Blutige Maiglöckchen zum Hochzeitstag

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Waldi öffnet die Flasche und gießt eine Portion des hellgrün schimmernden und leicht trüben Öls auf einen Teller. Dann greift er sich eine Scheibe von dem Brot, bricht davon ein kleines Stück ab und stippt es hinein.

»Probiert es! Für den ungeübten Gaumen mundet es vielleicht ein wenig pikant, aber mit Sicherheit habt ihr noch nie ein besseres Öl genossen!«

Alle machen es ihm nach und sind ebenfalls von dem außerordentlich gut schmeckenden Erzeugnis begeistert. Tatsächlich erweist sich der nach fast einer halben Stunde servierte Osso buco – wie von dessen Urheber versprochen – als ebenso vorzüglich. Der trockene rote Brunito Toscana aus Montalcino ist ein würdiger Begleiter und wird ebenfalls genüsslich dazu getrunken.

Plötzlich merkt Nili auf, zieht einen Zettel aus der Tasche und überreicht ihn Lutz. »Damit du gleich morgen früh deine ›Jungfrau Annegret‹ besänftigen kannst«, sagt sie auf seine fragende Miene hin.

Lutz stutzt kurz, schaut sich dann aber das Schriftstück näher an. Ein erfreutes Lächeln breitet sich über sein Gesicht aus. »Das müsst ihr euch unbedingt anhören: Sehr geehrte Frau Chefin, nachstehend alles, was ich bisher herausfinden konnte: Als besagter Berti käme ein gewisser Bertram Klinck in Frage: Leutnant zur See, Bundesmarine (geb. 07.07.1979 in Kiel), und seine Frau Jenny, geb. Bartels, Stenotypistin (geb. 28.10.1982 in Oldenmoor); sie schlossen die Ehe am 07.05.2009 um 10:30 Uhr auf dem Standesamt Eckernförde.

Lt. z. S. Klinck ist gegenwärtig Erster Offizier auf der M 1049 Olpenitz, ein Minenjagdboot vom Typ 332, das zum 3. Minensuchgeschwader gehört und im Tirpitzhafen – Marinestützpunkt Kiel – beheimatet ist. Das Paar soll sich bereits vor etwa vier Monaten, kurz bevor der Ehemann für längere Zeit auf See ging (Grund unbekannt), getrennt haben (telefonische Aussage einer Nachbarin, Frau Karin Weiden, Am Steinweg 2, Suchsdorf).

Jenny Bartels-Klinck, die Ehefrau, ist bei der Verwaltung der SecurVita Versicherung in Kiel tätig. Sie verließ die gemeinsame Wohnung und zog nach der Trennung von ihrem Ehemann zu ihrem Jugendfreund Julian Volkmann – Anlageberater (geb. 07.12.1981 in Maasholm/Schlei) –, ist auch daselbst gemeldet am Jütlandring 9 in Kiel Mettenhof. Hoffe, Sie können damit was anfangen. Ihnen und dem Herrn Doktor noch einen schönen Sonntag. Csmarits, Ferdinand, Fachinspektor.« Begeistert setzt er hinzu: »Mann, euer Ferdl ist wahrlich ein Tausendsassa!«

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Drei Tage zuvor.

»Mach auf, Irmgard, du verfluchtest Biest, oder ich trete die Tür ein!«, dröhnt die wutentbrannte männliche Stimme durch die Badezimmertür, während zwei geballte Fäuste wild von draußen darauf eintrommeln.

Die Frau sitzt auf dem gefliesten Boden des Badezimmers, den Rücken gegen die Tür gelehnt, und wischt sich das Blut, das ihr aus der Nase rinnt, mit Papiertüchern aus der neben ihr stehenden Cleanex-Box. Sie hat es gerade noch geschafft, hierher zu flüchten und die Tür abzusperren, nachdem ihr Ehemann sie bereits beim Heimkommen überfallen und sofort mit heftigen Schlägen und Hieben traktiert hat.

