt ihn eine Weile fest. Dann wandte er sich abermals dem Horizont zu, als würde er dort etwas nahen sehen.

„Nur ein böswilliger Mensch hätte deinen Vater getötet. Er war ein gutherziger und gerechter Mann und Stadthalter. Du findest im ganzen Reich keinen, der deinem Vater ebenbürtig ist. Darauf kannst du stolz sein!“

Auch Ismar hatte seine Mühe das Feuer zu entfachen, aber er stellte sich weitaus geschickter an als Wigandus zuvor.

Als Ismar endlich saß und an seinem Essen herumknabberte, wurde er unruhiger und immer mehr Fragen formten sich in ihm zusammen.

Wigandus beantwortete alle Fragen ausgiebig und erzählte auch von sich aus Dinge, die Ismar bisher nicht wissen konnte oder sollte. Es wurde ein langer Abend.

Der Nussbaum

Im Wald vor ungewünschten Blicken geschützt, saßen Hönnlin und Clara an einem gemütlichen Lagerfeuer. In der Nacht konnte es doch noch empfindlich kalt werden, zumal wenn man, wie Clara, es nicht gewohnt war im Freien zu schlafen. Zum Glück mussten sie keinen Hunger leiden, denn die Äbtissin hatte für reichlich Proviant gesorgt. Zudem verstand sich Hönnlin darin, aus Wenig eine schmackhafte Suppe zu kochen. Durch das viele Reisen war das zu einer Gewohnheit geworden, weil nichts besser wärmte als eine warme Suppe. Clara war gegen Abend hin doch müde geworden, auch wenn sie sich wesentlich besser geschlagen hatte, als Hönnlin hätte hoffen können. Aber gleich wie erschöpft sie sein mochte, so hatte sie kein Wort der Klage von sich gegeben. Hönnlin hatte nur bemerkt, wie ihre Schritte schwerfällig wurden und so den Entschluss gefasst, ein Lager aufzuschlagen.

Hönnlin ging zu seinem Esel und brachte einen neugefüllten Sack Wallnüsse zum Vorschein. Eine nahm er heraus und pflanzte sie in der Mitte der kleinen Lichtung nicht unweit vom Feuer.

„Wieso machen sie das?“ Clara folgte Hönnlin interessiert mit ihren Blicken, war aber, nun da sie saß, zu müde um aufzustehen.

„Viele sagen es wäre an Gott, sich um alle zu sorgen. Doch das glaube ich nicht. Vielmehr denke ich, dass Gott uns die Welt zur Verfügung gestellt hat. Es ist die Natur, die dafür sorgt, dass alle satt werden, und wir mit unserer Arbeit.“

„Aber warum pflanzen sie einen Baum mitten in den Wald?“, rätselte Clara. „Hier sieht ihn doch niemand.“

„Niemand, der in den Dörfern und Städten lebt.“

„Dann helfen sie den Abtrünnigen?“, wunderte sich das Mädchen.

„Ein ziemlich böses Wort um die zu beschreiben, die du nicht kennst. Findest du nicht?“

„Aber es sind doch welche“, wagte sie es nicht nochmal, das Wort in den Mund zu nehmen. Zeitlebens hatte sie nur dieses Wort für die Menschen gehört, die so lebten.

„Aber kennst du ihre Geschichte?“

Clara wollte mit einer Antwort ansetzen, überlegte und schüttelte dann nachdenklich den Kopf.

„Nun, wie würdest du einen Familienvater nennen, dessen Frau schwer krank wird und er seine Steuerschuld nicht zahlen kann, weil er sie pflegen und sich alleine um zwei junge Kinder kümmern muss und dadurch sein Landrecht verliert und nichts mehr zum Leben hat?“

Clara zuckte mit den Schultern.

„Wie nennst du einen jungen Mann, der mit verdrehten Armen zur Welt gekommen ist, nicht arbeiten kann und von seiner Familie verstoßen worden ist?“

Abermals zuckte Clara mit den Schultern und musste kräftig schlucken.

