Ryloven

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In dem Bestreben nicht aufzufallen, versuchte Sir Nicolas deshalb nur Seitengassen zu benutzen. Als er den Marktplatz durch mehrere Seitenstraßen umrundete, war es bereits dunkel geworden. Er hatte den großen Platz gerade hinter sich gelassen, als er in der Gasse hinter sich ein Geräusch hörte. Mit einer schnellen Bewegung drehte er sich um und starrte in die Finsternis, doch er konnte niemanden erkennen. Wachsam ging er weiter und änderte manchmal seine Schrittfolge, um zu hören, ob ihn jemand verfolgte. Das Geräusch war kaum wahrnehmbar, aber als er plötzlich ohne Vorwarnung ganz kurz stehen blieb, hörte er jemanden, der in sicherer Entfernung noch einen Schritt machte und dann innehielt. „Das ist kein normaler Straßenräuber“, dachte er. „Denn niemandem ohne eine spezielle Ausbildung ist es möglich, sich so präzise zu bewegen, dass er genau in demselben Takt geht wie ich und sich den veränderten Schrittfolgen so schnell anpasst.“

Ohne sich anmerken zu lassen, dass er von seinem Verfolger wusste, ging er weiter die Gasse entlang, änderte allerdings seine Richtung, weil er seinen Verfolger nicht zum Gasthof führen wollte. Nach einigen Minuten, in denen er vergeblich versuchte die Position seines Schattens zu bestimmen, bog er um die Ecke in eine leicht erhellte Straße und hielt abrupt an. In der Mitte stand eine einzelne, von einem Mantel umhüllte Figur, die auf ihn zu warten schien. Misstrauisch blieb Nicolas mit genügend Abstand zwischen ihm und dem Fremden stehen. Ohne eine Vorwarnung zog die dunkle Gestalt ihr Schwert und machte einen Satz nach vorne. Nicolas hatte gerade noch genügend Zeit sein eigenes Schwert zu ziehen, es hochzureißen und den Schwertstreich seines Gegenübers zu parieren. Immer wieder führte sein Gegner heftige Schläge aus und Sir Nicolas musste erstaunt feststellen, dass die Schwerthiebe schneller auf ihn niederprasselten, als es einem durchschnittlichen Kämpfer möglich sein dürfte. Er parierte einen Seitenhieb, aber der nächste Schwertstreich, der ihm den Kopf von den Schultern getrennt hätte, wenn er sich nicht schnell genug weggeduckt hätte, ließ nicht lange auf sich warten.

Nicolas wich zurück, um etwas Distanz zwischen ihm und seinem Angreifer zu bekommen, doch dieser ließ ihm keine Pause und griff unermüdlich an. Erneut wehrte Nicolas mehrere schnell geführte Hiebe ab, aber er konnte sich in keine bessere Position bringen. „Ich muss irgendetwas unternehmen, sonst könnte dieser Kampf schlecht ausgehen“, dachte Sir Nicolas, duckte sich erneut geschickt unter einem Schwertstreich hinweg und versuchte seinen Gegner an der Seite zu treffen. Nicolas grinste, denn er war sich sicher, dass er es nun endlich geschafft hatte, die Verteidigung seines Angreifers zu durchbrechen. Doch mit einer schon fast übermenschlichen Geschwindigkeit drehte sich der Kämpfer herum und blockte seinen Hieb mit Leichtigkeit ab. Überrascht taumelte Nicolas einen Schritt zurück. Als er glaubte eine weitere Schwäche in der Verteidigung seines Gegners entdeckt zu haben, griff er ihn frontal an, doch zu spät erkannte er, dass diese einladende Bewegung eine Falle gewesen war. Schnell zog der verhüllte Krieger mit seiner freien Hand einen Dolch unter seinem Gewand hervor und versuchte Nicolas’ Schwertarm zu treffen. Der konnte diesem präzise geführten Streich nicht schnell genug ausweichen und so durchschnitt der Dolch sein Gewand und brachte ihm eine Schnittwunde an der Schulter bei. Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen rechten Arm und er musste schnell die Schwerthand wechseln, um den nächsten hart geführten Schlag abwehren zu können. Sir Nicolas konnte das Gesicht seines Gegners nicht genau sehen, aber trotzdem glaubte er kurz ein Lächeln erkannt zu haben. Es wurde immer schwieriger für ihn seinem Gegner Widerstand zu leisten. Sein Arm pochte vor Schmerzen und durch die immer wiederkehrenden harten Schläge wurde sein Handgelenk langsam taub. Wieder versuchte sein Gegenüber ihn mit dem Dolch in der Seite zu treffen, doch dieses Mal erkannte Sir Nicolas die Finte und konnte noch rechtzeitig ausweichen. Bei dieser Gelegenheit erhellte der Schein eines nahen erleuchteten Fensters die Klinge des Dolches, den sein Gegner führte. Sie war tiefrot und dies lag nicht an dem Blut, das sich darauf befand. Während seiner Nachforschungen hatte Sir Nicolas Gerüchte über Attentäter gehört, deren Markenzeichen angeblich Dolche mit roten Klingen waren. Allerdings gelang es den Reichsschützen nie, diese Gerüchte zu bestätigen, weil es nie einen Augenzeugen gegeben hatte, den sie befragen hätten können. Angeblich war jeder, der einen dieser Männer gesehen hatte, am Ende tot. Sir Nicolas hatte keinen Zweifel daran, dass er vor genau solch einem Mann, einem Nah’ranen, stand, was seine Chancen auf einen Sieg nicht gerade verbesserte.

