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Marc-Christian Riebe

Mit Gold gepflastert…

Das Geheimnis der Bahnhofstrassen dieser Welt


1.Auflage November 2015

Copyright Schweiz © 2015 by Offizin Verlag AG, Zürich

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat Rolf Breiner

Buchgestaltung Rainer Schartmann

Printed in Germany

ISBN 9 783 906 276 328

Inhalt

Prolog

Wie alles begann…

Ungebetener Besuch

Ein Blick zurück

Einstieg in den Retail-Immobilienmarkt

Sprung mit Hürden in die Selbstständigkeit

Money, Macher, Märkte

Das Geld liegt auf der Strasse …

Reisen und Kongresse

Expansion mit Hindernissen

Vertrauen ist gut, Kontrolle …

Im Fokus: die Bahnhofstrasse

Die Zürcher Millionen-Meile

Von Trophy-Immobilien, Fehlentscheidungen und dem manchmal seltsamen Verhalten von Banken & Versicherungen

Inhaber, Insider und Aktionen

Innenstadt oder Shoppingcenter, welche Fläche ist lukrativer?

Das Schlüsselgeld

Vermieter und Geschäftspartner

Brunello Cucinelli, Dolce & Gabbana, Hermès, Prada & Co.

Gstaad, St. Moritz und Saint Tropez – mehr als Domizile für Luxusbrands

Gewusst wie, wo und mit wem

Ohne PR läuft gar nichts

Location TV

Who is who?

Das Internetprojekt

Wünsche

Offline-Rückblick und Online-Ausblick

Anhang

Chronologie

Teilnahme an folgenden Events durch Marc-Christian Riebe und Mitarbeiter der Location Group

Geschäftsabschlüsse 2006-2015 der Location Group

Brands, für die wir tätig waren*:

Eigentümer & Investoren, für die wir tätig waren*:

Städte, in denen wir tätig waren:

Warum dieses Buch?

Das Ziel des Buches

Danksagung

Literatur und Quellenverzeichnis

Für Victoria und Grace-Sophie,

in Liebe und Dankbarkeit.

«Erfolg kann berauschend sein»

Prolog

Mit dreizehn Jahren war ich schier ahnungslos und hätte nie gedacht, dass «das Geld auf der Strasse liegt» und man sich eigentlich nur bücken müsste, um es aufzuheben. Der Engländer würde es eleganter sagen: «The streets are paved with gold». Ich war dazumal Paperboy, also Zeitungsjunge, und trug morgens vor der Schule mit dem Fahrrad Zeitungen aus, um mein Taschengeld aufzubessern. Mit vierzehn jobbte ich in den Sommerferien als Tellerwäscher auf der berühmten Blumeninsel Mainau am Bodensee. Mit fünfzehn verkaufte ich Eis und putzte abends zweimal wöchentlich Böden in der Universität Konstanz. Mit sechzehn versuchte ich mich nachmittags und abends als Barkeeper im Restaurant Mandarin in Konstanz. Ausserdem leistete ich Akkordarbeit während der Ferien in einer Dosenfabrik in Ermatingen. Mit siebzehn und achtzehn Jahren betätigte ich mich als Küchenjunge im Guten Hirten. Später bediente ich abends und am Wochenende im Restaurant des Hotels Volapük in Konstanz-Litzelstetten, und das, obwohl ich nicht mehr zur Schule ging, sondern in einer beruflichen Ausbildung steckte. Auch während meines BWL-Studiums war ich nebenbei als Buchhalter in einer Immobilienfirma tätig. Es schien, als ob mich Geld, notabene selbstverdientes, zu einem anderen Menschen machte. Ich fühlte mich nach Auszahlung des Lohnes stolz. Mein Selbstwertgefühl stieg. Ich fand Anerkennung, mehr Lebensqualität und wuchs an meiner finanziellen Unabhängigkeit.

Ich wusste lange nicht, was ich beruflich machen sollte – oder anders gesagt, in welcher Branche ich meine erste Million verdienen wollte! Denn das war mein Ziel. Ich konnte es als junger Mann noch nicht so schlüssig formulieren, aber ich spürte, dass es im Universum ein Gesetz der Ordnung und Anziehung geben muss. Ich glaubte an Wohlstand und Glück und liess nicht zu, dass sich gegenteilige Gedanken in meinem Kopf festsetzten. Sehr viel später erst lernte ich nicht nur die Höhenflüge beruflicher Erfolge kennen, sondern auch, wie es sich anfühlt, völlig am Boden zu sein. Das Leben stellt einen auf die Probe. Denn: einfach Erfolg zu haben ist nie einfach und er wird nicht geschenkt. Aber es kann unglaublich berauschend sein.