»Wo hast du dich herumgetrieben, bist wohl mal wie so oft in Hitze, du streunende Hündin!? Hast wieder mit deinem Macker in der Firma rumgemacht, was? Mach auf, sag ich dir zum letzten Mal, oder du kannst was erleben!«

Mit Tränen in den Augen greift die verzweifelte Frau zu ihrem Handy und wählt die 110. Flüsternd bittet sie um Hilfe, gibt keuchend ihren Namen und die Adresse durch. »Kommen Sie bitte schnell, er bringt mich um!«, fleht sie. Ein erneuter Tritt mit nachfolgendem Knall hallt durch das Badezimmer, wie um ihre Aussage zu bestätigen.

»Mit wem quatschst du da?«, ruft er mit noch lauterer Stimme als zuvor. »Mach endlich auf, du schändliches Geschöpf! Betrügst deinen Mann am helllichten Tag! Hast du überhaupt keinen Anstand, du Hure!«

»Warum bist du nur so gemein zu mir, Torben?«, entgegnet sie mit schwacher Stimme. »Das stimmt doch alles gar nicht, was du mir da vorwirfst! Woher nimmst du immer solche abwegigen Gedanken? Du weißt doch genau, dass ich nur dich liebe und dir immer treu gewesen bin! Also warum das Ganze?«

»Du lügst schon wieder, so wie du mich immer und von Anfang an belogen hast! Seit deiner Jugend machst du mit diesem Mirko rum, auch damals, als wir uns kennenlernten! Und ich kann mir nicht einmal sicher sein, ob unsere Marion wirklich mein Kind oder ob sie ein Bastard von diesem räudigen Hund ist, der dir dauernd unter den Rock greift. Aber wart’s nur ab! Dieses Mal lass ich mich nicht von dir bequatschen! Jetzt wird ein Vaterschaftstest gemacht, ich muss mir endlich Gewissheit verschaffen!« Nochmals rüttelt er wütend an der Badezimmertür, dann wird es plötzlich ruhig in der Wohnung.

Kurz sind Schritte im Flur zu vernehmen, die Haustür geht auf und wird geräuschvoll wieder zugeschlagen. Draußen heult ein Motor laut auf, dann wird es gespenstisch still.

Die Frau verharrt einige Minuten im Badezimmer, bis sie das Geräusch eines heranfahrenden und anhaltenden Wagens vernimmt. Es klingelt an der Haustür.

»Hier ist die Polizei! Bitte machen Sie auf!«, ruft eine weibliche Stimme.

Ächzend vor Schmerzen erhebt sich die Frau, schließt die Badezimmertür auf und schleppt sich mühsam den Flur entlang, um den Beamten zu öffnen. »Tut mir leid, mein Mann ist soeben weggefahren, es ist alles wieder in Ordnung!«, beteuert sie.

»Von wegen in Ordnung! Haben Sie sich mal im Spiegel betrachtet, beste Frau?« Der Streifenbeamte blickt die blutverschmierte Gestalt, deren Gesicht bereits an einigen Stellen anschwillt, mitleidig an.

Seine Kollegin ergänzt: »Ich denke, wir sollten Sie zur Untersuchung ins Krankenhaus bringen, damit Sie einen Beweis für Ihre Anzeige wegen körperlicher Misshandlung in Händen haben.«

»Aber nein«, wehrt sich die Frau, »das brauchen Sie wirklich nicht, es wird keine Anzeige geben. Mein Mann hat sich beruhigt, als sich herausstellte, dass alles nur ein Missverständnis war. Er hat sich auch entschuldigt, musste dann aber dringend zur Arbeit fahren. Danke, dass Sie sich herbemüht haben. Sie können mir jedoch glauben, dass wirklich alles in Ordnung ist. Es tut mir sehr leid, dass ich Sie umsonst hierhergerufen habe, bitte entschuldigen Sie! Ich wünsche Ihnen noch einen guten Abend.« Sie nickt den beiden Streifenbeamten freundlich zu, wobei ihr erzwungenes Lächeln eher wie eine schmerzliche Grimasse anmutet, ebenso wie die klaffende Lücke in ihrem Mund einen offensichtlich ausgeschlagenen Zahn erkennen lässt, und schließt dann langsam die Haustür.