Plötzlich hörte Sir Nicolas hinter sich schnelle Schritte, die, wie er vermutete, zu den Nachtwachen gehörten, die in der Stadt patrouillierten. Und da der Nah’rane nun noch schneller angriff, hatte sein Gegner vermutlich denselben Gedanken. Doch so einfach wollte es Nicolas ihm nicht machen und hielt weiter stand. Umso näher die Wachen kamen, umso schneller und stärker wurden die Schwerthiebe seines Gegners, aber je stärker diese wurden, desto unvorsichtiger wurden diese auch. Gerade als die Wachen in ihre Gasse bogen, schaffte es Sir Nicolas, seinem Gegenüber den Dolch aus der Hand zu schlagen, was ihm allerdings eine weitere Schnittwunde einbrachte. Sir Nicolas hoffte, dass der Nah’rane nun die Flucht ergreifen würde, doch zu seiner Überraschung rannte er an ihm vorbei und direkt auf die Patrouille zu. Die vollkommen unvorbereiteten Wachen sahen sich plötzlich einem tödlichen Gegner gegenüber und noch bevor sie ihre Waffen gezogen hatten, waren schon zwei von ihnen der Klinge des Attentäters zum Opfer gefallen. Die restlichen vier Wachen versuchten ihn aufzuhalten, aber nachdem noch ein Soldat tot zu Boden sank, hatte sich der Attentäter schon einen Weg durch die Wachen gebahnt und lief vom Kampfgeschehen weg. Sir Nicolas eilte zu den Wachen und nahm sich einen Bogen, der einem der toten Wachen gehört hatte. Schnell spannte er einen Pfeil ein und schoss auf den flüchtenden Feind. Der Pfeil sirrte durch die Luft und drang in die rechte Schulter des Nah’ranen ein, der jedoch einfach weiter lief, als wäre nichts gewesen, und im nächtlichen Nebel verschwand.

„Kümmert euch um die Toten!“, befahl er den Wachen noch bevor er den zurückgelassenen Dolch in ein Tuch wickelte und sich auf den Weg zum Gasthof machte. Nicolas machte sich Sorgen. Er konnte sich nicht vorstellen, worauf dieser Mann es abgesehen hatte und er handelte möglicherweise nicht alleine. Er musste nachsehen, ob es Will und Keron gut ging. Aber selbst wenn dieses Monster es nur auf ihn abgesehen hatte, sollten sie so schnell wie möglich Reduna verlassen, um herausfinden zu können, wer dieser Nah’rane war und warum er überhaupt angegriffen worden war.