Wie alles begann…
Ungebetener Besuch

Es war ein ganz normaler Dienstagmorgen im Februar 2006. Wie so oft hatte ich bis weit nach Mitternacht an meinem ersten Zürcher Retail-Marktbericht gearbeitet, und war danach erschöpft ins Bett gefallen. Nicht in mein eigenes, sondern in das meiner Freundin Victoria, in die ich mich unsterblich verliebt hatte und bei der ich seit sechs Monaten wohnte. In der Nacht, in den kurzen Momenten zwischen Wachen und Träumen, machte ich ihr stumm eine Liebeserklärung und nahm mir vor, sie am nächsten Morgen sanft damit zu wecken. Zufrieden über diese Absicht, kuschelte ich mich näher an Victoria heran. Dass sie da war, gab mir ein gutes Gefühl. Was konnte mir mit einer so klugen, bildschönen und lebensbejahenden Frau an der Seite schon geschehen!

Mit diesem Gedanken fiel ich in tiefen Schlaf, ziemlich zufrieden. Brachte eine intakte Beziehung nicht unweigerlich beruflichen Erfolg mit sich? Im Traum zumindest war es so. Ich lief schwerelos Shoppingmeilen entlang und suchte exklusive Locations für Armani, Gucci, Prada und ich weiss nicht wen alles sonst. Gerade als ich dabei war, den Deal meines Lebens zu machen, rüttelte mich mein Traumwesen unsanft: «Aufwachen, aufwachen …!»

Aufwachen, wieso? Noch völlig benommen erkannte ich die Stimme von Victoria: «Nun werde doch endlich wach. Die Kripo ist da!» Ich schlug die Augen auf. Einen Moment zweifelte ich an meinem Verstand. War das, was ich gerade sah, wirklich wahr? Standen die Schweizer Polizisten, drei Männer und eine Frau, tatsächlich im Schlafzimmer vor dem Bett oder waren sie einfach nur meiner Fantasie entsprungen? Vielleicht befand ich mich noch immer in einer Schlafphase und es war nur die Fortsetzung meines Traums. «Grüezi, Herr Riebe», sagte der Grössere aus der Gruppe. «Verstehen Sie Mundart?» Ich nickte verschlafen und richtete mich auf. «Bitte entschuldigen Sie die frühe Störung», fuhr er in Schwyzerdütsch fort, «aber wir sind aufgrund einer Anzeige von Gernot C. Riebe da. Sie werden beschuldigt, vom Server Ihres Bruders wichtiges Datenmaterial entwendet zu haben. »

Datenmaterial entwendet! Das durfte nicht wahr sein. Einen Moment war ich völlig fassungslos. Dann kam Wut in mir hoch, und ich sprang völlig aufgebracht aus dem Bett. Am liebsten hätte ich die Polizisten kurzerhand aus der Wohnung geworfen. «Hey, habt ihr nichts Besseres zu tun, als einen erschöpften Menschen am frühen Morgen aus dem Schlaf zu reissen? Kinderschänder und Kriminelle lasst ihr frei herumlaufen, aber ein Überfallkommando auf einen unbescholtenen Bürger loslassen, das könnt ihr!»

So hätte ich am liebsten geschrien. Vielleicht habe ich das auch. Die Polizisten erwarteten jedoch keinen Wutausbruch, sondern eine sachliche Erklärung von mir. Doch ausser dass das alles «Blödsinn» sei, fiel mir nichts dazu ein. Ich musste dermassen ratlos gewirkt haben, dass einer der Männer mir zu Hilfe kam: «Wir bedauern ausserordentlich, doch die Kollegen in Kreuzlingen haben sich mit einem Rechtshilfeersuchen an uns in Zürich gewandt. Wir sind nur beauftragt, das Anliegen …»

 

«Ihre Kollegen spinnen!», fiel ich ihm wild gestikulierend ins Wort. «Prüfen die so einen Mist vorher nicht?» Meine Stimme klang schneidend und durchdringend, selbst mir erschien sie einen Tick zu laut. «Anordnung ist Anordnung. Bevor wir die ganze Wohnung auf den Kopf stellen und jeden Winkel durchsuchen, rücken Sie lieber gleich das Datenmaterial heraus.» Der Polizist, der das sagte, ein junger Kerl, schien sich seiner Sache sicher.

