Die verborgenen Geheimnisse

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Aus der Reihe: Das Verborgene #1
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„Ihr seid stets willkommen und eine Bereicherung für das Kloster.“

Hönnlin fand, dass sich der Abt diesmal eigenartig benahm. Er war auch unruhiger als es Hönnlin von ihm kannte.

„Sind die Bücher fertig, um die ich gebeten hatte?“

„So weit ich weiß sind sie bereits seit Monaten fertig. Sie liegen für euch bereit.“ Der Abt war mit seinen Gedanken woanders.

„Dann wird es wahrlich Zeit, dass ich zurückkehre. Ich war nun etliche Jahre fort.“

„Darf ich um etwas Aufschub eurer Heimreise bitten?“

„Wenn es euer Wunsch ist.“ Hönnlin war gespannt, auf was der Abt hinaus war. Auf jeden Fall behagte es ihm nicht, Hönnlin das fragen zu müssen.

„Die Nonnen sind vor dem Winter mit einem Wunsch an mich herangetreten, den ich nicht abschlagen kann“, begann Vater Andreas schwerfällig.

Hönnlin wartete geduldig.

„Sie haben eine Novizin, die nach Frankreich muss. Dort soll sie ihr Französisch festigen, da sie des Italienischen nun mächtig ist.“

„Und jetzt sucht ihr sicheres Geleit?“

„Ja, die Nonnen wollen sie nicht unkultivierten Menschen in Obhut geben, erst recht nicht für eine solch lange Reise.“

„Sie ist wohlmöglich von großem Wert“, schlussfolgerte Hönnlin und aus dem Gesicht des Abtes konnte er lesen, dass er recht hatte.

„Jeder Mensch ist gleich viel wert!“, behauptete Vater Andreas mit gespielter Empörung, da er die Wahrheit weder aussprechen noch hören wollte.

„Die Nonnen können keine solche Reise unternehmen, es wäre für sie zu gefährlich.“

„Es ist für jede Frau gefährlich, erst recht, wenn sie wie Nonnen weithin als solche erkenntlich sind“, bestätigte Hönnlin. Er verstand die Nonnen nur allzu gut. Das Problem das Vater Andreas wegen dem Ganzen empfand, war eigentlich nur, dass er Hönnlin abermals in ein Abenteuer schickte.

„Ich nehme an, ich soll mit ihr alleine reisen und Sorge tragen, dass sie unbeschadet ankommt?“

„So ist es“, sprach Vater Andreas es erleichtert aus, nun da es heraus war.

Hönnlin dachte eine Weile nach.

„Ich bin für ihren Schutz verantwortlich?“, fragte Hönnlin nach.

„So ist es!“

„Als Novizin ist die Reise zu gefährlich. Für sie genau so wie für mich.“

Der Abt mochte das Wort gefährlich noch weit weniger hören als das Wort Abenteuer.

„Ich bin gerne dazu bereit, aber sie wird sich kleiden wie ein Mönch.“

„Das kommt nicht infrage!“, empörte sich Vater Andreas.

„Wenn euch ihr Schutz wichtig ist, werdet ihr dem zustimmen“, blieb Hönnlin ruhig.

Der Abt schüttelte hilflos den Kopf.

„Meinet wegen kann sie die Stadt als Novizin verlassen und als Novizin wird sie ankommen. Aber dazwischen trägt sie Mönchskleidung.“

Der Abt dachte darüber nach.

„Es bleibt unser drei Geheimnis. Es dient einzig ihrem Schutz“, versprach Hönnlin.

„Es ist eine Sünde, ein Leben unnütz in Gefahr zu setzen. Der Herr wird über euch wachen, aber ihr sollt ihn nicht auf die Probe stellen. Clara wird die Stadt als Novizin verlassen. Gott allein weiß was danach passiert.“

„Wann soll die Reise beginnen?“, fragte Hönnlin.

„In etwa einem Monat. Noch ist es zu kühl.“

„Dann bereite ich alles vor“, nahm Hönnlin die Aufgabe an. Für ihn spielte es keine Rolle, dass ihm ein Umweg auferlegt wurde. Dann würde er eben über Frankreich reisen. Hier war das Gebirge ohnehin leichter zu überqueren.

Gute drei Wochen nach Hönnlins Ankunft im Kloster schwang das Wetter um, und es wurde spürbar wärmer. An einem Montagsmorgen standen die Äbtissin und Clara beim Abt im Arbeitszimmer. Hönnlin war dorthin bestellt worden, damit sich die Äbtissin ein Bild von ihm machen konnte.