„Da ist etwas in der Dunkelheit. Es ist nahe. Ich kann es in der Stille atmen hören.“ Keron wagte nicht seine Augen zu öffnen. Er blieb reglos liegen und lauschte auf weitere Geräusche. Plötzlich nahm er eine Bewegung neben sich war. Keron schoss hoch, aber eine Hand über seinem Mund hielt ihn davon ab, sich ganz aufzurichten. Sein Herz raste, aber als er sah, wer ihm den Mund zuhielt, entspannte er sich wieder. Es war nur Will, der neben seinem Bett stand. „Wen hatte ich auch erwartet?“ Doch irgendetwas stimmte nicht, denn Wills Hand ließ ihn nicht los und die andere ruhte mit ausgestrecktem Zeigefinger auf seinen eigenen Lippen.

„Da draußen ist jemand“, flüsterte er und ließ Keron los.

Keron blickte zur Tür, und wirklich, langsam bewegte sich die Türklinke nach unten. So ernst hatte er Will bis jetzt noch nicht gesehen. Es gab nicht einmal ein Anzeichen eines Lächelns auf seinem Gesicht. Die Tür immer fest im Blick bewegte Will sich, ohne dass der Boden knarrte, auf die andere Seite des Zimmers und ließ etwas Glänzendes unter seinem Hemd erscheinen. Die Tür zu ihrem Zimmer schwang mit einem leisen Quietschen auf, aber Keron konnte nur die Umrisse einer großen Gestalt erkennen.

„Steck das Messer weg, Junge“, befahl der Mann leise, doch laut genug, um seinem Befehl Nachdruck zu verleihen. Wills Körper entspannte sich sofort und so schnell, dass Keron es gar nicht sehen konnte, verschwand der Gegenstand in Wills Hand auch schon wieder. Nun kam die Gestalt weiter ins Zimmer hinein und Keron erkannte, wer ihr Besucher war: Sir Nicolas.

„Packt eure Sachen zusammen! Wir müssen Reduna so schnell wie möglich verlassen.“

„Was??? Aber …“

„Keine Diskussion, es ist hier nicht mehr sicher. Beeilt euch, wir treffen uns im Stall“, schnitt Sir Nicolas Will das Wort ab und verließ das Zimmer mit einem leichten Hinken.

Keron zog sich fertig an und packte alle seine Habseligkeiten in einen kleinen ledernen Reisebeutel. Und auch Will machte sich schnell daran, seine Sachen zusammenzusuchen und kurz darauf waren die beiden aufbruchsbereit. Keron öffnete die Tür einen Spalt breit und spähte in den dahinter liegenden dunklen Flur. Niemand war zu sehen. Unsicher betraten die beiden den Flur und stiegen leise die Treppe hinunter. „Da noch alles dunkel ist, muss es noch tief in der Nacht sein“, folgerte Keron in Gedanken. Doch trotz der Finsternis schafften sie es, ohne dabei zu stürzen, in den Schankraum. Schnell und vorsichtig gingen Will und Keron auf die Tür zum Stall zu. Doch noch bevor Will seine Hand auf den Türknauf legen konnte, wurde die Tür von der anderen Seite geöffnet. Kerons Muskeln entspannten sich wieder, als er den großen Wirt in der Tür stehen sah.

„Kommt schnell“, brummte er und hielt die Tür für sie offen. Mit schnellen Schritten durchquerten sie den Stall, bis sie die Pferde erreichten, die Nicolas gerade sattelte. Nachdem die drei ihr Gepäck auf den Sätteln festgebunden hatten, führten sie die Pferde nach draußen.

 

„Pass auf dich auf, Kleiner“, verabschiedete sich Bert von Will, als dieser gerade auf sein Pferd stieg.

„Reitet schon einmal vor, in Richtung des westlichen Tores. Will, du kennst den Weg. Ich komme gleich nach“, sagte Sir Nicolas mit ernster Miene, die jedes Widerwort unterband. Will hob die Hand zum Abschied. In diesem Moment bemerkte er am Dach des gegenüberliegenden Hauses eine Bewegung.

