Buch lesen: «Die flüsternde Mauer»
Manuela Tietsch
Die flüsternde Mauer
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Inhaltsverzeichnis
Titel
Gedanken
Prolog
Allein im Dunkel
Sorgen
Nicht allein
Die geheime Tür
Unauffindbar
Nicht von dieser Welt
Seyd gegrüsset
Ein Scherz?
Neue Welt
Sarwiga
Das Schwein
Wo bist du?
Falsche Richtung
Unterwelt
Ein Rätsel
Neun Steine
Wieder in der Höhle
Was für ein Leben?
Der Magier
Auf dem Weg zu Sarwiga
Die wilden Schweine
Sarwigas Rache
Was für eine Frouwe?
Kein Hinweis
Sunhild
Askwins Burg
Misstrauen
Hoffnungslos
Genugtuung
Das zweite Leben
Das Zeichen
Über Manuela Tietsch
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Impressum neobooks
Gedanken
Solange Menschen denken,
dass Tiere nicht fühlen,
müssen Tiere fühlen,
dass Menschen nicht denken.
(Verfasser unbekannt)
Prolog
Askwin hielt einen Augenblick inne, nahm die Hand von der Holzbank fort. Er täuschte sich nicht, sie war hinter ihm her und sie würde ihn finden, egal wo er sich versteckte. Wenigstens war der Stein in der Holzscheibe hier sicher versteckt, so sicher, wie er eben in der Eile versteckt sein konnte. Die Bank war das Beste, was er auf die Schnelle finden konnte und es war so offensichtlich, dass niemand ein Versteck darin vermuten würde! Er lehnte sich an die Mauer und starrte auf die Tür zur Halle.
Sein Körper zuckte zusammen, als Sarwigas Stimme vermeintlich zärtlich neben ihm zu säuseln begann. Wie war sie unbemerkt neben ihn getreten? Er wandte sich erschrocken um und starrte in die kalten Augen der schönsten Frau, die er jemals gesehen hatte. Unwillkürlich begann sein Körper zu zittern. Hatte sie gesehen, wie er die Scheibe versteckt hatte? Er betete inständig es möge nicht so sein.
„Nun, Askwin, wollet ihr mir nicht zumindest meynen Steyn wiedergeben? Wenn ihr meynen Reyzen nicht geneyget seyd, gut, das könnt ich gar nicht ändern, doch meyn Eygentum, das wollt ich zurückhaben!“
Wenn er ihr den Stein zurückgab, hatte er kein Druckmittel mehr. Er musste ihr viel bedeuten, viel mehr, als er geglaubt hatte. Um sein Leben zu retten, musste er ihn hüten wie seinen Augapfel. Er schüttelte den Kopf verneinend.
„Ihr meynet ihr könnet mich eynschüchtern?“ Sie lächelte höhnisch, überheblich. „Das hätten schon mehr getan und fraget nicht, wo diese sich inzwischen befinden!“
Sicher waren sie tot, daran zweifelte er nicht einen Augenblick! Nur mit Mühe brachte er schließlich die Worte heraus: „Ich werde ihn gar verwahren. Ihm sollt nichts geschehen, doch zu meyner Sicherheyt, sollet ihr ihn erst wieder zurückerhalten, wenn ich sicher seyn könnt, dass ihr mir keynen Schaden mehr antun wollet!“
„Euch Schaden? Askwin, ich wollt doch ganz anderes von euch, das wisset ihr doch?“ Sie trat noch näher, dass er ihren kalten Atem an seinem Hals spürte und strich mit ihrem Daumen, dessen Fingernagel beinahe halb so lang war wie der Daumen selber, unter seinem Kinn entlang. Er fragte sich in diesem Augenblick, weshalb ihr Atem kalt war und nicht heiß, wie er hätte sein müssen.