«So ein Mistkerl!»

«Ich habe nichts, was ich herausrücken könnte. Was soll das?» Ich war mir keiner Schuld bewusst, fühlte mich aber trotzdem mies. Meine Gedanken rasten, gingen alle Möglichkeiten durch, die zu einem solchen Verdacht geführt haben könnten. Wie kam mein Bruder dazu, mir Datenklau zu unterstellen? Fühlte er sich verletzt, weil ich nicht mehr für ihn arbeitete? Wollte er meiner Selbstständigkeit Steine in den Weg legen? Trotzdem konnte und wollte ich nicht glauben, dass Gernot C. so rücksichtslos reagierte. Das alles musste ein Missverständnis sein.

Die Polizisten machten sich, nachdem ich ihnen wohl keine grosse Hilfe war, an die Arbeit. In Windeseile durchsuchten sie Schubladen, Schränke, hoben Matratzen hoch, nahmen Bilderrahmen von der Wand und verrückten Möbelstücke. Victoria, die sich einen Bademantel über ihr Negligé von Agent Provocateur gezogen hatte, schaute mich tief besorgt an. Wie gerne hätte ich sie jetzt … ach, ist ja auch egal. Ich zuckte frustriert die Schultern, ging kurz ins Badezimmer und zog mich an, während es um mich herum schepperte und polterte. «So ein Mistkerl», murmelte ich vor mich hin, und meinte Gernot C., der mir den ganzen Schlamassel eingebrockt hatte.

Ich stand mittlerweile unschlüssig zwischen Flur- und Wohnbereich. Die Polizistin trug mehrere Laptops an mir vorbei. «Gehören die Ihnen?»

Ich nickte stumm. «Die müssen wir konfiszieren.»

In dem Moment erst realisierte ich die möglichen Auswirkungen dieser Aktion. «Scheisse», rief ich erschrocken und malte mir aus, dass ich die nächsten Wochen, vielleicht sogar Monate, nicht an mein Arbeitsmaterial herankommen würde. Ich geriet in Panik. Meine Existenz. Dachte denn keiner an meine berufliche Existenz? Den USB-Stick, auf dem ich sicherheitshalber die Informationen der Marktstudie noch einmal abgespeichert hatte, würden sie sicher gleich finden. Und so war es auch.

«Abgeführt und verfrachtet»

Einer der Polizisten hielt ihn triumphierend in die Höhe. Nur waren auf dem nicht die Daten, die sie sich erhofften.

«Kommen Sie, wir fahren in Ihr Büro!» Der Polizist, der mich am Bett angesprochen hatte, gab das Zeichen zum Aufbruch.

Ich verabschiedete mich flüchtig von Victoria und nicht so liebevoll, wie ich es gewöhnlich tat, auch die Liebeserklärung, die ich mir vorgenommen hatte, musste warten. Ich folgte den Beamten. Was für ein Tag!

Draussen wurde ich in den Fond des Polizeiwagens verfrachtet. Zwei der Polizisten stiegen vorne ein. Die beiden anderen nutzten ein weiteres Dienstfahrzeug.

Der Fahrer und sein Begleiter blieben stumm. Auch gut. So hatte ich Zeit zum Nachdenken. Aber mein Ärger und meine Wut verhinderten jeden klaren Gedanken. Selbstmitleid und Verzweiflung kamen über mich. Und immer wieder Wut. Diese Art von Wut, bei der man weiss, dass sie nichts bringt und alles nur noch schlimmer macht.

Die Wut war mit Angst vermischt. Gerüchte und vage Behauptungen können Vertrauen und somit Karrieren vernichten. Was, wenn dieser ganze Quatsch an die Öffentlichkeit käme. Ich, ein Optimist durch und durch, war auf Untergangsfantasien eingestellt. Meine Mitarbeiterinnen würden kündigen, mein Vermieter schmiss mich womöglich raus … Ich hasste solche Vorstellungen. Aber sie waren da. Waren in meinem Kopf.

Haarsträubende Szenen tauchten vor meinem geistigen Auge auf. Dinge aus meinem Leben, die ich lieber verdrängt hätte. Ich wollte an etwas Schönes denken, etwas völlig anderes.

