Buch lesen: «Interdisziplinarität auf der Sekundarstufe II»
Marc Eyer
Interdisziplinarität auf der Sekundarstufe II
ISBN Print: 978-3-0355-0568-9
ISBN E-Book: 978-3-0355-0569-6
Umschlagbild: Schale des Duris
1. Auflage 2017
Alle Rechte vorbehalten
© 2017 hep verlag ag, Bern
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Ich kenne nichts Schrecklicheres, als die armen Menschen, die zu viel gelernt haben. Statt des gesunden kräftigen Urteils, welches sich vielleicht eingestellt hätte, wenn sie nichts gelernt hätten, schleichen ihre Gedanken ängstlich und hypothetisch einigen Worten, Sätzen und Formeln nach, immer auf denselben Wegen. Was sie besitzen ist ein Spinnengewebe von Gedanken, zu schwach, um sich darauf zu stützen, aber kompliziert genug, um zu verwirren.
Ernst Mach, 1923
Inhaltsverzeichnis
Vorbemerkung
1 Einführung und Verankerung
1.1 Der Fächerkanon an unseren Schulen
1.2 Der Lehrplan des Abendlandes
1.2.1 Von den Vorstufen des geplanten Lehrens zur Arete und zur Paideia
1.2.2 Der Lehrplan der Sophisten
1.2.3 Platon
1.2.4 Enkyklios Paideia
1.2.5 Septem Artes Liberales
1.2.6 Vom frühen Christentum ins Mittelalter
1.2.7 Humanismus und Reformation
1.2.8 Curriculum Scholasticum
1.2.9 18. und 19. Jahrhundert
1.3 Verankerung der Interdisziplinarität in der klassischen Pädagogik
1.3.1 Lehrplangeschichtliche Einordnung
1.3.2 Amos Comenius: omnes – omnia – omnino
1.3.3 Diesterwegs Regeln für den Unterricht
1.3.4 Deweys Projektunterricht
1.3.4 Wagenschein – Rettet die Phänomene
1.3.5 Reichweins schaffendes Schulvolk
1.4 Disziplinäre Schulen – multidisziplinäre Realität
1.5 Ziele interdisziplinärer Bildung
2 Modelle des fächerübergreifenden Unterrichtens
2.1 Drei Modelle
2.1.1 Disziplinärer Ansatz
2.1.2 Phänomenologischer Ansatz
2.1.3 Transdisziplinärer Ansatz
3 Organisation und Qualität von fächerübergreifendem Unterricht
3.1 Drei Organisationsformen
3.2 Qualitätsmerkmale
3.3 Beurteilen und Evaluieren
4 Methoden interdisziplinären Unterrichtens
4.1 Das Sokratische Gespräch
4.2 Problem Based Learning
4.3 Lehrstückunterricht
4.4 Projektarbeit nach Dewey
4.5 Teamteaching
5 Interdisziplinarität im Kontext aktueller schulpolitischer Entwicklungen
5.1 Basale Studierkompetenzen
5.2 MINT als Katalysator für fächerübergreifende Projekte
5.3 Selbstgesteuertes, selbstorganisiertes Lernen
5.4 Bildung für nachhaltige Entwicklung
6 Dank
7 Abbildungsverzeichnis
8 Tabellenverzeichnis
9 Literaturverzeichnis
Vorbemerkung
Sekundarstufe II wird im schweizerischen Bildungssystem jene schulische Ausbildung genannt, die nach dem 9. Schuljahr an die obligatorische Volksschulstufe Sekundarstufe I anschliesst. Zu den Schulen der Sekundarstufe II gehören die Gymnasien, die Berufsmittelschulen und die Fachmittelschulen. Die Bildungsgänge zur gymnasialen Maturität, zur Berufsmaturität und zur Fachmaturität fordern von ihren Lehrpersonen ein Lehrdiplom für die Sekundarstufe II. Die vorliegende Publikation bezieht sich in ihren Ausführungen hauptsächlich auf den Unterricht in solchen Bildungsgängen und richtet sich an Studierende, Lehrpersonen und Hochschuldozierende mit dieser Zielstufe.
Die Lehrpläne der Berufsmaturitätsschulen (BMS) und der Fachmaturitätsschulen (FMS) unterliegen nicht der schweizerischen Verordnung über die Anerkennung von gymnasialen Maturitätsausweisen (MAR 95), sondern dem Berufsbildungsgesetz (BBG). Bezüge zur MAR 95 in dieser Publikation, die z. B. im Zusammenhang mit den Zielformulierungen für fächerübergreifenden Unterricht stehen, gelten daher streng genommen nur für die Arbeit am Gymnasium. Im Kapitel «Interdisziplinarität an FMS und BMS» wird speziell auf die Besonderheiten der interdisziplinären Arbeit an FMS und BMS eingegangen.