Ein kalter Schauer überlief seinen Rücken und seine Hände wurden eiskalt. Und wenn sie noch so schön war, einen noch so anziehenden Körper besaß, er würde ihren Reizen nicht erliegen. Er schüttelte erneut den Kopf.
Ihre Gesichtszüge, die bis eben noch schmeichelnd, freundlich gewesen waren, veränderten sich schlagartig. Ein gefährlich drohender Ausdruck erschien in ihren Augen. Ihre Lippen verzogen sich zu einem dünnen Strich. Sie hob drohend den Arm und spreizte ihre Finger.
Die Tür zur Halle öffnete sich, Farald und seine Mutter traten in den dunklen Gang. Farald hielt die Fackel nach vorne, um seiner Mutter zu leuchten. Askwin überfiel Angst. Wenn Sarwiga ihnen etwas antun würde, er würde es nicht ertragen. Doch er versuchte seiner Gefühle wieder Herr zu werden, so schnell wie sie gekommen waren, damit Sarwiga ihn nicht durchschaute.
Sarwiga war einen winzigen Augenblick verwirrt, doch sie fing sich schnell wieder. Sie sah zu den beiden, dann wieder zu ihm, und ein gemeines Grinsen überzog ihre Lippen.
„Glaubet ihr gar, die beyden könnten euch helfen?“ Sie lachte auf.
Askwin schaute zu seiner Mutter und seinem Bruder, die inzwischen beinahe bei ihnen angekommen waren. Farald lächelte und fragte nach: „Askwin?“
Sarwiga wandte sich wieder um. Sie hob beide Arme und spreizte die Finger der linken Hand, während sie die rechte zur Faust ballte, als hielte sie etwas darin. Sie wischte in der Luft herum, wedelte mit den Armen umher.
Ihm wurde schlecht. Er sah wie sein Bruder und seine Mutter die Augen kurz verdrehten und daraufhin die Lider schlossen, ehe sie nebeneinander auf den Boden fielen. Was hatte Sarwiga ihnen angetan? Er versuchte an ihre Kehle zu kommen. Er würde sie mit seinen bloßen Händen erwürgen! Plötzlich musste er innehalten. Seine Hände und seine Arme, sein ganzer Körper gehorchten ihm nicht mehr. Erschrocken sah er in Sarwigas gehässiges Gesicht.
„So du nicht tuest, was ich wollt, wirst du fühlen, was es heißt, Sarwiga zu trotzen!“ Sie spreizte die Finger beider Hände erneut, soviel nahm er noch wahr, unfähig zu einer einzigen Bewegung. Am Boden lagen Farald und seine Mutter. Sein Herz klopfte heftig.
„Du wirst slafen, solange ich es wollt! Und du wirst slafen unter den Augen derer Menschen, die dir wichtig seyn und denen du wichtig seyst! Doch glaub mir, meyn Guter, niemand wird dich gar sehen, noch erretten können, soviel der Liebe gäb es gar nicht!“ Sie kreischte ohrenbetäubend. Ihm wurde schwarz vor Augen, doch seltsamerweise spürte er trotzdem, was sie ihm antat. Er spürte jeden Stein, der sich um ihn festigte, als würde er damit beworfen werden. Trotzdem brachte er nicht einen einzigen Schreckensschrei über die Lippen. Die Einsamkeit umfing ihn.
Allein im Dunkel
Ein eisiger Lufthauch zog durch die Dunkelheit. Ich umarmte mich zitternd, trotzdem wurde mir nicht wärmer. Ich musste mich in einem Keller befinden oder in einem geheimen Gang? Völlige Finsternis, ich konnte nichts erkennen, nicht einen winzigen Lichtstrahl. Die Luft roch – und schmeckte muffig, abgestanden. Ich brauchte die Pilze, Sporen und Keime nicht zu sehen, um zu wissen, dass sie da waren. Selbst der Fußboden war glitschig feucht und stank. In diesem Raum hatte sich sicher seit Jahrhunderten kein menschliches Wesen mehr aufgehalten. Ich befühlte die Beule an meinem Kopf.