»Immer wieder die gleiche Scheiße mit diesen verstocTitlekten Weibern«, schimpft der Streifenbeamte, »ich kann das einfach nicht verstehen! Da vertrimmt der Mann sie nach Strich und Faden und prügelt sie krankenhausreif, und sie erduldet das Ganze und tut es einfach ab – bis zum nächsten Mal! Und immer, immer wieder! Wer soll so etwas verstehen? Kannst du mir das erklären, du bist doch eine Frau, Paula! Wieso?«

»Tut mir leid, Frank, das kann ich ebenso wenig begreifen wie du. Aber eins sage ich dir: Sollte es mal irgend so ein Hundskerl überhaupt nur wagen, seine Hand gegen mich zu erheben, dann trete ich ihm so lange in die Eier, bis er zum Eunuchen wird, das schwöre ich dir!«

*

Am Tag darauf.

Der Mann steigt aus seinem Auto und geht hinüber zum Wagen der Frau, die soeben auf den Parkplatz des Restaurants gefahren ist. Sie stellt den Motor ab und notiert noch rasch den Kilometerstand in ihrem Fahrtenbuch. Galant öffnet der Mann ihr die Tür, sie steigt aus und die beiden geben sich kurz die Hand, bevor sie ihren kleinen Mazda abschließt und den Schlüssel in ihre Handtasche steckt. Die beiden betreten das Lokal durch den Hintereingang. Die etwas ältere asiatische Bedienung begrüßt sie freundlich, nimmt ihnen die Mäntel ab. Sie führt sie an den reservierten Tisch und reicht ihnen die Menükarten. Er blickt zunächst in die Weinliste, deutet auf die gewählte Marke. Sie gibt ihr Einverständnis zum Grauen Burgunder vom Kaiserstuhl. Sie wählen einige Gerichte aus und unterhalten sich. Er redet auf sie ein, offensichtlich bemüht, sie für sich zu gewinnen. Sie scheint nicht unbedingt ablehnend, aber eben noch nicht ganz bereit dazu, entzieht ihm mehrmals die Hand, die er zu fassen versucht. Die Bedienung bringt den Wein, zieht den Korken, schnuppert daran und gießt die obligate Kostprobe ein. Sie darf probieren, nickt zustimmend. Sie prosten sich zu. Eine Aushilfe bringt die Warmhalteplatten, dann folgen die bestellten Schüsseln mit den diversen Speisen ihrer Wahl. Er benutzt mit geübter Hand die Stäbchen, zeigt ihr, wie es geht. Sie gibt nach einem kurzen Versuch auf und wechselt zu Gabel und Löffel. Sie trinken, er füllt ihr Glas immer gleich nach. Sie gibt zu bedenken, dass sie ja mit dem Auto da sei, noch fahren müsse. Macht nichts, sagt er, es gäbe ja auch Taxis. Erneut versucht er vergebens, ihre Hand zu tätscheln. Offensichtlich missmutig aufgrund seiner wiederholten plumpen Anbiederungsversuche, gibt sie ihm das zu verstehen. Sie steht auf, entschuldigt sich und geht zur Toilette. Er steht ebenfalls auf, folgt ihr wenige Meter und bittet mit einem reumütigen Lächeln um Vergebung.

»Warts nur ab, du Zicke, ich krieg dich noch!«, murmelt er sehr leise, während er stehen bleibt und ihr voller Erregung hinterherblickt. Er schaut sich um, setzt sich rasch wieder und zieht ein dunkles Fläschchen aus der Tasche seines Sakkos. Ein paar Tropfen genügen fürs Erste, denkt er sich.

Wenig später kommt sie zurück. Hat sich im Bad entschieden: Sie will gehen, und zwar sofort und allein! Er verlangt die Rechnung, überredet sie, zumindest noch das Glas Wein auszutrinken. Sie tut es widerwillig, trinkt das ganze Glas in einem Zug leer, sie will nur weg und den aufdringlichen Kerl endlich loswerden. Die Kellnerin bring die Rechnung, er zahlt in bar, dann gehen sie zur Garderobe. Er hilft ihr galant in den Mantel. Sie gehen zum Parkplatz hinaus, niemand ist dort zu sehen. Irgendwie fühlt sie sich plötzlich komisch, ihr wird flau in den Beinen, aber sie schafft es noch bis zu ihrem Wagen. Als sie versucht, den Autoschlüssel aus ihrer Tasche zu fischen, fällt ihr dieser aus der Hand, sie knickt zusammen. Der Mann kann sie gerade noch auffangen, lehnt sie an die Motorhaube. Er greift nach dem Schlüssel, drückt auf die Automatik für die Türöffnung, manövriert die Frau auf den Beifahrersitz und legt ihr den Gurt an. Dann setzt er sich ans Steuer.