„Passt auf“, rief er noch im Wegreiten, aber da sirrte das Geschoss schon durch die Luft. Sir Nicolas hechtete auf die Seite, jedoch konnte Bert nicht so schnell reagieren wie der Reichsschütze und brach mit einem dumpfen Laut zusammen. Ein dunkler Fleck breitete sich auf der Brust des Wirtes aus und in dessen Mitte steckte ein Dolch, der dem in Sir Nicolas Tasche auf beunruhigende Weise glich. Mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung hievte er sich auf sein Pferd und ritt Will und Keron hinterher. „Es tut mir leid, alter Freund. Es wird die Zeit kommen, in der mir dein Mörder Rede und Antwort stehen muss.“

Er floh, so schnell sein Pferd es zuließ, aber er schaffte es trotzdem nicht, seinen Verfolger abzuschütteln. Erneut verblüffte ihn die Schnelligkeit, mit der sich der Nah’rane bewegte. Flink und ohne ein Anzeichen von Müdigkeit sprang er von Dach zu Dach, die in diesem Viertel der Stadt alle gleich hoch waren. Sir Nicolas setzte sich im Sattel auf und steuerte sein Pferd nun nur noch mit den Beinen, während er seinen Bogen nahm, den er an seinem Sattelknauf befestigt hatte, einen Pfeil anlegte und auf seinen Verfolger schoss. Der Pfeil sirrte durch die Luft und verfehlte sein Ziel, das blitzschnell die Richtung änderte und hinter einem Kamin verschwand. Kurz darauf hatte er seine beiden Schüler eingeholt und zusammen ritten sie im vollen Galopp durch die verlassenen Straßen von Reduna.

„Was ist passiert? Wie geht es Bert?“, fragte Keron. Doch Sir Nicolas antwortete nur mit einem einzigen Wort: „Später.“

„Aber …“

„Ich sagte später!“, schnitt ihm Nicolas das Wort ab. „Wir sind immer noch nicht außer Gefahr!“

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, preschten die drei weiter voran. Als die Wachen beim Tor Sir Nicolas erkannten, öffneten sie auf seinen Befehl hin das große Holztor und ließen sie passieren. Nachdem sie die Stadt hinter sich gelassen hatten, drehte sich Keron noch einmal um und konnte schwören jemanden die Mauer hinunterspringen gesehen zu haben. Diesen absurden Gedanken verwarf er gleich wieder, weil dieser Sprung von so einer Höhe bestimmt jeden getötet hätte. Sie ritten die ganze Nacht hindurch, bis schon die ersten Sonnenstrahlen hinter den grünen Hügeln hervorkamen. Während ihres Weges versuchten Keron und Will immer wieder zu erfragen, was in der Abwesenheit von Sir Nicolas eigentlich passiert war und wohin sie jetzt unterwegs waren. Aber sie erhielten keine Antwort.

Keron kam es wie eine Ewigkeit vor, bis Nicolas vor ihm in einem Wäldchen anhielt und entschied, dass sie hier im Schutz der Bäume ihr Lager aufschlagen würden. Erleichtert, dass er endlich aus dem Sattel steigen konnte, nahm Keron sein Gepäck von Weher und begann sein kleines Zelt aufzustellen. Während die drei ihr Lager aufbauten, sprach keiner von ihnen ein Wort. Erst als sie fertig waren und Sir Nicolas mit Zweigen im Arm, die er für ein Lagerfeuer gesammelt hatte, zurückkam, konnte sich Will nicht mehr beherrschen.

„Dürfen wir endlich erfahren, warum wir wie die Besessenen um unser Leben reiten mussten?“

Sir Nicolas antwortete nicht, sondern schlichtete die Zweige zu einem Haufen und begann seine Wunden zu versorgen. Will machte bereits wieder den Mund auf, doch noch bevor er etwas sagen konnte, beantwortete Sir Nicolas seine Frage: „Ich weiß nicht genau, warum man uns angegriffen hat. Aber ich glaube zu wissen, wer versucht hat uns zu töten.“

„Und wer war es?“, mischte sich nun auch Keron ein.

„Ein Nah’rane.“

„Was ist denn ein Nah’rane?“, wollten Keron und Will wissen.