Eine alte Ansichtskarte fiel mir ein, ziemlich abgegriffen und an den Ecken eingeknickt, die mir mein Vater einmal gezeigt hatte. Ich interessierte mich schon als Junge für elegante Häuser und exklusive Geschäfte, und er hatte damals gemeint, dass die Hansestadt Elbing an imposanten Gebäuden, Kirchen und Kunstwerken nicht zu überbieten gewesen wäre. Tatsächlich waren die Bauwerke, die ich betrachtete, beeindruckend, die ganze Atmosphäre dort. Und auf einmal befand ich mich in meiner Vorstellung inmitten von historischen Handelshäusern, engen Altstadtgassen und dem Elbingfluss. Ganz so, wie mein Vater es wohl im Jahre 1944 gesehen hatte, bevor er als kleiner Junge seine Heimat verlassen musste.

Mit dreizehn Jahren hatte ich noch keine Ahnung davon, dass «das Geld auf der Strasse liegt» und man sich eigentlich nur «bücken» muss, um es aufzuheben. Und schon gar nicht sprach ich damals so gut Englisch, um die elegantere Version zu verstehen, die da heisst: The streets are paved with gold. Ich war Paperboy, Zeitungsjunge und trug morgens vor der Schule mit dem Fahrrad Zeitungen aus, um mein Taschengeld aufzubessern. Mit vierzehn jobbte ich in den Sommerferien als Tellerwäscher auf der Insel Mainau am Bodensee. Mit fünfzehn verkaufte ich Eis und putzte abends zweimal wöchentlich Böden in der Universität Konstanz. Mit sechzehn versuchte ich mich nachmittags und abends als Barkeeper im Restaurant Mandarin in Konstanz. Ausserdem arbeitete ich in den Ferien in einer Dosenfabrik in Ermatingen Akkord. Mit siebzehn und achtzehn Jahren betätigte ich mich als Küchenjunge im Guten Hirten. Später bediente ich abends und am Wochenende im Restaurant des Hotels Volapük in Konstanz-Litzelstetten, und das, obwohl ich nicht mehr zur Schule ging, sondern in einer beruflichen Ausbildung steckte. Und auch während meines BWL-Studiums war ich nebenbei als Buchhalter in einer Immobilienfirma tätig. Es schien, als ob Geld mich zu einem anderen Menschen machte, selbst verdientes Geld. Ich fühlte mich nach Menschen machte, selbst verdientes Geld. Ich fühlte mich nach Auszahlung des Lohnes stolz. Mein Selbstwertgefühl stieg. Ich bekam Anerkennung, empfand mehr Lebensqualität und wuchs an meiner finanziellen Unabhängigkeit.

Ich wusste lange nicht, was ich beruflich machen sollte oder anders gesagt, in welcher Branche ich meine erste Million verdienen wollte! Denn das war mein Ziel. Ich konnte es als junger Mann noch nicht so schlüssig formulieren. Doch ich spürte, dass es im Universum ein Gesetz der Ordnung und Anziehung geben muss. Ich glaubte an Wohlstand und Glück und liess nicht zu, dass sich gegenteilige Gedanken in meinem Geist festsetzten. Sehr viel später erst lernte ich nicht nur die Höhenflüge von beruflichem Erfolg kennen, sondern auch, wie es sich anfühlt, völlig am Boden zu sein. Irgendetwas musste sich in meinen positiven Gedanken verhakt haben. Aber vielleicht wollte mich das Leben auch nur auf die Probe stellen, denn einfach ist «Erfolg zu haben» nie. Aber unglaublich berauschend.

Ein Blick zurück

Elbing in Westpreussen, am gleichnamigen Fluss gelegen, bezeichnete mein Vater stets als «Schmuckkästchen»: Zahlreiche gotische Kirchen, hübsche Giebelhäuser, ein sehenswertes Markttor, der masurische Oberländische Kanal … Das Haus und Geschäft «Alter Markt 53» gehörte meinem Urgrossvater, dem Goldschmiedemeister Johann Augustin Cyrus Riebe (1863-1945). Er bot unter anderem «Alfenidewaren» an, eine Mischung aus Kupfer, Zinn und Nickel, bei der es sich um eine Art Neusilber handelte. Deshalb stand über dem Laden: «AUGUST RIEBE Gold, Silber & Alfenidewaaren». Waaren mit zwei aa geschrieben. Und unter den Fenstern des zweiten Stocks hiess es noch einmal schlicht: Augustin Riebe. Er war ein Meister seines Fachs und bildete im Laufe der Zeit zahlreiche Goldschmiedegesellen aus, die noch heute in Schriften erwähnt werden.