Neben Clara vertraute sie ihm auch eine fest eingepackte Kiste an. Vater Andreas musste davon gewusst haben, denn er war keineswegs überrascht.

„Darin ist ein Brief für die Äbtissin. Auch sind Bücher darin für deren Bibliothek. Gebt gut darauf Acht.“

Hönnlin versprach Clara und die Bücher vor allem zu schützen, soweit es in seiner Macht lag, den Rest würde er Gott anvertrauen. Hönnlin konnte sich nun sicher sein, dass Clara aus einer reichen Familie stammte. Die Bücher waren die Bezahlung der Ausbildung. Vielleicht hatte auch die Äbtissin selbst entscheiden, das erhaltene Geld gegen Bücher einzutauschen.

Am Morgen danach reisten sie ab. Doch es würde länger dauern als Hönnlin gedacht hatte. Clara war es untersagt worden, zu reiten und so verließen sie die Stadt mit nur einem Esel. Zumindest in einer Sache hatte Hönnlin aber Glück. Clara schien keineswegs verängstigt, wie er es von einer Novizin erwachtet hätte. Vielmehr konnte Hönnlin in ihr das Fernweh erkennen und er spürte, dass sie sich auf die Reise freute. Die Mahnungen und Anweisungen der Äbtissin ließ sie geduldig über sich ergehen. Als sich die Nonne umdrehte und mit gemessenem Schritt fortging, glaubte Hönnlin ein Anflug von einem Lächeln zu erkennen. Doch als sie seinen Blick auffing, gefror ihr Gesicht und sie sah zu Boden. Als sie die Stadtmauern hinter sich ließen, verrieten ihre Augen ihr versteckte Vorfreude. Hönnlin musste schmunzeln. Deshalb hatte sie wohl auch so schüchtern den Blick gesenkt gehalten. Sie hatte wohl befürchtet, dass ihre Freude ihr anzusehen wäre.

„Du freust dich aber viel“, brach Hönnlin das Schweigen.

„Ich reise gerne“, gestand Clara nach anfänglichem Zögern.

„Das ist aber selten für eine Novizin.“ Hönnlin sah prüfend zu ihr herab.

„Gott hat sich nicht so viel Mühe gegeben, die Welt zu erschaffen, damit wir alle im Kloster bleiben“, lächelte sie ihn frech an. Das war eindeutig nicht das erste Mal, dass sie diese Antwort gab.

Hönnlin nickte anerkennend und konnte sich lebhaft vorstellen, dass die Nonnen es nicht immer einfach mit Clara gehabt haben mochten.

Hönnlin bemerkte wie Clara den Horizont mit ihren Blicken abtastete. Zwar verbot sie sich wohl ruckartige Bewegungen, doch auch so viel es ihm auf. Ihm selbst erging es nicht anders, wenn er lange an einem Ort verweilt hatte. Alles in ihm sehnte sich dann danach etwas Neues zu sehen und das Weite vor sich zu entdecken.

„Du fragst gar nicht, wie lange wir unterwegs sein werden?“

„Das tut nur, wer es eilig hat“, antwortete Clara sorglos.

„Und du hast es nicht eilig?“, neckte Hönnlin.

„Ich“, begann Clara. „Ich bin Novizin, ich muss nicht alles wissen“, versteckte Clara sich hinter einer Aussage, die nicht die ihre war.

Hönnlin versuchte sich ein Schmunzeln zu verkneifen. Während der nächsten Stunde sprach keiner ein Wort.

„Warum gehen wir in östlicher Richtung?“, fragte Clara nachdem sie bereits eine Weile abgebogen waren.

„Woher kennst du die Himmelsrichtung?“, wunderte sich Hönnlin.

Clara sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an. Sie antwortete aber nicht darauf. Wahrscheinlich konnte sie Hönnlin nicht genug einschätzen.

„Na gut“, lenkte Hönnlin ein. „Es ist nur ein kurzer Umweg. Ich habe noch etwas zu erledigen.“

Hönnlin wartete auf eine weitere Frage, doch die blieb aus.

Vom Umweg unbekümmert schritt sie weiter und ließ ihren Blick hin- und her schweifen. Sie merkte aber, dass Hönnlin sie beobachtete und erwiderte einige Blicke mit einem zarten Lächeln.

Hönnlin ging etwas langsamer, als wenn er alleine unterwegs gewesen wäre. Er wollte Clara nicht gleich am ersten Tag überfordern. Er fürchtete Klagen während der restlichen Reise hören zu müssen. Doch auch hierin überraschte ihn Clara.

Noch etlichen Stunden erkannte er das Waldstück wieder, das er sich eingeprägt hatte.