Der Sturz war heftig und die Landung noch mehr. Wie lange war ich wohl bewusstlos gewesen? Das Zeitgefühl war wie weggeflogen.Verdammmt, warum hatte ich mein Handy im Zelt gelassen? Meine Knochen taten weh, morgen hatte ich sicher überall blaue Flecken. Vermutlich hatte ich sie auch jetzt schon? Ich legte den Kopf in den Nacken, oben müsste doch die Öffnung zu sehen sein, durch die ich gefallen war? Nichts, nur Dunkelheit und Stille. Unheimliche Stille. Ich streckte die Arme aus und tastete suchend nach meinem Rucksack, er lag neben mir. Schritt für Schritt ging ich weiter vorwärts. Da stieß ich schon an eine Mauer. Meinen Ekel vor dem Unüberschaubaren überwindend tastete ich mich weiter an der Wand entlang bis zu einer Ecke. Und zur nächsten. Langsam ging es weiter, eins, zwei, drei, vier und beinahe fünf Schritte. Also etwa vier Meter, denn meine Schritte waren nicht ganz einen Meter lang. Weiter und wieder zählen. Eins, zwei, drei, vier. Ein viereckiger Raum, etwa vier Meter auf jeder Seite. Zur Sicherheit ging ich auch noch die nächste Wand entlang bis zur Ecke und weiter. Plötzlich war die Wand weg, ich stürzte beinahe nach vorn ins Leere, fing mich, hielt inne und atmete tief ein und aus. Das konnte nur bedeuten, dass hier ein Gang war und er weiter führte. Der Raum war also nur Teil oder Abschluss eines Ganges. Ich kniete mich vorsichtig auf den glitschigen Boden und tastete den Türbogen ab. Tatsächlich eine Tür. Und es gab auch einen Boden auf der anderen Seite, ich würde nicht in die dunkle Tiefe stürzen. Auf den Knien rutschte ich weiter, die Arme und Hände nach vorn gerichtet, eine auf dem Boden entlangtastend, die andere nach vorn ausgestreckt. Noch langsamer als zuvor kroch ich auf dem Boden vorwärts, zwischendurch fasste ich mit einer Hand die Wand an, die andere blieb am Boden. Die Zeit war nicht einzuschätzen. Schließlich gelangte ich an das Ende des Ganges. Meine Hand tastete ins Leere. Ich folgte der Wand um die Ecke und weiter bis zur nächsten. Es musste sich um einen weiteren Raum handeln, so groß wie der andere. Ich kroch weiter im Viereck, bis ich zum Eingang des Ganges zurückkam.
Also zwei Räume etwa vier mal vier Meter, verbunden durch einen beinahe zehn Meter langen Gang. Wie eigenartig. Handelte es sich um einen vergessenen oder unbenutzten Flur der Burg? Allmählich drang die Erkenntnis durch: Es gab keine Tür! Ich war gefangen. Niemand hatte gesehen, wie ich die runde Holzscheibe in die Wand gedrückt und sich die Tür darin geöffnet hatte, geschweige, dass ich dahinter verschwunden war. Niemand würde mich hier suchen. Wusste denn jemand von diesem Gang, der geheimen Tür und dem geheimnisvollen Scheibenschlüssel aus Holz?
Ich musste an den Augenblick denken, als ich ihn vor vielen Jahren gefunden hatte. Nur weil ich näher an die Wand getreten war, um das Flüstern deutlicher zu hören und um wahrzunehmen, woher es kam, war ich an die Holzbank gestoßen, und nur deshalb war der Schlüssel aus seinem Versteck gefallen. Hätte ich ihn bloß niemals eingesteckt! Ich hatte ihn viele Jahre als meinen geheimen Schatz behalten und nie jemandem davon erzählt! Es wäre wohl doch besser gewesen, ich hätte ihn schon damals, als ich ihn gefunden hatte, zurück an die Burgbesitzer gegeben!