«Um das Bein nicht amputieren zu müssen, wurde es gekürzt.»

Einer seiner Söhne war Leo Josef Riebe, mein Grossvater. Er arbeitete zunächst als Goldschmiedelehrling und später als Geselle bei seinem Vater. In den 1930er Jahren machte er sich selbstständig und eröffnete sein eigenes Juweliergeschäft in der damals umbenannten Adolf-Hitler-Strasse, zuvor Innerer Mühlendamm. Infolge der Weltwirtschaftskrise musste ein Unternehmer nach dem anderen Insolvenz anmelden, auch mein Urgrossvater wurde zahlungsunfähig, und das schmucke Haus «Alter Markt» musste zwangsversteigert werden.

Leo Riebe, sein Vater beziehungsweise mein Grossvater, war behindert. Das hatte nicht wirklich Auswirkungen auf das Zusammenleben, sollte sich später sogar als hilfreich erweisen. Wie es dazu gekommen war? Leo hatte als elfjähriger Junge mit seinen Freunden auf der Schlittschuhbahn Schabernack getrieben und sich das linke Schienbein angeschlagen. Er verschwieg zunächst das Unglück, bis die Wunde zu eitern begann. Um das Bein nicht amputieren zu müssen, wurde es gekürzt. Die Operation musste fürchterlich gewesen sein, denn sie geschah mangels Narkosemitteln ohne Betäubung. Er wurde kurzerhand auf eine Pritsche geschnallt und konnte nur hoffen, dass der Chirurg schnell und sicher in seinen Handgriffen war. Seither trug er einen Spezialschuh mit Schiene. Das war schon schlimm genug. Doch der Eiter hatte sich bereits durch seinen Körper gefressen. Sein rechtes Auge war angegriffen worden. Es lief aus und musste durch ein Glasauge ersetzt werden.


Juweliergeschäft von Augustin Riebe in Elbing, Westpreussen

Der Zweite Weltkrieg machte auch vor Elbing nicht halt. Die Russen rückten näher und mein Grossvater Leo bereitete im November 1944 die Flucht der Familie vor. Oma Gertrud, im Freundeskreis Lache-Trudchen genannt, weil sie ein sonniges Gemüt hatte und immerzu gute Laune versprühte, brach mit den Kindern Gernot C., dem Zwillingsbruder Manfred sowie Tochter Erdmute mit dem Zug Richtung Westen auf. Die Reise war als «Besuch bei Freunden» getarnt, bei Menschen, die es tatsächlich gab und die Familie erwarteten. Mein Grossvater, der wegen seiner Behinderung als Berufsschullehrer eingesetzt und zwangsverpflichtet worden war, sollte weiterhin die Stellung halten. Er erlebte später das ganze Ausmass einer überstürzten Flucht und brach erst gen Westen auf, als die Russen im Januar 1945 die Stadt mit Kanonen beschossen und die ersten Panzer Kurs auf Rathaus und Innenstadt nahmen.

Über Steglitz, Burg und Magdeburg gelangten sie alle gemeinsam nach Ostberlin. Von dort flohen sie nach dem Krieg in den Westsektor, wo mein Grossvater in Wilmersdorf eine Zweizimmerwohnung organisiert hatte. Ein Glück und eine Rarität. Das Leben, der Stolz, eine Zukunft – alles war unter enormen Trümmerbergen begraben. Zurück blieb nur die Pflicht des unbedingten Weitermachens, und der kamen meine Grosseltern beherzt nach.

«Eines Tages entdeckte Leo ein freies Ladengeschäft direkt am Konstanzer Bahnhof»

Grossvater Leo machte sich keine unnötigen Gedanken. Er vertraute auf sich und sein Können. Von Prophezeiungen oder gar Zukunfts-voraussagen hielt er nicht viel, auch wenn er sich für Astrologie interessierte. Über dieses Interessengebiet kam er mit einer Wahrsagerin in Kontakt, die ihm voraussagte, bald an ein «grosses Wasser» zu gelangen. Nun gut, er war Segler, er konnte schwimmen, so abwegig war das nicht. Eines Tages las er in der Zeitung das Inserat einer Geschäftsfrau, die einen kleinen Uhrenladen in Konstanz am Bodensee abzugeben hatte. Danach ging alles sehr schnell: Ausweispapiere besorgen, Wohnung auflösen, die Kinder aus der Schule nehmen und die Anfahrt organisieren.