„Hier werden wir den Weg verlassen“, setzte Hönnlin an. Clara blickte ihn neugierig an. „Ich habe hier etwas zurückgelassen, was ich nun wieder abhole“, erklärte Hönnlin, um Clara nicht unnötig zu verängstigen.

Clara nickte stumm und hielt ihre Fragen für sich. Doch es war keine Spur von Angst in ihren Zügen zu erkennen. Wahrscheinlich hatte sie der Äbtissin geglaubt, dass sie ihm vertrauen konnte. Vielleicht war sie aber auch stets so behütet gewesen, dass sie glaubte, jedem vertrauen zu können. Hönnlin nahm sich vor sie später während der Reise darauf anzusprechen. In dieser Welt konnte man nicht vorsichtig genug sein, besonders als junge Frau.

Wie zu erwarten hatte sich der Wald in den wenigen Wochen beachtlich gewandelt und ein neues Kleid angelegt. Zum Glück hatte sich Hönnlin markante Bäume eingeprägt und so fand er zielsicher seine einstige Lagerstelle. Clara achtete nicht auf den Weg. Sie war fasziniert von all den Tieren, denen sie begegneten und die sie aufschreckten. Einige sah sie wohl zum ersten Mal bewusst. Hönnlin freute sich über die großen Augen, die sie dabei machte und erklärte ihr, was er wusste. Auch maß er seine Schritte bedächtig ab, um weniger Lärm zu verursachen. Doch sein Esel erinnerte sich an seinen störrischen Charakter und machte alles zunichte. Ihm gefiel es nicht, ständig stehen bleiben zu müssen und gab das lauthals kund. Unzählige Vögel flogen in den Himmel und weithin nahmen die Waldbewohner Reißaus oder versteckten sich.

„Dummer Esel“, schüttelte Hönnlin den Kopf.

Clara lachte nur.

„Komm, du kannst mir suchen helfen. Hier irgendwo müsste eine alte Feuerstelle sein. Wahrscheinlich sind nun Blätter darüber.“

Mit freudiger Aufregung half Clara beim Suchen. Hönnlin wusste in etwa, wo die Stelle sein musste, doch er ließ Clara sie finden.

„Hier ist sie“, rief Clara mit für eine Novizin unangebrachter Begeisterung.

Als Hönnlin sich umdrehte, waren die Blätter bereits weggewischt. Die Asche war größtenteils weggeweht und nur mehr grobe Stücke und geschwärzte Erde verrieten das einstige Lagerfeuer.

 

Hönnlin nahm seine kleine Schaufel und wollte ansetzen das Loch erneut auszuheben, doch Clara bettelte förmlich darum, es selbst tun zu dürfen.

Er wollte sie ermahnen vorsichtig zu sein, doch dazu ließ ihm Clara keinen Grund. Clara schien die geborene Schatzsucherin zu sein. Nur vergaß sie schnell ihr Novizinnentracht und so musste Hönnlin deswegen ihre Abenteuerlust zügeln.

Vorsichtig hob Clara das in Leder eingewickelte Paket hervor und wischte vorsichtig, beinahe andächtig, die anhaftende Erde ab. Nach kurzem Betrachten reichte sie es Hönnlin, ohne zu wagen es zu öffnen.

Hönnlin sah sie eine Weile ins Gesicht und auch wenn Clara es schaffte seinen Blick zu erwidern, stellte sie keine Frage, auch wenn ihre Neugier geweckt war.

„Du möchtest nicht wissen, was darin ist?“, neckte Hönnlin, da es ihm egal sein konnte, wenn sie es wusste.

„Doch“, lachte Clara. „Aber sie werden es kaum hier verstecken, wenn sie möchten, dass jeder weiß, was sie haben.“

„Ja, das stimmt wohl“, zeigte sich Hönnlin beeindruckt. „Du hast einen wachen Geist.“

Clara lächelte zufrieden und schloss das Loch.

„Aber ich möchte überprüfen, ob alles unbeschadet ist und ich habe das Gefühl, dass mein Geheimnis bei dir gut aufgehoben ist.“ Clara würde nichts verraten können, denn in Frankreich würde er das letzte Mal als Bruder Johannes einkehren.

Es waren rund zwei Dutzend Schriften, die Hönnlin hier vergraben hatte, davon waren aber nur die Hälfte als Bücher zu bezeichnen. Auch zwei Schriftrollen waren darunter und ansonsten waren es notdürftig zusammen gebundene Zeichnungen und Texte.

Abermals konnte er sich an Claras großen Augen erfreuen und er ließ sie bereitwillig hineinschauen.