Die fachwissenschaftliche Ausbildung von Lehrpersonen für die Sekundarstufe II ist sehr spezialisiert. Als Voraussetzung für das Lehrdiplom für die Sekundarstufe II wird in der Schweiz ein fachwissenschaftlicher Abschluss auf Masterstufe in einem oder zwei Fächern, die im Kanon der genannten Bildungsgänge angeboten werden, verlangt. Die Lehrpersonen der Sekundarstufe II haben daher eine gründliche und spezialisierte fachwissenschaftliche Ausbildung absolviert, bevor sie an einer Hochschule das Lehrdiplom erwerben. Das Ziel dieser Publikation besteht einerseits darin, Akteuren auf der Sekundarstufe II den Blick für das Zusammenwirken der Disziplinen hinsichtlich einer differenzierten und ganzheitlichen Auseinandersetzung mit Unterrichtsinhalten zu geben. Andererseits soll es darum gehen, konkrete Ansätze interdisziplinären Arbeitens zu diskutieren und auf Methoden und Organisationsformen hinzuweisen, die sich für fachübergreifende Zugänge zu Inhalten eignen. Die kleine Auswahl von Methoden und Organisationsformen, auf welche hier eingegangen wird, versteht sich als exemplarische und nicht als abschliessende und ausschliessliche Aufzählung.
Abbildung 1: Die üblichen Bildungswege in der Schweiz, Stand Oktober 2016. direkter Zugang Zugang mit Zusatzqualifikation. Mit Zusatzqualifikationen sind viele weitere Querverbindungen möglich.
1 Einführung und Verankerung
Der Pädagoge und Physiker Martin Wagenschein beginnt in «Natur physikalisch gesehen» wie folgt:
Es kommt uns heute darauf an, die jungen Menschen urteilsfähig, ja mündig werden zu lassen. Damit nehmen wir hoffentlich endgültig Abschied von dem enzyklopädischen Ideal der ‹Allgemeinen Bildung› im Sinne eines möglichst vollständigen Bestandes angehäufter Kenntnisse ohne Rücksicht auf ihren Zusammenhang. (Wagenschein, 1953, S. 5)
Mehr als sechzig Jahre später sieht ein normaler Tag unserer Schülerinnen und Schüler an einem Gymnasium etwa so aus: 1. Lektion: Mathematik, Kurvendiskussion; 2. und 3. Lektion: Geschichte, Weimarer Republik; 4. Lektion: Musik, Afrikanische Rhythmen; 5. und 6. Lektion: Deutsch, Frischs «Stiller» und Grammatik; 7. und letzte Lektion: Französisch, Repetition des Subjonctif. Ähnlich zusammenhanglos könnte der Alltag der Lehrpersonen aussehen, z. B. eines Physiklehrers: Doppellektion zur Einführung in die harmonischen Schwingungen; anschliessend eine Lektion Korrektur von Prüfungen zur Wärmelehre; am Nachmittag eine Lektion über das Brechungsgesetz; dann noch eine Doppellektion zur Induktion und zu Transformatoren.
Etwas überzeichnet besteht unser Schulalltag für die Schülerinnen und Schüler sowie für die Lehrpersonen aus einer durch den Stundenplaner der Schule höchst ausgeklügelten Verschachtelung von Unterrichtslektionen, deren Inhalte einen vollkommen zusammenhanglosen Brei von Wissen ergeben. Die Schülerinnen und Schüler wechseln von einem zum anderen ohne Hilfestellungen, ja gar ohne Vorstellung, ob sich überhaupt aus all dem ein Ganzes, ein Gefüge, ein allgemeinbildendes Fundament bauen lässt. Verschnaufpausen gibt es wenige, selten einmal einen Hinweis auf Verbindungen zu anderen Fächern.
Wie rechtfertigt die Schule diese Struktur?
1.1 Der Fächerkanon an unseren Schulen
Es gibt organisatorische Gründe für die fachliche Feingliederung des Curriculums an unseren Schulen. So werden z. B. an einem durchschnittlichen Gymnasium knapp tausend Schülerinnen und Schüler in einem Rasterstundenplan von 5 mal 9 Lektionen in 50 Klassen von 200 Fachlehrpersonen unterrichtet. Von den 200 Lehrpersonen sind zwei Drittel Lehrpersonen, die ein Teilpensum unterrichten, die also nicht die ganze Woche verfügbar sind. Folgende Prämissen, die manchmal pädagogisch, aber meistens organisatorisch begründet sind, schränken die Organisationsform der Schule ein. (Die Aufzählung ist nicht abschliessend.)