Bald standen sie wieder am Bahnhof Friedrichstrasse, diesmal auf der richtigen Seite, nämlich im Westen. Es war der Tag der Abreise. Die Taschenuhr meines Grossvaters tickte. Die Zeiger rückten stetig voran. Alles an ihm war angespannt und freudig erregt. Sie würden in eine neue Zukunft aufbrechen. Wahrscheinlich war er glücklich. Ja, er war glücklich.

Ich weiss nicht, in welcher Form die Familie erstmals in Kontakt mit Einheimischen kam. Doch als der Zug durch den Schwarzwald fuhr, wunderten sie sich, weil sie kein Wort verstanden und dachten, sie seien im «Urwald». Das mag eine seltsame Beschreibung sein für eine Sprache, vo uugfähr zäe Millione Mänsche gredet wird. I de Schwyz kennt mers als Schwyzerdütsch, z Frankriich heissts Elsässerditsch. Aber klar, Alemannisch klang zunächst fremd für eine Familie, die gewohnt war, Hochdeutsch zu sprechen.

 

Die Sprache stellte womöglich das Hauptproblem und den Grund dar, warum sie sich in Baden-Württemberg fremd fühlten, als Aussiedler eben. Selbst bei der Einschulung war sie ein Hindernis. Den Kindern fehlten Französischkenntnisse, mit Russisch, das sie als erste Fremdsprache gelernt hatten, konnten sie im Westen nichts anfangen. Sie wurden zwei Klassen zurückgestuft – eine herbe Enttäuschung. Aber auch die Bevölkerung ging nicht immer sanft mit den Zuwanderern um. Und wenn es Hart auf Hart kam, war man schnell dabei mit einem: «Dann geht halt dorthin zurück, wo ihr hergekommen seid!»

Grossvater galt als sympathischer, freundlicher und umtriebiger Mensch. Ein Mann der Tat eben. Er kümmerte sich um eine Unterkunft, brachte den Uhren- und Schmuckladen auf Vordermann und trat dem Verein Bodan-Badenia bei, einem Vorläufer des heutigen «Sinfonischen Chores Konstanz», Er gab als Tenor sein Bestes.

Nun endlich schienen die Riebes in der Konstanzer Gesellschaft angekommen zu sein. Doch sie waren arm. Jedenfalls im Vergleich zu den anderen Familien, die weder Heimat noch Besitz verloren hatten. Die Stadt war von den alliierten Bombenangriffen aufgrund der Nähe zur Schweizer Grenze verschont geblieben.

Mein Grossvater hatte kein Vermögen und auch keine finanziellen Rücklagen, doch er besass ein Ladengeschäft, Schmuck und Wertgegenstände. Trotzdem war Geld immer knapp. Grossvater erhielt keinen Bankkredit, vor allem, weil er schwerbehindert war. Der Einkauf lief Ware gegen Wechsel.

Dem schmalen Budget musste sich so manch notwendige Anschaffung beugen. Und da sich meine Grosseltern keine Sicherheitsgitter vor den Schaufenstern leisten konnten, legten die Kinder abends die wertvolleren Gegenstände in Samtetuis, packten sie in einen Rucksack und brachten das kostbare Gut mit dem Fahrrad nach Hause.

Eines Tages entdeckte Leo während einer seiner Streifzüge durch die Stadt ein freies Ladengeschäft direkt am Konstanzer Bahnhof. Es war sechzig Quadratmeter gross und viel repräsentativer als das alte. Obwohl er über keinerlei finanzielle Rücklagen verfügte, entschied er, den Laden zu übernehmen und ausbauen zu lassen. Das Geld hierfür beschaffte er, indem er sich seine angesparte Rente auszahlen liess.

Das neue Geschäft war schön, hell und geräumig. Leider fehlten auch hier die Schutzgitter, sodass mein Vater, damals vierzehn Jahre alt, in den Räumen übernachtete. Freiwillig, wie er mir gegenüber immer wieder versichert hat.

Der Schmuckladen lief gut. Grossvater verkaufte viele preiswerte Sachen: Andenken, Silberlöffel mit Wappen und Ähnliches. Obwohl keine Miete gezahlt werden musste (die Deutsche Bundesbahn als Vermieter bekam zehn Prozent vom Umsatz), war Geld im Hause Riebe nach wie vor knapp. Leo arbeitete deshalb zusätzlich als Lehrer an verschiedenen privaten Handelsschulen, während seine Frau sich um den Verkauf kümmerte. Nach der Schule halfen die Kinder mit und später kamen zwei Lehrlinge hinzu.