„Aber das kann man doch nicht lesen, oder?“, wollte Clara verwundert wissen, als sie arabische Texte sah.

„Doch, aber es ist eine andere Schrift wie die unsere. Das ist die arabische Schrift“, erklärte Hönnlin.

„Es gibt mehrere Schriften?“ Davon hatte sie noch nie gehört.

„Ja, viele“, bestätigte Hönnlin. „Aber frag mich nicht wie viele.“

„Aber“, wunderte sich Clara, „es gibt doch schon unterschiedliche Sprachen und alle die ich kenne haben die gleiche Schrift. Wie kann das sein?“

„Nun die Schrift ist wohl an vielen Orten gleichzeitig entwickelt worden und deshalb gibt es in vielen Regionen unterschiedliche Schriften. Bei uns hat sich wohl für viele Länder nur eine Schrift behaupten können.“ So recht wusste Hönnlin hierauf auch keine Antwort.

„Aber es ist schon schwer genug eine andere Sprache zu lernen. Wie soll das gehen, wenn man auch noch eine andere Schrift lernen muss?“, versuchte Clara sich die Mühe vorzustellen. „Können sie das lesen?“

„Ja, aber es fällt mir schwer. Aber nur so kann man ganz neue Dinge lernen.“

„Was für Dinge?“, wollte Clara wissen.

„Andere Kulturen, andere Vorstellungen aber auch Erfindungen in Medizin oder in der Kunst des Bauens.“

Clara machte große Augen und blickte Hönnlin sprachlos an.

„Aber warum haben sie die hier versteckt?“, fragte Clara nach einer Weile, als Hönnlin dabei war sie einzupacken. „Im Kloster wären sie doch viel besser geschützt und da könnte jeder sie lesen.“

„Glaubst du das?“, antwortete Hönnlin mit einer Gegenfrage.

Die Frage machte Clara nachdenklich und so antwortete sie nicht gleich darauf.

„Ich habe dir etwas noch nicht gesagt, weil keiner außer dir es wissen darf.“

Clara runzelte die Stirn während Hönnlin zum Esel ging und in einer Tasche kramte.

„Hier habe ich noch eine Mönchskutte und ich möchte, dass du die während der Reise trägst.“

„Wieso? Was ist an meiner Kleidung nicht gut“, fragte Clara verwundert. Aber sie wirkte keineswegs schockiert, so wie Hönnlin es erwartet hatte.

„Hier draußen ist eine andere Welt als in einem Kloster, oder selbst in der Stadt. Hier ist es gefährlich als Mädchen herumzulaufen. Du bist weithin als einfaches Opfer erkennbar. Als zwei Mönche werden wir weniger Aufmerksamkeit auf uns ziehen.“

Clara verstand das nicht ganz, aber sie glaubte ihm.

„Na gut, mir gefällt die Novizinnentracht ohnehin nicht“, lachte sie und schlug sich dann die Hand auf den Mund.

„Keine Angst, das bleibt unser Geheimnis“, lächelte Hönnlin belustigt. „Ich schätze ehrliche Meinungen.“

Clara brannte eine Antwort auf der Zunge, aber sie wagte nicht sie auszusprechen. Aber auch so wusste er, was sie sagen wollte und konnte sie nur allzu gut verstehen.

Hönnlin reichte ihr die Kleidung und Clara ging fort, sich umziehen. Als sie zurückkehrte hatte sie die Kapuze aufgesetzt, grinste frech und freute sich diebisch. Wahrscheinlich stellte sie sich das Gesicht der Äbtissin vor, wenn diese sie so sehen würde.

„Wir können nun den Weg zurück zur Kreuzung gehen“, begann Hönnlin und versuchte seinerseits ein Grinsen zu unterdrücken, „oder wir gehen auf direktem Weg durch den Wald. Du entscheidest.“

„Durch den Wald“, antwortete Clara prompt und spielte mit den ungewohnt weiten Ärmeln ihrer Kutte.

„Du bist mir eine Novizin“, lachte nun Hönnlin und konnte sich nicht mehr halten.

Clara versuchte eine Unschuldsmiene aufzusetzen, doch vergebens, und so fiel sie mit in sein Lachen ein. Doch aus irgend einem Grund fühlte sich das richtig an. Hönnlin war nicht so wie die anderen Mönche und erst recht nicht wie die Nonnen, die sie kannte.