„Wie nennst du eine Frau, die von ihrer Familie in ein Kloster gesteckt wurde, weil diese keine Verwendung für sie hat, die Frau aber aus dem Kloster flieht, weil sie nicht für dieses Leben gemacht ist?“

Clara starrte Hönnlin an. Dann blickte sie neben sich auf die Erde und schwieg. Hönnlin setzte sich neben sie ans Feuer und las in einem seiner Bücher.

„Dann sind sie nicht böse?“, fasste Clara nach einiger Zeit ihre Verwirrung zusammen.

„Sie sind nicht alle gut, und du solltest keinem vorschnell trauen. Aber viele sind zu dem geworden, zudem wir sie gemacht haben. Richte nie über einen Menschen, dessen Geschichte du nicht kennst.“

Wieder schwieg Clara und Hönnlin las weiter.

„Aber der eine Baum wird nichts ändern.“

„Nein, vielleicht nicht. Aber wenn er in den kommenden hundert Jahren nur einen vor dem Verhungern rettet, dann war er es wert.“

Clara blickte zum Esel hinüber und erinnerte sich an den gefüllten Sack.

„Aber es ist nicht der eine Baum?“

„Eine Nuss an jedem Abend an dem ich unterwegs bin.“

Clara versank in Gedanken.

„Aber es ist verboten ihnen zu helfen“, sprach Clara den Konflikt aus, der in ihr immer wieder auftauchte.

„Ja, ist es“, gestand Hönnlin offen.

„Aber warum?“

„Weil Angst eine Waffe ist.“

„Das verstehe ich nicht.“ Clara war an diesem Abend so verwirrt wie noch nie zuvor.

„Um arme Menschen unter Kontrolle zu halten, muss du eine Situation schaffen, wo sie noch weniger haben können und vor der sie Angst haben. Genau das ist die Aufgabe der Abtrünnigen. Je schlechter es diesen geht, je mehr sich die Menschen vor ihnen fürchten, umso eher sind sie bereit alles Andere zu erdulden.“

„Aber das ist ungerecht!“, protestierte Clara. „Warum tut die Kirche nichts dagegen?“

Hönnlin sah Clara innig an, antwortete aber nicht.

„Oder weiß sie es nicht?“, klammerte sie sich an die einzige Schlussfolgerung, die für sie Sinn ergab. „Sie müssen es ihr sagen.“

„Ich muss es ihr nicht sagen. Sie weiß es.“

„Aber“, setzte sie an und fand keine Worte.

Es war eine unruhige Nacht für Clara. Nicht nur, weil ihr die Geräusche des Waldes im Dunkeln unheimlich waren, sondern vor allem wegen ihrer Gedanken. Sie beschäftigte weit mehr Fragen, als sie gewagt hatte zu stellen. Sie hatte sich nie so benommen, wie die Nonnen es von ihr gewünscht hatten. Risse erschienen in dem Gerüst, indem sie sich bewegte und in dem sie dachte. Wollte Hönnlin sie nur testen. Log er, um ihren Glauben auf die Probe zu stellen. Aber was wenn er Recht hatte? Und was bedeutete es für sie, wenn sie wusste was Hönnlin offenbar wusste? Würde Hönnlin es in Frankreich verraten, wenn sie nun infrage stellte, was nicht infrage zu stellen war? Dabei fühlte es sich richtig an, mit ihm offen zu reden. Sie fühlte sich ihm näher als allen, die sie kannte. Selbst ihrer Mutter, die sie zweimal besucht hatte, fühlte sie sich nicht so nahe.

Hönnlin war längst wach, als Clara etwas wiederwillig die Augen öffnete. Er hatte das Feuer angefacht und einen Tee gekocht.

Es war bereits eine Weile hell, doch die feuchtkalte Luft der Nacht hatte sich in ihre Decke und ihre Kleider geschlichen. Deshalb richtete sie ihren Oberkörper auf und setzte sich näher ans Feuer. Hönnlin reichte ihr eine selbstgeschnitzte Holztasse mit wärmendem Tee.

„Wie hast du geschlafen?“, fragte Hönnlin dem aufgefallen war, wie unruhig Clara gelegen hatte. Sie zuckte unschlüssig mit den Schultern.

„Deine erste Nacht im Freien?“

Nach anfänglichem Zögern schüttelte sie den Kopf.