„Das hätte ich schon erklärt, wenn ihr mich nicht immer unterbrechen würdet“, entgegnete Sir Nicolas zornig. „Ich bin während unserer Reisen immer wieder auf Gerüchte über sie gestoßen. Der Orden der Nah’rane besteht aus kaltblütigen Mördern. Den Besten, wie so mancher behauptet. Sie besitzen besondere Fähigkeiten und das ist es, was sie so gefährlich macht. Früher wurden sie von vielen hohen Adeligen als Attentäter angeheuert, aber der König verhängte einen Bann über die Gilde der Nah’rane und erklärte, dass wenn er von irgendeinem Adeligen hörte, der einen Nah’ranen in seinen Diensten hätte, er ihn aus seinem Reich verbannen und alle seine Besitztümer beschlagnahmen würde. Es dauerte nicht lange, bis kein Adeliger mehr dumm genug war dieses Gesetz zu brechen. Und deshalb verschwanden auch die Nah’rane mit der Zeit aus der Öffentlichkeit und dem Bewusstsein der Menschen. Immer wieder gab es zwar Gerüchte von Nah’ranen, doch bis gestern gab es keine Beweise, dass die Gilde im Untergrund noch existiert.“

Will und Keron erbleichten, setzten sich dann und lauschten Sir Nicolas, während er berichtete, was ihm auf seinem Rückweg vom Schloss passiert war. Als er seine Geschichte zu Ende erzählt hatte, holte er den Dolch, den er in seiner Tasche verwahrt hatte, heraus und zeigte ihn den beiden.

„Er ist sehr scharf“, erklärte Sir Nicolas, „Legenden zufolge, werden ihre Klingen nie stumpf. Aber ich vermute eher, dass ihre Schmiedekunst so gut ist, dass die Klinge einfach nur sehr lange scharf bleibt. Allerdings weiß niemand, wie sie das anstellen.“

Begeistert nahm Will den Dolch entgegen und wiegte ihn in der Hand. „Er ist perfekt ausbalanciert“, bemerkte er und Sir Nicolas nickte.

„Ja, das ist er, weil sie ihn auch als Wurfmesser benutzen. Eine Tatsache, die uns leider nur allzu deutlich bewiesen wurde.“

Keron dachte schmerzlich an den überraschten Gesichtsausdruck von Bert. Während Will den Dolch noch genau betrachtete, stellte Keron eine Frage, die ihn sehr beschäftigte: „Ist dieser Nah’rane immer noch hinter uns her?“

„Ich glaube nicht, aber wir sollten uns nicht zu sicher fühlen. Zuerst werden wir uns hier etwas ausruhen und dann zu einem verlassenen Ort im Norden aufbrechen. Da wir nicht wissen, warum wir angegriffen wurden, halte ich es für das Beste, wenn wir für eine Weile untertauchen.“

„Was ist das für ein Ort, zu dem wir reiten?“, fragte Will, als er den Dolch an Keron weiterreichte.

„Es ist ein alter Zufluchtsort meines Ordens. Eine Hütte tief im Wald. Es kommen nur selten Leute vorbei und nur wenige wissen von der Hütte, deshalb glaube ich, dass wir dort für eine Zeit lang sicher sein werden.“

„Und was werden wir dort machen?“, fragte Keron und gab den Dolch an Sir Nicolas zurück.

„Ich muss meinen Orden kontaktieren, um mehr herauszufinden. Außerdem ist es wichtig, dem König mitzuteilen, dass ein Nah’rane gesehen wurde. Aber primär werden wir uns um eure Ausbildung kümmern.“

„Warum ist die Information eines gesehenen Nah’ranen so wichtig?“, wollte Will wissen.

„Weil man, wie ich bereits sagte, dachte, dass es überhaupt keine mehr von ihnen gibt und es sicher nichts Gutes zu bedeuten hat, wenn sie wieder aktiv werden. Genug von der Rederei. Geht schlafen. Ich übernehme die Wache.“

Erst jetzt bemerkte Keron, wie müde er eigentlich war. Ihn interessierte zwar noch, warum man die Nah’rane für tot gehalten hatte, aber Sir Nicolas hatte ziemlich klar gemacht, dass er keine weiteren Fragen beantworten würde. Deshalb schlüpfte er in sein Zelt und versuchte einzuschlafen. Es war nicht leicht mit all den neuen Dingen, die ihm durch den Kopf gingen. Er lag noch länger wach und hörte dem Gesang der Vögel zu, der immer wieder durch die Schnarchgeräusche von Will unterbrochen wurde, bis ihn seine Müdichkeit schließlich übermannte. Er schlief schlecht, denn Kerons Träume waren voller Monster und verschwommener Bilder, die ihn beunruhigten.