Hönnlin schlug nicht den direkten Weg ein. Stellenweise war der Wald zu dicht und so folgten sie den Pfaden von Wildschweinen und anderem Getier. Er schwor Clara darauf ein, dass sie weglaufen sollte, wenn sie ein Wildschwein mit Jungen zu sehen bekämen. Von der Abenteuerlust, die sie nun voll und ganz durchströmte, enthemmt, demonstrierte sie ihm auch gleich ihr Können, was das Klettern anbelangte.

„Etwa so“, strahlte Clara ihm aus vier Metern Höhe entgegen.

„Genauso!“ Hönnlin hatte die Arme in die Seite gestemmt, weil er sich in der Pflicht gesehen hatte zu protestieren, doch er brachte es nicht fertig. Sein resignierendes Kopfschütteln galt genauso viel sich selbst, wie auch Clara. „Wer hat dir das alles beigebracht? Ich kann mir nicht vorstellen, dass man das neuerdings im Kloster lernt.“

„Ich musste mich einige Male verstecken“, berichtete Clara mit einer Unschuldsmiene, dass Hönnlin abermals lachen musste. Nein, er war wirklich nicht mehr für das Klosterleben gemacht. Ihm fehlte der notwendige Ernst.

„Das kann ich mir bei dir lebhaft vorstellen, wobei einige Male wohl auch anders zu nennen wäre?“

„Manchmal bin ich auch artig“, protestierte Clara entrüstet.

„Du meinst, dass du dich manchmal nicht hast erwischen lassen?“

„Ist doch das Gleiche!“, stellte sich Clara beleidigt und kletterte geschickt hinab. Unten angekommen verdrehte sie die Augen und ging an Hönnlin vorbei als wollte sie nichts mehr hören.

„Du hast mir wirklich noch gefehlt“, lachte Hönnlin.

Clara blieb kurz stehen, grinste frech und nickte als Bestätigung bevor sie weiter ging.

Hönnlin blieb stehen und lächelte schwermütig. „Armes Ding, was machst du in einem Kloster?“, flüsterte er zu sich selbst. Er atmete tief aus und folgte Clara, die inzwischen etliche Meter voraus war.

Bis zum Abend hatten sie den Rand des Waldes noch nicht erreicht. Es gab für Clara viel zum Staunen und im Gegensatz zum Vormittag legten sie vermehrt Rast ein. Keiner der Beiden hatte es eilig und so sah Hönnlin es auch nicht ein, sich unter Zeitdruck zu setzen. Während Clara das Abenteuer genoss, bot es Hönnlin Gelegenheit, über das Leben nachzudenken, das er bald führen würde. Er hatte schon lange darüber nachgedacht, aber jetzt war es bald soweit. Er war sich seines Entschlusses sicher, aber es lag doch viel im Ungewissen. Und schließlich war es auch nicht so, dass das Leben, das er hinter sich ließ, ihm verhasst wäre. Er hatte viel gelernt, viele bewundernswerte Menschen kennen gelernt, von denen Einige ihn auch nicht unwesentlich geprägt hatten. Aber das Leben, das er bis eben führte, schaffte es nicht mehr ihn zu erfüllen. Stellen in ihm waren leer, während er viel Zeit damit verbringen musste, Dinge zu tun, von denen er nicht überzeugt war. Genau von diesem Ballast wollte er sich lossagen. Aber er würde auch Freunde zurücklassen. Viel Vertrautes und auch Sicherheit würde ihm verloren gehen. Es war nicht so, dass ihm dies Angst machen würde, aber es beschäftigte ihn doch, nun da es bald soweit war. Vielleicht zeigte er sich Clara auch deshalb so offen. Er löste bereits die ersten Bande und bald gab es kein Zurück mehr, denn die Worte, die er sprach, würden ihn irgendwann einholen.

Ells Vater

Ismar war spät dran und er wusste das. Ebenso wie er um den Ärger wusste, der ihm drohte, da er beim Abendessen nicht erschienen war. Aber zumal im Sommer vergaß er abends schnell die Zeit, weil es nicht früh dunkel wurde. Nach seinem Unterricht war er gleich hinunter zu Caspar gelaufen, weil der sich um die Erweiterung des Stalles kümmerte. Die steinernen Wände des Erdgeschosses waren fertig und jetzt arbeitete er daran, die hölzerne Decke zu verlegen. Darauf wollte er noch ein niedriges Obergeschoss aus Holz bauen, damit sie hier eine kleine Werkstatt bekamen, nur um Geschirr und Sattel zu pflegen. Seid Caspar vom Pferd getreten worden war, suchte er sich gerne andere Arbeit, auch wenn er keine Angst vor Pferden hatte. Wahrscheinlich legte er deshalb selbst soviel Hand beim Bau des Stalles an.