•Es sollen Jahrgangsklassen gebildet werden.
•Die Klassen sollen in ihrer Zusammensetzung weitgehend zusammenbleiben, eine pädagogische Einheit und ein soziales Gefüge bilden («Klassengeist»).
•In bestimmten Zeitgefässen (Lektionen) soll von einer Lehrperson ein Fach (Disziplin) unterrichtet werden.
•In einer bestimmten Klasse unterrichtet immer dieselbe Lehrperson dasselbe Fach.
Für die meisten öffentlichen Schulen gelten diese oder ähnliche Prämissen mit den entsprechenden Konsequenzen für den Unterrichtsalltag. So ist z. B. der «Epochenunterricht»[1], wie er an Rudolf-Steiner-Schulen stattfindet, unter den beschriebenen Voraussetzungen kaum zu organisieren. Blocktage und Studienwochen können, ohne dabei mit dem «Normalunterricht» in Konflikt zu kommen, nur in wenigen dafür vorgesehenen Schulwochen durchgeführt werden.
An kaum einem öffentlichen Gymnasium steuern pädagogische Prämissen dominant die Struktur der Unterrichtsgliederung. Wie könnten denn solche pädagogischen Prämissen lauten? Hier einige Beispiele:
•Die Lernenden sollen sich über einen angemessenen Zeitraum mit einem Unterrichtsgegenstand auseinandersetzen können, betreut durch die entsprechenden Lehrpersonen.
•Statt «enzyklopädischem Anhäufen von Wissen» soll exemplarisches Lernen gefördert werden.
•Fachbereiche (Disziplinen) sollen sich bei Bedarf zusammenschliessen können.
>Überlegen Sie sich weitere pädagogische Prämissen.>Welche pädagogischen Prämissen machen sich in der heutigen Gliederung des Unterrichts und der Schulstruktur bemerkbar? |
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Die Unterteilung des Stoffs an Mittelschulen in Fächer (Disziplinen) kann historisch begründet werden (vgl. Abschnitt 1.2). Unabhängig davon muss über Sinn und Unsinn einer solchen Aufteilung aus heutiger Sicht nachgedacht werden.
Für die Schülerinnen und Schüler erfolgt spätestens beim Eintritt in die Maturitätsschule bzw. häufig bereits beim Übertritt in die Sekundarstufe I der abrupte Übergang von einer ganzheitlichen zu einer spezifizierten Betrachtung der Unterrichtsinhalte.
Der Übergang von der Volksschule zum Gymnasium ist zugleich ein Wechsel vom Allroundlehrer zum Fachlehrer, vom Generalisten zum Spezialisten-Ensemble, ähnlich wie die Überweisung vom Hausarzt ins Krankenhaus einen Wechsel vom Allroundarzt zum Facharzt-Ensemble darstellt. Während aber in der Medizin beides weiterentwickelt wurde – fachliche Differenzierung und fachübergreifende Integration – herrscht in der Schule nur die Fachdifferenzierung, und sie herrscht ohne Checks und Balances fast bis zur Spezialisierung. Jedenfalls gibt es keine schulische Entsprechung zum Facharzt für Allgemeinmedizin […]. (Berg, 1996, S. 13)
Der Ausbildungsweg zur Lehrperson der Sekundarstufe II sieht eine fachliche Spezialisierung auf ein oder zwei Fächer vor. Die ausgebildeten Lehrpersonen haben entsprechend eine fachspezifische Perspektive auf den Maturitätsschulunterricht. Oft wird im Unterrichtsalltag vergessen, dass an der Schule nicht in erster Linie Physikerinnen, Chemiker, Germanisten und Musikerinnen gefragt sind, sondern vor allem Lehrpersonen, die diese Fächer unterrichten. Die Ausbildung macht Lehrpersonen zu Botschafterinnen und Botschaftern ihres Fachbereichs und der Fachbereich verleiht den Lehrpersonen eine Identität. «Ich bin Physiker!», diese starke Verwurzelung der einzelnen Lehrperson in ihrer Disziplin prägt die Struktur des Unterrichtscurriculums und führt zur einer prägnanten Abgrenzung der Disziplinen voneinander oder gar zu Konkurrenzkämpfen zwischen diesen (z. B. um Ressourcen). Zementiert wird diese Fächerordnung durch die Fachdidaktik, die sich in den vergangenen fünfzig Jahren stark entwickelt hat. Die Disziplinen werden in eine spezifische Didaktik gebettet. Damit wird auch der Zugang zu Wissen fachspezifisch und entsprechend werden übergeordnete Kompetenzen mit Fächern assoziiert (z. B. das Bilden von Modellen mit dem Chemie- und dem Physikunterricht oder die sprachliche Ausdrucksfähigkeit mit dem Deutschunterricht).