 

*

Der Mann hat die halb bewusstlose und wehrlose Frau in den karg eingerichteten und beheizten Kellerraum gebracht, sie auf das breite Bett gelegt und bis auf BH und Höschen entkleidet. Er fesselt ihre Handgelenke an die soliden Messingpfosten und klebt ein dickes Plastikband über ihren Mund. Mit lüsternen Blicken zieht er sich aus, stülpt ein Kondom über sein stark erigiertes Glied. Geblendet von der heftigen Gier tritt er an das Bett und reißt der Frau die restlichen Kleidungsstücke vom Leib. Als er sich über sie beugt, um in sie einzudringen, ist sie halb wach, keucht wütend mit erstickten Schreien und versucht, sich ihm zu entziehen. Keinerlei Skrupel befallen ihn, als er ihre schwachen Abwehrversuche mit heftigen Hieben ins Gesicht und auf den Kopf ahndet, um sie fügsam zu machen. Gelegentlich sind die Schläge derart wuchtig, dass ihr Schädel gegen das massive Messingkopfende schlägt. Wütend fluchend trennt er ihre krampfhaft zusammengepressten Schenkel und verschafft sich Zugang zum ersehnten Ziel. Völlig enthemmt vergeht er sich wiederholt an der wehrlosen Frau; irgendwann hält er inne, als er merkt, dass sie vollkommen reglos unter ihm liegt und keinerlei Reaktion mehr zeigt. Erschrocken lässt er von ihr ab, verschwindet in einem kleinen, nebenan gelegenen Waschraum, in dem sich früher einmal eine Duschkabine befand. Mit einem Seil zieht er an einer an der Decke befestigten Gießkanne und lässt das Wasser über sich rieseln, bis sie ganz geleert ist. Langsam trocknet er sich ab und zieht sich wieder an. Er sieht sein Opfer an und zieht mit einem Ruck die Knebelfolie vom Gesicht. Ihr Kopf wackelt dabei hin und her, aber sie zeigt keinerlei Regung. Von Panik ergriffen, fühlt er nach ihrem Puls an der Halsschlagader, kann aber keinen spüren. Vergeblich ruft er sie beim Namen, hebt sie hoch, leblos fällt der Kopf zurück auf das Kissen, und erst jetzt bemerkt er die blutende Wunde am Hinterkopf. Von tiefer Panik ergriffen, wirft er ihr ein schmutziges Laken über, löscht das Licht und rennt aus dem Raum, weiter durch ein Labyrinth aus Gängen, Sälen und Räumen, in denen der überall herumstehende Krankenhausschrott auf eine ehemalige Klinik oder ein Pflegeheim hinweist. Schnaufend klettert er die Treppe empor ins Freie, steigt in ihren roten Mazda und lässt sein tränenüberströmtes Gesicht auf das Lenkrad sinken. Nach einigen Minuten gelingt es ihm, sich zu beruhigen. Mit einem Taschentuch wischt er sich die Tränen aus dem Gesicht, startet den Wagen und fährt davon. Etwa zwei Stunden später kommt er in einem schwarzen Opel Kombi zurück und schaltet den Motor aus. Von der Ladefläche entnimmt er zwei große Plastikkanister und verschwindet mit diesen über die Treppen hinunter in das ruinöse Labyrinth.