Zwar behauptete er fleißig, der Schreiner würde Wucherpreise fragen, aber keiner kaufte ihm das ab. Dennoch machte es Ismar höllisch Spaß, Caspar zu helfen, vielleicht auch deshalb weil der Schreiner und Caspar bisweilen unterschiedliche Sichtweisen besaßen, wie gebaut werden sollte.

Eigentlich war es reiner Zufall gewesen, dass Ismar daran gedacht hatte, nach Hause zu müssen. Schreie hatten ihn und Caspar aus ihrem Eifer gerissen. Bei dem Gedanken, wer dort Ärger bekam, fühlte sich Ismar an jenen erinnert, der ihm nun drohte. Dabei, ganz so schlimm war es nicht, denn er hatte bereits zweimal diese Woche Strafen bekommen und die arbeitete er eben bei Caspar ab. Aber dennoch, das musste nicht sein. Ismar fürchtete, dass sein Vater bald dahinter kommen würde, dass dies keine Strafe war.

Er beeilte sich nach Hause zu kommen, deshalb fiel ihm nicht gleich auf, welche Hektik auf den Straßen herrschte. Ständig rief ein Anderer und Menschen liefen kreuz und quer. Das war mehr als merkwürdig an einem Abend eines so gewöhnlichen Tages. Ismar wollte wissen, was da los war, doch er wagte nicht langsamer zu werden. Doch dann wurde ihm das Treiben zu bunt. Die Menschen, die ihm entgegen strömten benahmen sich sonderbar.

Plötzlich sah er Wilbolt, Ells Vater, auf ihn zulaufen. Da musste etwas passiert sein. Ells Vater lief nie. Ismar wollte ihn ansprechen, doch Wilbolt kam ihm zuvor. Er machte hektische Gesten als wollte er Ismar verscheuchen. Verdutzt blieb Ismar stehen.

„Komm“, hauchte Wilbolt. „Du musst hier weg.“ Er griff im Laufschritt Ismars Arm und zerrte ihn mit sich fort.

„Was ist los? Ich muss nach Hause!“

„Jetzt nicht“, presste Wilbolt zwischen den Zähnen hindurch und versuchte so wenig wie möglich Aufmerksamkeit zu erregen. Er blickte sich prüfend um, als suchte er etwas, oder jemanden.

„Ich erklär es dir unterwegs“, beschwichtigte Wilbolt, als er Ismars Widerstand spürte. „Du musst mir vertrauen!“

Eigentlich müssten die Beiden weithin auffallen, doch in der ganzen Aufregung nahm keiner von ihnen Notiz.

„Du darfst nicht gesehen werden! Vertrau mir.“ Wilbolt hielt mit eiligen Schritten auf das Stadttor zu. Wilbolt hatte ihm noch nie das Gefühl vermittelt, ihm vertrauen zu müssen. Zumal Ismar ihn meist verärgert hatte, weil er Ell vor ihm geschützt hatte. Dennoch klang Wilbolt ehrlich besorgt. Entweder das, oder der Umstand, dass alle so aufgeregt waren, sorgte dafür dass Ismar sich fügte und mit Wilbolt die Stadt verließ.

„Was ist los? Warum sind alle so durchgedreht?“, verlangte Ismar zu wissen als sie in einiger Entfernung zur Stadtmauer waren. Sie waren nicht alleine auf der Straße, aber außer Hörweite der Anderen.

Wilbolt zögerte und zog Ismar weiter.

„Komm weiter. Ich erklär es dir, aber du musst weiter gehen“, lenkte Wilbolt ein, als Ismar abermals versuchte stehen zu bleiben.

„Du musst mir versprechen nicht zu schreien und auf keinen Fall darfst du zurücklaufen!“, begann Wilbolt.

 

Ismar zögerte. Wenn Wilbolt so anfing, dann würde er mit Sicherheit zurück wollen.

„Versprich es mir!“, beharrte Wilbolt.

„Ich verspreche es“, presste Ismar widerwillig aber ungeduldig hervor.

„Es sind Verräter in der Stadt“, begann Wilbolt endlich. „Sie haben deine Eltern vergiftet.“

„Nein“, rief Ismar und drehte sich um. Wilbolt hatte die Bewegung vorausgeahnt und griff ihn mit seinem starken Arm. Er hob ihn hoch und drückte ihm eine Hand auf den Mund.

„Du kannst nichts tun, Junge. Sie sind auch hinter dir her. Sie dürfen nicht wissen, wo du bist!“

Vorsichtshalber ließ er die Hand auf Ismars Mund. Denn auch er war in Gefahr, wenn sie wussten, dass er Ismar bei sich versteckte. Und das Schlimme daran war, dass er nicht einmal wusste, wer sie waren.