Die Tatsache, dass sich diese Fächerstruktur an Maturitätsschulen über Jahrhunderte gehalten hat und in dieser Form ausgebaut wurde, ist kaum allein auf die organisatorischen Vorteile zurückzuführen, sondern auch auf pädagogische:
•Schulische Grundfertigkeiten (Lesen, Schreiben, Rechnen, Modellieren, räumliches Denken, logisches Denken, Musizieren, Interpretieren, Verarbeiten von Literatur, Argumentieren usw.) lassen sich Disziplinen zuordnen und dort kontextorientiert üben.
•Durch die disziplinäre Strukturierung des Wissens erhalten Schülerinnen und Schüler einen geordneten Zugang zu komplexen Phänomenen. Wissen lässt sich dadurch gezielt und effizient erschliessen, ordnen, zuordnen, vernetzen und abrufen.
•Mit Disziplinen (bzw. mit den entsprechenden Fachlehrpersonen) identifizieren sich die Schülerinnen und Schüler. Sie orientieren sich an ihnen, definieren sich über sie und entwickeln ihre eigene Interessen und Vorlieben.
•Der Disziplinen-Unterricht leistet propädeutische Arbeit im Hinblick auf ein späteres tertiäres Fachstudium.
Der Entscheid für einen disziplinären Aufbau des Lehrplans geht vom Paradigma aus, Schülerinnen und Schüler müssten fachspezifische Grundfertigkeiten, Arbeitsmethoden und Modelle studieren, anlernen und üben, um sich mit komplexen Realthemen auseinanderzusetzen. Die Struktur der klassischen Pädagogik nach Diesterwegs «Elementarmethode» (Diesterweg, 1844) wird dadurch zementiert: «Gehe immer vom Einfachen zum Komplexen, vom Einzelnen, Speziellen zum Allgemeinen.» Studiert man die Ideen einiger klassischer Pädagogen, folgt allerdings auf das Differenzieren und Fragmentieren des Wissens das Zusammenfügen dieses Wissens zu einem Ganzen. In der Struktur des gymnasialen Lehrplans wird dem ganzheitlichen Denken bestenfalls in Sondergefässen, wie Studienwochen, Blockhalbtagen oder anderen besonderen Projekten, Platz eingeräumt. Ausgebildet dafür sind die Lehrpersonen in der Regel aber nicht. Die Durchführung und die Qualität fachintegrativer Sequenzen hängen davon ab, ob motivierte und kompetente Lehrpersonen verfügbar sind.
>In wessen Verantwortung liegt die Umsetzung von Bildungszielen, wie sie z. B. im Schweizerischen Anerkennungsreglement für Maturitätsschulen (MAR 95) in Artikel 5, «Bildungsziele»2, formuliert sind? Wer übernimmt das Zusammenführen des Spezialwissens? Wo bleibt der «Facharzt für Allgemeinmedizin»?>Diskutieren Sie, welche Aufgaben der «Facharzt für Allgemeinmedizin» an einem Gymnasium hätte bzw. wer diese Funktion übernehmen müsste. |
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1.2 Der Lehrplan des Abendlandes
Der Fächerkanon an den Schweizer Mittelschulen basiert auf dem eidgenössischen Rahmenlehrplan der EDK[2]. Was steckt dahinter? Wer hat diesen verfasst? Wer legt fest, was an den Schulen gelehrt werden soll? Lehrpläne sind keine starren Gebilde. Sie stehen und standen in der Geschichte der abendländischen Bildung immer in hohem Mass im Dienste politischer, gesellschaftlicher oder religiöser Interessen. Exemplarisch für eine Maturitätsschule im deutschsprachigen Raum ist die Lehrplanentwicklung in Abbildung 2 dokumentiert. Sie zeigt die unterrichteten Fächer gewichtet nach Stundenzahl am Gymnasium Münsterplatz in Basel über den Zeitraum von 1620 bis 2013. Ohne an dieser Stelle auf die Details dieser Entwicklung einzugehen, sei auf die Verdreifachung der Anzahl «Fächer» von 1620 bis 2013 hingewiesen – von 6 auf 18.
Abbildung 2: Entwicklung der Fächer am Gymnasium Münsterplatz in Basel seit 1620. In Anlehnung an NZZ Folio 6/2013.