Zum Dienst fuhr Grossvater wegen seiner Behinderung mit einem Spezialrad. Einmal im Winter rutschte er aus. Oberschenkelhalsbruch. Für das Geschäfts- und Familienleben eine Katastrophe.

Meinem Opa, kein Mann des Stillstands, fiel eines Tages ein stattliches Haus in der Bahnhofstrasse auf, das ihm gut gefiel. Er behielt es im Blick, und als sich die Möglichkeit bot, es anzumieten, griff er zu und liess das Erdgeschoss umbauen. So entstand ein grosses, repräsentatives Ladengeschäft mit rund zweihundert Quadratmetern. Ein enormer Fortschritt gegenüber dem vorherigen, da er jetzt sehr viel mehr Ware präsentieren konnte, was gesteigerten Umsatz und höheren Gewinn versprach.

Und dann verstarb mein Grossvater Leo Josef Riebe mit einundsechzig Jahren an einem Herzinfarkt, möglicherweise auch Hirnschlag. Jedenfalls an einer plötzlichen, lebensbedrohlichen Erkrankung, Vielleicht hätte man ihm helfen können. Doch es hielt sich niemand in der Nähe auf, der einen Krankenwagen hätte rufen können. Und meine Grossmutter war dank des Mütter-Genesungswerks zur Kur. Eine Verstrickung unglücklicher Umstände.

Die Trauer der Hinterbliebenen galt nicht nur einem Mann, der seine Familie über alles geliebt hatte. Sie galt auch einem frechen Kerl, der einst von der Schule geflogen war und es dennoch als Multitalent und Autodidakt zu beträchtlichen beruflichen Erfolgen gebracht hatte. Er war ein Genie, eine Person mit herausragenden Talenten auf vielen Gebieten gewesen, sei es als Gold- und Silberschmied, Lehrherr und Ausbilder, als Pädagoge, Juwelier, Fotograf, Sänger, Klavier-, Bratsche-, Cello- und Orgelspieler, als Dirigent, Organisator, Segler und Schwimmer, Hobbyastrologe, Skat- und Schachspieler, Laienrichter und Schöffe, Mitglied im Bodan-Badenia-Männerchor, Vorsitzender der Heimatvertriebenen Konstanz. Dazu ein begnadeter Redner, Familienmensch und stolzer Vater dreier Kinder. Er besass eine blitzschnelle Auffassungsgabe, viel Idealismus und eine Menge Ideen. Er war allseits bekannt und beliebt. Ein Kerl, von dem mein Vater stets mit Stolz erzählt, und den ich, hätte ich ihn kennengelernt, bestimmt von Herzen gemocht hätte. Eines haben mein Vater und ich jedoch gemeinsam: Respekt für einen Mann, der trotz Invalidität seine Talente genutzt und niemals aufgegeben hat!

Meinem Vater, der eine Banklehre abgeschlossen hatte und in der Schweiz arbeitete, ging der Tod meines Grossvaters sehr nahe. Ich glaube, dass er sich von dem Moment an verantwortlich fühlte. Was würde mit dem Juweliergeschäft geschehen, von dem das Wohlergehen der Familie abhing? Seine Mutter bat ihn, zurückzukommen und den elterlichen Betrieb in Konstanz weiterzuführen. Sicher hatte mein Vater andere Pläne. Vielleicht war ein Nein auch nicht so einfach auszusprechen, wie es geschrieben steht. Und dann sein Pflichtbewusstsein im Andenken an den Vater. Also sagte er Ja, auch wenn das Geschäft hoch verschuldet war und von Gewinn erst einmal keine Rede sein würde.

Er entwickelte sich zu einem arbeitsamen, fortschrittlich denkenden Geschäftsmann, neuen Verkaufsideen gegenüber aufgeschlossen. Sein Engagement endete abrupt, als seine Mutter ihn eines Tages zur Seite nahm und meinte, nun müssten sie daran denken, die beiden Geschwister auszuzahlen. Was hier zunächst logisch klingt, löste bei meinem Vater grosses Unverständnis aus. Er war, wie er mir später erzählte, unter der Bedingung aus der Schweiz zurückgekommen, das Geschäft einmal zu übernehmen! Hätte er seine Geschwister ausbezahlt, wäre seine bisherige Arbeitsleistung umsonst gewesen. Er hätte bei null beginnen müssen, was einem Neuanfang gleichgekommen wäre.