„Nein?“

„Ich bin einmal aus dem Kloster weggelaufen“, blickte Clara schuldbewusst drein.

„Und?“

„Nach drei Tagen bin ich zurück gegangen, weil ich Hunger hatte“, grinste Clara verlegen.

„War jemand böse zu dir?“ Hönnlin verurteilte sie nicht dafür.

„Nicht wirklich.“ Schon wieder so ein verwirrendes Gespräch, dachte sie.

„Nein?“, hackte Hönnlin nach.

„Ich“, zögerte sie. „Mir gefiel es nicht im Kloster. Immer wenn ich etwas wissen wollte, sagten sie mir, ich sei dumm und böse.“ Sie blickte Hönnlin direkt ins Gesicht, doch sie erkannte dort keine Verärgerung.

„Es ist nichts Böses daran, mehr wissen und verstehen zu wollen.“ Hönnlin sah Clara mitfühlend an.

„Aber warum sagen sie das?“, wagte sich Clara weiter vor.

„Angst“, antwortete Hönnlin prompt. „Angst vor Wissen, das mit der Religion nicht zu vereinen ist.“

„Aber ist die Religion nicht richtig?“, fragte Clara erschrocken.

„Der Glaube ist richtig! Der Glaube lässt sich auch nicht von Wissen erschüttern, aber die Religion ist ein Mantel, den die Menschen erfunden haben und über den Glauben gestülpt haben.“

Clara starrte Hönnlin entgeistert an. Dabei hatte sie von Ungläubigen gehört, aber diese Worte aus dem Munde eines Mönches zu hören, schockierte sie. Es brachte Grundfeste ins Wanken von denen sie geglaubt hatte, dass sie unumstößlich seien.

„Aber Sie sind Mönch!“, versuchte Clara an ihrer Weltordnung festzuhalten.

„Ja, das bin ich“, nickte Hönnlin nachdenklich. „Aber ich werde die Mönchskutte bald ablegen“, gestand er, weil er es endlich ausgesprochen haben wollte.

Das war zuviel für Clara und so fiel sie in Schweigen. In ihrem Kopf schossen die Fragen nur so umher. Ebenso flogen die Aussagen der Nonnen durch ihren Kopf. Man müsse den Prüfungen des Teufels widerstehen, sagten sie immer wieder. War dies nun eine solche Prüfung? Musste sie zeigen, dass sie und ihr Glaube stark waren? Musste sie Hönnlin auf den rechten Weg zurück führen?

Selbst eine Stunde nach ihrem Aufbruch, war noch kein unnötiges Wort gefallen. Doch nun brach Hönnlin das Schweigen, auch aus Angst, sie zu sehr verstört zu haben. Er war sich auch schnell bewusst geworden, dass er den Samen des Zweifels in ihren Kopf gesetzt hatte, der ihr die verbleibende Zeit im Kloster unnötig schwer werden ließ. Er hätte besser darüber nachdenken sollen.

Darum wählte er seine Worte nun mit Bedacht und mied verfängliche Themen. Er zeigte ihr Pilze und Kräuter und erklärte ihr, welche man essen konnte und für was sie hilfreich sein mochten. Auch machte er auf die Spuren von Tieren aufmerksam.

Obwohl Clara mehr und mehr sprach, so konnte Hönnlin an ihrer Nachdenklichkeit nichts mehr ändern. Sie war tief aufgewühlt und Hönnlin bereute es, so offen mit ihr gesprochen zu haben. Es war egoistisch von ihm gewesen. Für ihn war es eine Erleichterung, doch für Clara war es eine Last, die zu schwer für sie war. In ihr herrschte Rebellion und zum Teil war es Hönnlins Rebellion, die mit tobte, aber in Clara fand diese zu wenig Widerstand.

Es gab einen Ausweg, aber den konnte er Clara unmöglich antun. Stattdessen versuchte er sie bestmöglich abzulenken und die Reise für sie so interessant wie möglich zu gestalten.

Wirklich schwierig fiel das Hönnlin nicht, da sich Clara von der Natur rasch faszinieren ließ. Auch lernte sie schnell und stellte viele Fragen. Kein Wunder, dass die Nonnen mit ihr überfordert waren, dachte Hönnlin mehr als einmal.