„Wer auch immer das war, er will, was dir zusteht. Ich habe gehört, dass zwei Männer sich nach dir erkundigt haben. Sie dürfen dich nicht finden.“ Wilbolt spürte wie Ismars Widerstand nachließ und so entfernte er seine Hand. Er behielt ihn aber weiterhin auf dem Arm, denn er kannte seinen Eigenwillen zur Genüge.

„Ich bringe dich zurück, sobald es für dich sicher ist.“

„Sind sie tot?“, fragte Ismar und spürte Tränen seine Wangen hinunterlaufen.

„Soweit ich weiß, ja. Ich habe es nicht selber gesehen.“

Ismar sprach seine Hoffnung nicht aus.

„Ich gehe Morgen früh zurück in die Stadt und werde mich umhören. Wen soll ich fragen, was mit dir geschieht?“

Ismars Gedanken überschlugen sich.

„Was ist mit meiner Schwester? Was ist mit Elisabeth?“

„Ich habe sie nirgends gesehen. Aber ich habe auch nur nach dir gesucht.“ Wilbolt dachte nach. „Aber außer deinen Eltern schien keiner vergiftet worden zu sein.“

Wilbolt merkte, dass das wenig beruhigend war.

„Wahrscheinlich hat auch jemand sie versteckt. So wie ich dich.“

Ismar murmelte unverständlich.

Als Ismar am folgenden Morgen in Wilbolts Haus aufwachte, hatte er das Gefühl, kein Auge zugemacht zu haben. Dennoch war er hellwach und wollte unbedingt in die Stadt. Doch Wilbolt ließ es nicht zu, und so blieb Ismar bei Ell und ihrer Mutter zurück, während Wilbolt in aller Früh in die Stadt ging. Er würde versuchen, zu Ismars Hauslehrer zu gelangen und sollte er daran gehindert werden, sollte er sich an Caspar wenden, weil dieser durchgelassen würde.

Obwohl Wilbolt bereits am frühen Mittag zurück kehrte, wurden es lange Stunden für Ismar. Das erste Mal wollte er sich die Zeit nicht durch Arbeit vertreiben und durch nichts was sich Ell oder ihre Mutter einfallen ließen, war er davon abzubringen, beim Fenster stehen zu bleiben.

„Er kommt“, rief er plötzlich. Obgleich er sich vorgenommen hatte, Wilbolt entgegen zu laufen, sobald er diesen sah, blieb Ismar stehen und wandte seinen Blick nicht mehr von Wilbolt, bis dass dieser in der Tür erschien. Ell und ihre Mutter wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten und stellten sich hinter Ismar.

Wilbolt blickte die Drei an und wusste nicht, wie er es sagen sollte. Unterwegs hatte er einige Varianten ausprobiert, doch nun wollte ihm keine mehr einfallen. Jeder der Wilbolt kannte, wusste, dass er kein Mann der Worte war.

„Deine Eltern sind beide tot. Aber deine Schwester lebt und sie ist in Sicherheit“, sagte Wilbolt steif.

Ismar blieb reglos stehen. Wut und Hilfslosigkeit lähmten ihn. Obwohl er versucht hatte, sich keine Hoffnung zu machen, traf ihn der Schlag ein zweites Mal.

Ell griff vorsichtig noch seiner Hand und er ließ es zu.

„Dein Hauslehrer bat mich, dir dies zu geben.“ Wilbolt nahm einen Brief aus seiner Tasche und reichte ihn Ismar. „Er bat mich, dass du noch zwei Tage bei uns bleibst. Er sorgt sich um deine Sicherheit.“ Wilbolt hielt kurz inne. „Aber das wird er dir wohl auch geschrieben haben.“

Ismar wollte aufbegehren, besann sich dann aber anders und öffnete den Brief. Zahlreiche Strafen hatten es ihm abgewöhnt zu schnell zu antworten.

Er erkannte gleich Wigandus' Schrift, auch wenn dieser diesmal sichtlich in Hast geschrieben hatte. Dennoch war der Brief ungewöhnlich lang. Er bestätigte ihm was er bereits von Wilbolt wusste. Obendrein versuchte er ihn zu beruhigen und bat ihn vernünftig zu sein. Wigandus würde versuchen beim Bischof Schutz für ihn und seine Schwester zu erwirken. Der Sitz des Stadthalters würde neu vergeben werden und er wäre der Einzige, der später einen Anspruch äußern dürfte, aber noch war er zu jung.