Als er schließlich geweckt wurde und missmutig sein kleines Zelt wieder abbaute, war er kaum erholt. Seine Träume waren eine Folter für ihn gewesen. Wenn sie nicht gerade vom blutenden Leichnam Sir Francis handelten, rannte er um sein Leben, weil Gestalten, die er nicht genau sehen konnte, versuchten ihn umzubringen. Am späten Nachmittag erblickten die drei ein Dorf in der Ferne. Kurz bevor sie es erreichten, hatte Nicolas ihnen befohlen anzuhalten. Sie stiegen von ihren Pferden und führten sie ein wenig weg von der Straße. „Ich werde ins Dorf gehen und ein paar Sachen einkaufen, die wir noch benötigen, und ihr bleibt hier und wartet“, verkündete Sir Nicolas.

„Warum können wir nicht mitgehen?“, fragte Will.

„Weil ich nicht will, dass wir zusammen gesehen werden, falls jemand versucht uns aufzuspüren“, antwortete er und ließ es so klingen, als hätte Will sich das eigentlich auch selber denken können.

Nachdem Sir Nicolas gegangen war, sprachen Will und Keron mit gedämpfter Stimme darüber, was sie von Sir Nicolas über die Nah’rane erfahren hatten. Aber da sie nicht sehr viel wussten, drehten sie sich mit ihren Spekulationen nur im Kreis und ließen das Thema schließlich ruhen. Es breitete sich eine Stille zwischen ihnen aus, keine unangenehme Stille, wie sie entstand, wenn man nicht wusste, was man sagen sollte. Nein, sie lagen einfach neben einander im Gras und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. Es fühlte sich für Keron an, als ob es Stunden gedauert hätte, bis Sir Nicolas mit einem großen Sack auf dem Rücken wieder zurückkam. In Wirklichkeit konnte es allerdings auch nur eine Stunde oder sogar weniger gewesen sein.

Nachdem Sir Nicolas den zusätzlichen Proviant bei seinem restlichen Gepäck verstaut hatte, setzten sie ihre Reise fort. Sie ließen das Dorf hinter sich und als sie sicher waren, dass man sie nicht mehr sehen konnte, verließen sie die Straße und folgten einem kleinen Feldweg, der gerade breit genug für ein Pferd war. Dieses Mal ritten sie nicht die ganze Nacht hindurch, sondern schlugen ihr Lager auf einer kleinen Lichtung auf, die sich einige Meter vom Weg entfernt befand. Gleich nachdem die drei ihr Nachtlager errichtet hatten, wünschte Keron ihnen eine gute Nacht und legte sich hundemüde in sein Zelt. Die Ereignisse der letzten Tage zehrten an ihm.

Als Sir Nicolas ihn weckte, war es früh am Morgen und die Sonne noch nicht zur Gänze aufgegangen. Der unruhige Schlaf hatte ihn nur wenig erfrischt. Er setzte sich neben Will, der schon länger wach vor dem Feuer saß. Dankend nahm er ein Stück Brot und Käse an, die Nicolas ihm reichte. Nachdem sie alle etwas in den Magen bekommen hatten, machten sie sich daran, ihr Lager wieder abzubauen. Während Will und Keron damit begannen ihre Zelte behutsam auseinander zu nehmen, löschte Sir Nicolas das Feuer und machte sich dann selbst auf den Weg zu seinem Zelt. Keron fragte sich, ob Sir Nicolas überhaupt geschlafen hatte. Ihre Zelte abzubauen und zusammenzupacken erschien Keron viel einfacher, als das Aufbauen am Vortag. Seine Finger waren klamm gewesen und sein ganzer Körper hatte vom langen Reiten geschmerzt. Doch nun, da er sich nach dem Frühstück etwas besser fühlte, ging die Arbeit leichter von der Hand. Sie verstauten ihr Gepäck wieder in den Satteltaschen ihrer Pferde und ritten los. Immer in Richtung Norden.