Hatte ich womöglich mit meinem ausgeprägten Erkundungssinn und meiner Neugier etwas entdeckt, was seit Jahrhunderten niemand mehr betreten hatte? Mir war, als greife eine eisige Hand nach mir. Ich setzte mich trotz des Ekels an die Wand neben dem Gang und versuchte mich zu beruhigen. Im Kopf ging ich den Weg nach, den ich durch die Burg gelaufen war und mit einem Mal kam die Erinnerung zurück. Ich musste an meinen ersten Besuch auf der Burg denken, als meine Mutter, mein Vater und mein Bruder noch glücklich und lebendig waren. Auch damals war ich unbefangen durch die Gänge und Flure gelaufen. Ich hatte damals wie heute, wie jedes Mal, wenn ich hier zur Burg kam, alles gierig aufgesogen. Nur leider hatte ich dabei vergessen, mich nach geheimen Gängen zu erkundigen!
Zuerst die große Halle, dann den kleinen Gang entlang und nach rechts in den breiteren. Er hatte einen Knick gemacht und war, wenn ich meinem Ortssinn trauen durfte, beinahe wieder zurück in Richtung Halle verlaufen. Also müsste auch dieser Gang noch nahe der Halle sein. Jäh fiel mir auf, was ich längst hätte bemerken müssen, doch ich hatte es völlig verdrängt. Als ich damals die Scheibe gefunden hatte, lag diese bei der Geheimtür. Nur wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts von einer geheimen Tür, oder davon, dass dieses Holzstück mit den geheimnisvollen Zeichen darauf und dem eingefassten Stein darin ein Schlüssel dafür war.
Wenn ich gegen die Wand schlug und laut rief, vielleicht hörte mich jemand mit guten Ohren? Mir war ganz mulmig zumute. Und wenn ich viel länger ohnmächtig dort gelegen hatte? Womöglich war die Besuchergruppe längst wieder draußen im Hof. Und selbst wenn Mattes und Luisa mich vermissten, so wussten sie doch nicht, wo sie suchen sollten. Schließlich war ich wie vom Erdboden geschluckt. Vermutlich glaubten sie, ich wäre zum Lager zurückgekehrt? Ich schloss die Lider, meine Beule pochte. Wenigstens war es keine Platzwunde. Ich war doch nicht zum ersten Mal hier in der Burg zu Besuch, ich war zu neugierig. Dieses Wispern hatte mich verrückt gemacht. Jedes Mal, wenn ich vor der Wand in dem Gang gestanden hatte, hörte ich es, wie ein Raunen. Selbst wenn ich zu Hause war, ließ mich das Flüstern nicht los, ich musste immerzu daran denken. Und warum nur zog mich diese Burg so stark an? Und warum diese Wand? Hätte nicht jemand anderes den Schlüssel finden können? Einer, der ihn brav zum Burgführer getragen hätte!
Es gab viel schönere Burgen, weshalb wollte ich immer nur wieder hier her? Ich rieb meine Oberarme, wenn es nur nicht so kalt wäre. Mein Magen knurrte und ich hatte Durst. Wie lange musste ich wohl hier ausharren? Wann würden sie auf den Gedanken kommen, mich hier zu suchen? Mir blieb anscheinend viel Zeit zum Nachdenken! Würden sie womöglich niemals darauf kommen?
Es war mir ein Leichtes im Geiste den Weg durch die Burg zu gehen. Ich lächelte, während mir die Tränen in die Augenwinkel schossen. Nie wieder würde ich mit meinen Eltern oder meinem Bruder diese Burg besuchen und auch keine andere mehr. Ich vermisste sie so sehr! Beinahe konnte ich die warme Hand meiner Mutter spüren oder die starken Arme meines Vaters.