*

Im Lichtschein einer starken LED-Lampe, die von seiner Stirn herabstrahlt, befördert der Mann die tote Frau auf einem ächzenden eisernen Krankenbettgestell durch die Korridore bis zu einem ehemaligen Badezimmer. Er trägt einen Schutzanzug, dazu eine lange weiße Gummischürze, ebensolche Handschuhe, hohe Stiefel, Haarbedeckung und Atemschutzmaske. Den Inhalt der mitgebrachten Kanister gießt er in die alte, ziemlich verrostete Badewanne, dann fügt er die Flüssigkeit aus einer Fünfliterflasche hinzu und verrührt das Ganze mit einer großen, langstieligen Badebürste. Er manövriert das Bettgestell neben die Wanne, hebt es seitlich hoch und lässt den leblosen Körper in die Flüssigkeit rutschen. Anscheinend gänzlich unberührt von dieser Tat, zieht er die Frau an den Fesseln hoch, sodass Kopf und Haare vollständig in die Flüssigkeit eintauchen. Gemächlich schrubbt er den gesamten Körper mit der Bürste minutiös ab, erst an der Vorderseite, wendet dann die Leiche, um deren Rücken ebenso akribisch von jeglichen Spuren zu befreien. Während die Flüssigkeit aus der Wanne abläuft, schneidet der Mann eine große Plane von einer zwei Meter breiten PVC-Folienrolle ab und breitet diese auf dem Bettgestell aus, dann fasst er den Leichnam unter den Achseln, zieht ihn aus der Wanne und bettet ihn darauf. Der Mann bedeckt die Leiche mit der Folie und schiebt seine makabre Last bis an die Treppe, die nach oben ins Freie führt. Er zwängt den mit der Folie umhüllten Leichnam in einen dünnen Schlafsack, den er über die Stufen mühsam schnaufend die Treppe emporzieht. Dort wirft er sich diesen über die Schulter und bringt die Last bis zum Wagen, wo er sie auf der Ladefläche deponiert. Stark pustend kehrt er zurück in den Keller, um sich der Schutzkleidung zu entledigen, dann verbarrikadiert er die Eingangstür. Tief atmend steigt er in den Opel, setzt sich ans Steuer und zündet sich eine Zigarette an. Er schaut auf die Uhr, sie zeigt ihm an, dass es fünfundzwanzig Minuten nach zwei ist. Wenig später startet er den Wagen und macht sich auf den Weg in den Kieler Forst.

Ränkespiele

»Moin, moin, liebe Kollegen! Ich hoffe, ihr hattet ein geruhsames Wochenende!« Beschwingt betritt Kriminalkommissarin Margrit Förster das Arbeitszimmer, in dem das vierköpfige LKA-Sonderermittlungsteam zurzeit mit der Aufarbeitung von Cold-Case-Fällen beschäftigt ist. Auf jedem ihrer Schreibtische türmen sich Akten von bisher – aus welchem Grund auch immer – ungelöst gebliebenen Straftaten aller Art. Vor allem sind es mysteriöse Tötungs- und schwere Körperverletzungsfälle, teilweise schon vor mehreren Jahren begangen, die sich diese Arbeitsgemeinschaft mit dem Ziel vornimmt, den oder die ominösen Täter zu entlarven und sie ihrer längst fälligen und gerechten Strafe zuzuführen.

»Grues di, Margrit!«, tönt es hinter dem Bildschirm hervor, an dem Fachinspektor Ferdinand Csmarits gebannt die Daten screent, die er vor seinen Augen langsam herunterscrollen lässt. Der neben ihm stehende Kriminalkommissar Robert Zander, der ebenfalls aufmerksam auf Ferdls Bildschirm schaut, hebt kurz den Kopf, nickt ihr mit einem Lächeln zu und sagt lediglich: »Hallo, Margrit!«, bevor er wieder den Blick auf die Mattscheibe senkt.

»Da hammer’n, das feine Bürscherl!«, ruft Ferdl erfreut aus und deutet auf die Datei mit dem digitalisierten Bild und die Personenbeschreibung des Gesuchten. »Dieser Habermann Karl ist eindeutig der Pülcher, der auf dem Überwachungsvideo das junge Madel bedrängt, das man später unter der Bahnbrück’n verg’waltigt und erwürgt aufg’funden hat. Und der Oasch hat an Akt so lang wie Wagners Nibelungenring: Sei Highlights: Drei Mal hams ean scho einkastelt wegen Erpressung, bewaffneten Raubs und zuletzt wegen Totschlags. A feins Früchterl! Is erst vor a paar Monate aus der JVA Neumünster freikemmen und steckt scho wieder mit beid’n Hax’n tief im braunen Eimer! Wan der Richter nur an Zentimeter Gripps hat, Spezi, geht’s für di lebenslänglich ins Häfer! Da bin i mir sicher!«