Er lobte gar Wilbolt für dessen besonnenes Handeln und schwor Ismar ein, ihm zu vertrauen.

„Es gab einen Verräter, der deinem Vater nah stehen musste, sonst hätte das so nicht geschehen können“, schrieb Wigandus. „Auch ich werde bald die Stadt verlassen und einige Andere auch. Gleichwohl wer von dieser Tat seinen Nutzen zieht, die Stadt wird nicht mehr die Gleiche sein“, hieß es einige Zeilen später.

Ismar überflog den Brief erst hastig, dann noch einmal langsam. Keiner sprach ein Wort. Ismars Hände zitterten und Tränen liefen ihm die Wange hinunter. Er wusste was das bedeuten würde, auch er musste die Stadt verlassen. Schlimm genug, dass seine Eltern tot waren, aber nun verlor er auch noch seine Heimat, alles was ihm vertraut war.

„Wigandus wollte, dass ich dir noch etwas sage, das er nicht niederschreiben wollte“, begann Wilbolt als Ismar seinen Kopf hob. „Er möchte dich nochmal sehen bevor er geht.“

„Kann ich jetzt zu ihm?“ Ismar hielt auf die Tür zu.

„Nein, Wigandus hat kurz nach mir die Stadt verlassen. Er hatte bereits gepackt. Er hat mir gesagt, wo ich ihn in drei Tagen finden werde.“

„Ich muss aber etwas tun. Irgendwas!“, schrie Ismar hilflos.

Ells Mutter eilte zu ihm und nahm ihn in den Arm.

„Junge“, setzte Wilbolt an, doch dann merkte er, dass ihm die Worte fehlten.

„Dein Vater war ein gerechter Herr. Wir werden ihn alle vermissen“, sagte er schließlich aus tiefster Überzeugung.

„Wohl wahr“, bestätigte seine Frau. „Du kannst auf ewig stolz auf ihn sein!“

Drei Tage später brachen Wilbolt und Ismar zum Treffpunkt auf. Ismar war völlig erschöpft. Wilbolt hatte versucht ihn mit Arbeit abzulenken und Ismar hatte geschuftet wie ein Berserker.

Der Junge tat Wilbolt leid und er wurde sich aufs Neue bewusst, wie oft er ihm Unrecht getan hatte. Weder sein Vater noch er hatten diesen Verlust verdient, aber vielleicht musste dies das Schicksal all derer sein, die gutherzig waren, schloss Wilbolt wehmütig. Vielleicht war das Gottes Willen um die Menschen zu bestrafen. Wilbolt machte sich Sorgen um die Zukunft seiner Familie. Er hatte zuviel Schreckliches von Bekannten und Verwandten gehört, die andere Lehnsherren hatten.

Wilbolt ging mit Ismar zur alten Eiche. Das war ein allgemein bekannter Treffpunkt. Die alte Eiche war so windverdreht und verknotet, dass keiner ihr Holz wollte. Sie lag nahe der Weggabelung, die von der Stadt wegführte. Für viele galt der Baum gar als unantastbar. Bereits Wilbolts Vater hatte ihm als kleiner Junge erklärt, dass der Baum heilig war. Viele glaubten in den Knoten Gesichter zu erkennen. Wilbolt zählte nicht zu denen, genauso wenig kam er hierher zum Beten, wenn er ein persönliches Anliegen hatte. Für ihn stand fest, dass man zum Beten in die Kirche ging und dass das hauptsächlich die Aufgabe der Pastoren und Mönche war. Abgesehen vom Tischgebet sagte er meist nur Amen, wenn der Pastor sprach, aus Angst, etwas Falsches zu sagen, was Gottes Zorn auf ihn lenkte. Ansonsten wurde er nicht müde sich zu bekreuzigen, wenn ihm etwas unheimlich war.

Als die Beiden ankamen, hatten sie eine knappe Stunde Fußweg hinter sich. Dennoch waren sie alleine. Wilbolt hatte sich entgegen seiner Art von Ismars Ungeduld anstecken lassen und war früher als verabredet losgegangen.

Allzu lange mussten sie aber nicht warten. Auch Wigandus kam weit vor Mittag. Dabei hatten sie ihn beinahe nicht erkannt. Vorsichtshalber waren die Zwei in den Wald getreten, um nicht für jedermann sichtbar zu sein. Dabei wusste Wilbolt nicht, ob die Straße an diesem Tag besonders viel genutzt wurde, oder ob er sich das nur einbildete. Wigandus kam aus der Stadt, dabei hätte Wilbolt ein Huhn darauf verwettet, dass er aus einer der beiden anderen Richtungen kommen würde.