Ich hatte ihnen niemals von dem Ritter auf dem Bild erzählt oder von der flüsternden Mauer oder der merkwürdigen Holzscheibe, die sich als Schlüssel entpuppt hatte. Hätte ich es bloß getan, nun war es zu spät! Und trotzdem, jedes Mal, wenn ich hier herkam, führte mein Weg zuerst zum Bild des jungen Ritters ohne Namen und noch immer schien er mir etwas sagen zu wollen.
Wahrscheinlich hatte ich mich schon im ersten Augenblick in ihn verliebt. So lächerlich das auch war, sich in das Bildnis eines Mann zu verlieben, der dazu noch in eigentümlicher mittelalterlicher Art gemalt war. Er war schon seit Jahrhunderten tot. Hatte vermutlich niemals wirklich gelebt. Ich war ein verträumtes, sehr junges Mädchen mit verklärten Vorstellungen gewesen. „Ritter ohne Namen“ war der Titel unter dem Bild. Seltsam, ich konnte mir dieses Bild so genau ins Gedächtnis rufen, als stünde ich vor ihm. Der Ritter ohne Namen hatte dunkelrotbraune Haare und grüne Augen. So grün, wie ich niemals zuvor Augen gesehen hatte. Sicher hatte sich der Maler daran ausgetobt, niemand konnte in Wahrheit so grüne Augen haben. Der Ausdruck des Ritters war das schlimmste an dem Bild. Er sah so traurig aus, als trüge er die Last der ganzen Welt auf seinen Schultern. Und jedes Mal, wenn ich von dem Bild fortging, hatte ich das schreckliche Gefühl, ihn, den Ritter ohne Namen, zu verraten! Lächerlich, ich kannte ihn nicht einmal und er hatte sicher zu einer Zeit gelebt, von der ich nur träumte.
Inzwischen war ich nicht mehr verträumt, sondern abgeklärt und trotzdem lief es mir heiß den Rücken hinunter und Schmetterlinge tanzten in meinem Bauch, wenn ich in die gemalten Augen des Ritters blickte. Wie gut, dass ich den geheimen Gang nicht schon damals entdeckte, hatte wahrscheinlich wäre ich gleich gestorben vor Angst.
Ich war müde, nicht müde genug allerdings, um schlafen zu können. Und mit meinen Gedanken trieb ich die Angst vor dem Eingesperrtsein nicht davon, ich drängte sie nur zur Seite. Mir fiel ein, die Mitte des Raumes hatte ich noch nicht erkundet. Vielleicht war ja keine zwei Meter von mir entfernt eine Treppe oder ein Aufgang? Vorsichtig schob ich mich von der Wand weg, immer die Hände suchend und den Boden abtastend nach vorn gestreckt. Es dauerte nicht lange, bis ich auf die Wand gegenüber stieß. Es gab nichts in der Mitte, außer Leere. Ich konnte doch nicht so untätig darauf warten, dass sie mich suchten und hoffentlich fanden! Ich musste etwas unternehmen. Aber was? Ich beschloss, wieder in den anderen Raum zu gehen und auch diesen einmal zu durchkreuzen. Schritt für Schritt ging ich den Gang wieder zurück.
Als ich gefühlt etwa die Hälfte erreicht hatte, hörte ich es wieder, und mein Herz setzte einen Schlag aus. Da war es wieder, das Flüstern. Es war ganz deutlich wie bei meinem ersten Besuch in der Burg. Ich zitterte, kroch dennoch näher an die Wand, von wo ich das Flüstern zu hören glaubte. Es hörte sich unglaublich leidend an. Und so unerwartet, wie ich es hörte, war es auf einmal wieder weg. Ich lehnte mich an die Wand. Ich würde durchdrehen, noch bevor ich verhungerte oder verdurstete, soviel war sicher. Ich wandte mich um, der Mauer zu und legte die Hand tastend darauf. Als meine Finger über die kühlen Steine und die Fugen wanderten, spürte ich, wie sich der Mörtel löste. Leise fiel er bröckelig auf den Boden. Mein Herz begann zu rasen. War hier eine lockere Stelle? Ein Ausgang oder wenigstens die Gelegenheit, Hilfe zu rufen? Lose Steine! Das konnte meine Rettung sein. Befand sich auf der anderen Seite der Gang in die Freiheit?