Will und Keron versuchten ihre Reise angenehmer zu gestalten, in dem sie sich über dieses und jenes Thema unterhielten. Sie stellten sich vor, wie es wohl so war, einem Nah’ranen im Kampf gegenüber zu stehen. Aber auch ihre bevorstehende Ausbildung war ein beliebtes Thema, das sie immer wieder diskutierten. Sie ritten immer sehr früh am Morgen los und hielten nur für eine Stunde an, wenn die Sonne am höchsten stand, damit sich ihre Pferde etwas ausruhen konnten. Ansonsten blieben sie kaum stehen. Außer bei den seltenen Gelegenheiten, wenn Sir Nicolas ihren Weg mit dem auf seiner Karte verglich. Keron fiel auf, das sie nie auf großen Straßen unterwegs waren. Die meiste Zeit ritten sie auf kleinen Wald- und Wiesenwegen, was natürlich dazu führte, dass sie kaum anderen Menschen begegneten.

Vier lange Tage ritten sie hintereinander her, bis sie ihr Ziel endlich erreicht hatten. Neben einem kleinen Weiher stand eine alte Holzhütte. Keron vermutete, dass sie früher als Jagdhütte benutzt worden war, allerdings sah es nicht danach aus, als wäre jemand vor kurzem hier gewesen. Das komplett aus Holz errichtete Gebäude war zwar nicht besonders heruntergekommen, allerdings begannen einige Pflanzen bereits damit, sich ihren Weg die Außenwände hinauf zu bahnen. Auch das Innere der Hütte sprach dafür, dass schon einige Zeit niemand mehr hier gewesen war. Alles war verstaubt und verdreckt. Aber sie schien allgemein noch in einem soliden Grundzustand zu sein. Vor der Eingangstüre befand sich eine Holzveranda und im Inneren bestand die Holzhütte hauptsächlich aus einem größeren Raum, in dem sich ein Tisch mit vier Stühlen, eine Feuerstelle, die als einzige komplett aus Stein war, ein Kasten mit Töpfen und Holzschalen darin und ein alter Besen, der verlassen in einer Ecke lehnte, befanden.

 

Durch den Hauptraum gelangte man zu zwei weiteren, viel kleineren Räumen. Beide waren so klein, dass darin gerade genug Platz für zwei Betten war. Keron hätte sich einen gemütlicheren Unterschlupf gewünscht, doch wenigstens hatte der letzte Bewohner für genügend Feuerholz gesorgt. Und an der Rückseite der Hütte fanden sie sogar einen beträchtlichen Vorrat an Heu für ihre Pferde. Will und Keron bekamen das eine Zimmer und Sir Nicolas trug seine Sachen in das andere. Kaum hatten sie ihre Sachen verstaut, teilte Nicolas ihnen schon weitere Aufgaben zu. Will sollte sich um die Pferde kümmern und Keron schnappte sich, wie befohlen, den Besen und versuchte die Zimmer so gut er konnte vom Staub zu befreien Es war mehr Arbeit, als er zu Beginn gedacht hatte. Doch als Will mit den Pferden fertig war, nahm er einen anderen Besen zur Hand, den er hinter dem Haus gefunden hatte, und half seinem Freund. Während die zwei sich abrackerten, holte Nicolas Holz und begann in einem der großen Töpfe einen Eintopf zu kochen. Schon bald war die ganze Hütte vom leckeren Geruch des Essens erfüllt, was Kerons Arbeit nicht gerade erleichterte, weil ihm bereits das Wasser im Munde zusammenlief. Doch nachdem die beiden schließlich auch mit der Veranda fertig waren, rief Nicolas sie hinein, um den köstlichen Eintopf zu verspeisen, den er zubereitet hatte. Keron und Will setzten sich an den Tisch und begannen ihr Mahl aus den Holzschüsseln zu essen, die Sir Nicolas zuvor mit Wasser aus dem Weiher gesäubert hatte. Sie genossen das Essen so sehr, dass keiner von ihnen etwas sagte. Sie saßen nur stumm am Tisch und löffelten sich die deftige Brühe eifrig in den Mund. Die Tatsache, dass die beiden einmal nicht unaufhörlich miteinander redeten, entlockte Sir Nicolas sogar ein kleines Lächeln, was die zwei aber nicht bemerkten, da sie in diesem Moment nur Augen für ihr Essen hatten.