Das Erstellen von Lehrplänen hat in unserer abendländischen Kultur eine rund 2000-jährige Geschichte. Dem Rückblick in diese Geschichte zugrunde liegt hier das Buch von Joseph Dolch «Lehrplan des Abendlandes. Zweieinhalb Jahrtausende seiner Geschichte» (1959). Eine detailliertere und vor allem modernere Darstellung der Entwicklung abendländischer Bildungssysteme in den letzten tausend Jahren gibt Helmut Fend in seinem Lehrbuch «Geschichte des Bildungswesens: Der Sonderweg im europäischen Kulturraum» (2007). Dieses Werk geht auch auf die Besonderheit der okzidentalen Kulturen, Gesellschaften und Bildungssysteme ein. Als Übersicht über die Stationen der Entwicklung der Lehrpläne über die letzten 2000 Jahre eignet sich die Dissertation von Dolch aber nach wie vor sehr gut. Der Durchgang durch die Geschichte des abendländischen Lehrplans geschieht im folgenden Kapitel in sehr groben Zügen. Einige bedeutende Aspekte bleiben dabei unberücksichtigt, z. B. die Frage nach der Bildung von Frauen und Mädchen und damit nach der Stellung der Frau in unserer abendländischen Gesellschaft. Dazu sei auf das Buch von Juliane Jacobi (2013)[3] verwiesen, das dazu eine schöne Übersicht verschafft.
1.2.1 Von den Vorstufen des geplanten Lehrens zur Arete und zur Paideia
Aus der Zeit vor den bekannten Hochkulturen[4] des Abendlandes ist über die Geschichte der «Pädagogik» und ein geplantes Lehren wenig bekannt. Die Errungenschaften und Entwicklungen früher Kulturen und Naturvölker, z. B. in Bezug auf die Nahrungsbeschaffung, die Technik, die Entwicklung und den Gebrauch von Waffen und Werkzeug sowie die Gesellschaftsordnung, die Künste, die Kulte und Religionen, sind beeindruckend. Wissen wurde über Generationen mündlich und z. T. auch schriftlich weitergegeben. Es finden sich jedoch keine konkreten Hinweise auf eine Systematisierung des Wissens oder eine Planung von dessen Weitergabe. Dies will nicht heissen, dass das «Erziehen» und «Lehren» in Frühkulturen nicht zielgerichtet war. Es bestand aber offenbar kein «formulierter» Plan, sondern eher ein «instinktives», «kulturadäquates» Erziehen mit dem Ziel der Lebens- und Stammeserhaltung und der Weiterentwicklung.
Explizit zielgerichtetes Lehren taucht allmählich in Kulturen auf, die erstens eine gewisse Stabilität (Dauer und Festigkeit) aufweisen und die zweitens ein gehobenes Menschenbild als Ziel der Erziehung in sich tragen. Der Grund dafür, dass sich überhaupt von einer «abendländischen Kultur» sprechen lässt, liegt darin, dass sich das Menschheitsideal im europäischen Raum aufgrund der Volksverwandtschaften vielfach glich. Der griechische Begriff Arete (areth) ist die Bezeichnung für eine Gesamtheit von Eigenschaften, welche einen idealen Menschen auszeichnen. Er vereint Merkmale wie Tugend, Tüchtigkeit und Tauglichkeit.
Abbildung 3: Schale des Duris. © bpk
Zwischen dem 7. und 6. Jh. v. Chr. verliert die griechische Adelsgesellschaft ihre selbstverständliche Vormachtstellung. Immer mehr Menschen wird es möglich, sich durch persönliche Tüchtigkeit in einflussreiche Positionen hochzuarbeiten. Damit gewinnt das Bestreben an Bedeutung, Arete durch gezielte Erziehung zu erlangen. Der Weg hin zu diesem Ziel wird immer wichtiger. Er wird unter dem Begriff Paideia («Kindererziehung» von griech. pais: Kind, Knabe) zusammengefasst. Die Paideia beinhaltet die Vorstellung, was der Gebildete neben seinem ausgebildeten Wesen alles «gelernt haben soll». Einer der frühesten überlieferten «Lehrpläne» dieser Art findet sich bildhaft dargestellt auf der Tonschale des Duris (5. Jh. v. Chr.). Darauf abgebildet sind das Flötenspiel, das Aufsagen des «Hymnus», der Unterricht beim Kitharisten und der Schreibunterricht. Bemerkenswert ist, dass die geometrisch im Kreis angeordneten Künste zu einem Ganzen zusammengefasst werden.
>Überlegen Sie sich, wie das erstrebenswerte Menschenideal (Arete) heute aussieht. Welche positiven Eigenschaften weist ein gebildeter Mensch heute auf? |
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Der kostenlose Auszug ist beendet.