Ich begann mit den Fingern den feucht krümeligen Mörtel fortzukratzen. Das Gefühl war schaurig und trieb mir eine Gänsehaut über den ganzen Körper. Ähnlich einem Fingernagel, der über eine Tafel kratzt. Doch das Geräusch des herunterfallenden Mörtels gab mir andererseits auch Hoffnung. Meine Fingerspitzen taten schon nach kurzer Zeit furchtbar weh. Da erst fiel mir mein Taschenmesser ein, mit ihm würde ich es leichter haben. So kratzte und kratzte ich, bis schließlich der erste Stein so locker war, dass ich ihn herausziehen konnte. Er war schwer und fiel mir beinahe aus den schmerzenden Händen. Ich tastete mich nach vorn an das entstandene Loch im Mauerwerk. Mutig trotzte ich meiner Angst und schob die Hand hinein. Was würde ich auf der anderen Seite finden? Rettung? Einen weiteren Gang?
Meine Enttäuschung war riesig. Es hatte nichts gebracht. Hinter der Mauer war noch eine. Wie viele Steine musste ich wohl herauskratzen, bevor ich Rettung fand? Es war hoffnungslos. Ich ließ mich an der feuchten Wand heruntergleiten und blieb sitzen. Ich konnte nichts gegen die Tränen tun. Ich war so enttäuscht. Alles umsonst, die Arbeit, die Schmerzen! Na und! Ich spürte den Trotz in mir wachsen. Na und, ich hatte heute nichts Besseres vor, oder? Ich schniefte, während ich aufstand. So schnell würde mich so eine blöde Wand nicht fertigmachen. Ich schabte weiter! Und schabte und kratzte und schabte und hob schwere Steine aus der Wand. Nach dem siebten schien mir das Loch groß genug, um an der Mauer dahinter weiter zu kratzen. Ich tastete mich durch das Loch und befühlte die zweite Mauer. Sie schien frischer, fester als die erste. Womöglich würden mir eher der Schlüssel und die Finger brechen, als dass ich dort auch nur einen einzigen Stein lösen könnte? Es half nichts, ich hatte keine Wahl. Ich war mir sicher, keiner kannte den geheimen Gang, den ich durch meine Neugier und mit Hilfe der Holzscheibe entdeckt hatte. Dass ich es gewesen war, welche diese seltsame Scheibe, diesen Schlüssel, gefunden hatte, nach all den Jahren, die sie dort vermutlich gelegen hatte, grenzte schon an ein Wunder. Ich würde hier verrotten, wenn ich mir nicht selber half.
Ob meine Finger schon blutig waren? In der Dunkelheit konnte ich das nicht sehen, und das war gut so. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich den ersten Stein soweit gelockert hatte, dass ich ihn ein wenig, eine Winzigkeit bewegen konnte. Gleichwohl bewegte er sich und das gab mir erneut Hoffnung. Die aufkommenden Ängste überging ich tapfer und kratzte immer weiter und weiter. Nach einer Ewigkeit schaffte ich es tatsächlich den Stein herauszuziehen. Ich spürte trotz des Schlüssels meine Finger kaum noch. Müde ließ ich den kleineren Stein fallen und setzte mich gleich daneben. Ich wollte schlafen und zu Hause wieder erwachen. Ein böser Traum hatte Besitz von mir ergriffen und schien sich über mich lustig zu machen. Ich versuchte, mich auszuruhen und Kraft zu tanken und vermied an irgendetwas anderes zu denken, als daran, Steine aus Mauern zu lösen. Ich holte meine Wasserflasche und trank langsam ein paar Schlucke. Wer wusste schon, wann ich wieder an Wasser kam? Ich holte die Brottüte hervor und starrte ins Dunkle, eigentlich auf meine Hände. Hatte ich heute Morgen schon eine Ahnung gehabt oder weshalb hatte ich mir Brote geschmiert? War der Hunger schon so groß oder sollte ich lieber warten. Ich holte umständlich, ohne zu sehen, eine Klappstulle heraus und verstaute die restlichen wieder im Rucksack. Jeden Bissen kaute ich bedächtig. Schließlich fühlte ich mich wieder fähig, weiter zu arbeiten und stand auf. Viel Zeit verging, bis ich einen zweiten – und endlich auch einen dritten Stein hatte heraushebeln können. Ich versuchte nicht daran zu denken, wie viele Steine ich herausholen musste, um mir ein Loch zu schaffen, durch das ich hindurchpassen würde.