Das frustrierte ihn, anders kann ich es nicht sagen. Acht Jahre lang hatte er alles für das Familienunternehmen gegeben, auch, damit seine beiden Geschwister nach dem Tod des Vaters weiter studieren konnten, und jetzt das! Die ganze Angelegenheit hinterliess bei meinem Vater einen schalen Beigeschmack. Er hielt noch ein weiteres Jahr durch. Danach beschloss er, eigene Wege zu gehen, auch weil seine Geschwister auf einer Auszahlung beharrten.

Für meine Grossmutter war das eine unschöne Situation. Doch sie dachte nicht daran aufzugeben, und führte den Laden mit Hilfe einer Fachkraft weiter, die bereits bei ihr in Ausbildung gewesen war. Sie verlegte die Räumlichkeiten von der Bahnhofstrasse 6 in die Bodanstrasse 32. Und als es schliesslich zum Verkauf kam, übernahm sie die Verhandlungen in eigener Regie. Ob wirklich erfolgreich, bezweifelt mein Vater. Er meint, dass den eigentlichen Reibach der Nachfolger mittels «Totalausverkauf» machte. Er hätte verstanden, die stillen Reserven auszuschöpfen, die meine Grossmutter seiner Meinung nach verspielt hatte.

Mein Vater war enttäuscht, wusste jedoch, dass er letztendlich nichts an der Situation ändern konnte. So beschloss er, im zweiten Bildungsweg zu studieren und seinen Abschluss als staatlich geprüfter Betriebswirt zu machen. Darüber hinaus war er mittlerweile verheiratet und Vater von zwei Kindern. Ich als Erstgeborener und mein jüngerer Bruder Gernot C. waren auf der Welt, drei weitere Geschwister sollten folgen.

Ich war sechs Jahre alt, mein Vater hatte sein Studium abgeschlossen und arbeitete als stellvertretender Leiter der Stadtkasse Meersburg, da sah ich ihn eines Tages Wahlplakate von Dr. Horst Eickmeyer anschleppen. Dieser hatte sich als Oberbürgermeister für Konstanz beworben, und mein Vater unterstützte ihn, zumindest in meiner Erinnerung. Denn ich sehe ihn in Gedanken noch vor mir, wie er an Ständen aktiv Wahlkampf macht. Wenige Jahre später kündigte er seine Festanstellung, gründete City-Immobilien- und Wohnbau GmbH, gefolgt von weiteren Unternehmen. Mut zum Risiko lag in unserer Familie, der Wunsch, eigene Ideen zu verwirklichen, Vermögen zu schaffen und gutes Geld zu verdienen.

Davon war ich allerdings noch weit entfernt. Ich hatte als Junge völlig andere Probleme. Zum Beispiel fand ich meinen kleineren Bruder Gernot C., der eineinhalb Jahre jünger war als ich, ziemlich anstrengend. Während unserer Vorschulzeit hängte er sich wie eine Klette an mich, wollte überallhin mit und mit meinen Freunden spielen. Der Beginn eines Konfliktes, dessen Auswirkungen noch heute zu spüren ist.

Aber auch mit den Lehrern kam ich nicht klar, besonders während der Zeit auf dem Gymnasium. Ich denke hier an Frau Dr. R., bei der wir Latein- und Religionsunterricht hatten. Ethik gab es damals noch nicht als Unterrichtsfach, und ich musste mir anhören, dass Gott die Welt in sieben Tagen erschaffen hat, die Geschichte von Adam und Eva, dem Sündenfall, der Erbsünde und dergleichen biblischen Geschichten … Ja, ich dachte: Das ist doch völliger Quatsch. Wobei ich mir durchaus Gedanken machte. Diese Unausweichlichkeit der Sünde beschäftigte mich. Ich wollte darüber diskutieren. Wie war es möglich, dass ich als Mensch unentrinnbar von einer göttlichen Erlösung abhängig sein sollte? Und dann die Sache mit Jesus: Wie konnte ein vermeintlich liebender Gott-Vater seinen eigenen Sohn der Folter ausliefern. War das nicht absurd? Hätte Gott die Menschen nicht grundsätzlich so erschaffen können, dass es einer Sühne erst gar nicht bedurft hätte? Oder sollten wir alle einen Schuldkomplex bekommen?