Ich machte mich daran auch den vierten Stein zu bearbeiten, als mich ein schreckliches Gefühl beschlich. Ich war nicht mehr allein im Raum. Jemand oder etwas stand in meiner unmittelbaren Nähe. Und warum war ich darüber nicht glücklich? Schließlich bedeutete dies, dass einer von dem Gang wusste und ich hier herauskam. Doch die Freude darüber wollte sich nicht einstellen.
Ich hatte Angst. Es war unheimlich. Ich hielt unvermittelt die Luft an und lauschte in die Dunkelheit.
Und da hörte ich es. Als würde jemand nach einem tiefen Tauchgang Luft holen. Ich hatte das Gefühl, mein Herz würde stehen bleiben. Da stand jemand, irgendwo, ganz in meiner Nähe. Sollte ich ihn einfach ansprechen? Warum sagte er oder sie nichts? Im Gegensatz zu mir kannte sich dieser Jemand bestimmt hier in der Dunkelheit in diesem Raum aus. Und warum hatte dieser Jemand keine Taschenlampe an? Meine Sinne waren bis zum Zerreißen gespannt, geschärft. Doch was konnte ich tun, wenn derjenige mir wirklich Böses wollte. Vielleicht hatte ich auch schon den Verstand verloren? Ich versuchte ganz flach zu atmen, damit er mich nicht hörte. Möglicherweise wusste er nicht, wo ich stand? Und wenn es ein Geist war? Das Gespenst des Schlosses? Ein spukender Urahn, der sich durch List Frauen in diese Kammer lockte, um ihnen beim langsamen Sterben zuzusehen?
Da war es wieder. Dieses Mal war der Atemzug kürzer und ein weiterer folgte. Am liebsten hätte ich laut losgeschrien. Ich spürte, wie mein Körper unwillkürlich zitterte. Es gab keinen Ausweg! Oder doch? Vorsichtig schob ich meine Hand weiter in das Loch, welches ich in den letzten, vermutlich, Stunden geschaffen hatte. Vielleicht lag dahinter die Rettung und Freiheit, die ich jetzt brauchte? Ich versuchte ganz leise zu sein und weiterhin jedes Geräusch wahrzunehmen. Da war nur das Atmen, das inzwischen gleichmäßiger geworden war. Konnte ich mich nicht in Luft auflösen? Ich sollte ihn oder sie einfach ansprechen, was konnte schon passieren? Alles, schoss es mir durch den Kopf! Ich hatte nichts zu verlieren, schob meine Hand weiter durch das Loch. Dahinter war nichts. Tatsächlich also ein Hohlraum, wie ich es mir erhofft hatte. Meine Hand befühlte die Umrandung des Lochs in der zweiten Mauer. Mein Herz schlug so laut, dass jeder es hören musste, egal wo er stand. Ich gestattete meinen Händen, die schützende Wand zu verlassen und weiter in die Leere, den Hohlraum, hineinzufühlen. Was würde ich wohl finden? Eine weitere Wand? Nichts? Ich hatte solche Angst!