»Gute Arbeit, Kollegen!«, lobt Nili ihr Team. »Wieder ein gelöster Fall mehr und eine Akte weniger.« Sie wendet sich an Ferdl: »Seien Sie so gut und leiten die Daten an Frau Staatsanwältin Doktor Bach in Itzehoe weiter. Ich rufe unseren ›Hein Gröhl‹ bei der Kriminalbezirksinspektion in der Großen Paaschburg an, um ihn ins Bild zu setzen, damit er den Verdächtigen festnageln kann. Da haben wir bei unserem Herrn Kriminalrat Stöver mal wieder einen gut. Und auch nochmals vielen Dank für Ihre gestrige Blitzaktion, Ferdl! Sie haben dem KTI-Kollegen Lutz Krause mit dem Ergebnis wirklich kolossal imponiert. Übrigens auch Herrn Doktor Mohr und mir mit den umfassenden Daten, die Sie herausgefunden haben. Und das nur aufgrund eines Eherings. Wirklich toll! Wie machen Sie das nur?«

»Steht doch bei Matheus 7, Vers 8 in der Bibel, Chefin: ›Wer suchet …‹ Hams doch sicher scho mal g’hört, oder?«

»Stimmt, Ferdl, aber was leider nicht dahinter steht, ist ›Gewusst wo!‹.« Grienend greift sie zum Telefonhörer und wählt.

»Was sollen wir als Nächstes angehen, Nili?«, fragt Robert, nachdem sie den Hörer wieder aufgelegt hat und nach ihrem Kaffeekrug mit der Aufschrift ›Mi querido tinto‹ greift. Während sie einige Schlucke ihres ›geliebten Schwarzen‹ zu sich nimmt, sinniert sie einen Augenblick lang, wie es wohl ihrer Freundin Sandra und ihren kolumbianischen Kollegen gehen mag, mit denen die junge Kitt Harmsen und sie damals den Dschungel auf der lebensgefährlichen Suche nach Coca-Plantagen und Kokainbrauern durchkämmt haben. Auch sie war sehr berührt, als sie am Freitagabend die bekannten Gesichter auf dem Videofilm wiedergesehen und ihre Stimmen gehört hat.

Nili blickt auf und der fragende Blick des Kollegen bringt sie in die Gegenwart zurück. Sie berichtet kurz über die furchtbar verunstaltete Frauenleiche, die man im Forst in der Nähe Kiels aufgefunden hat. Das bringt sie auf einen Gedanken: »Ich denke, wir sollten mal unseren Aktenstoß nach ungelösten Fällen von derart verwerflichen Gewaltakten gegen Frauen durchforsten. Es ist wirklich krank, was sich da so mancher Ehemann oder Lebenspartner gegenüber seiner Frau oder Freundin an Gewalttätigkeiten und Misshandlungen herausnimmt, ohne dass die Missetäter dafür zur Verantwortung gezogen werden!«

»Das Ganze hapert doch meistens an der Scheu oder auch Scham der Geschädigten, ihren Peiniger anzuzeigen«, relativiert Robert, während er sich seine Akten vornimmt, um dem Vorschlag Folge zu leisten. »Und wenn sie es doch mal wagen, dann ziehen sie kurz darauf reumütig die Anzeige wieder zurück, weil …« Er stocTitlekt, weiß er doch gerade nicht, wie er es richtig formulieren soll.

Margrit kommt ihm zu Hilfe. »Weil sich solche Frauen in ihrem Innern immer noch dem Mann untertänig fühlen oder ihm blauäugig vertrauen. Sie verzeihen ihm sogar, wenn er ihnen heilig verspricht, sie nie wieder zu verprügeln.« Während auch sie ihren Aktenstapel durchforstet, setzt sie hinzu: »Was meinen Sie, Ferdl?«

Der Fachinspektor liest gerade in der offenen Akte und schüttelt ungläubig den Kopf: »Das müsst ihr euch mal anhören, Kollegen: Da hab i an Fall derwischt, der vor sechzehn Monate hier in Kiel passiert is. Wann’s das so hörst, wirst ganz schö krawutisch! Gehns, seins so guat, Robert, lesen’s vor, Ihr Hochdaitsch is besser als meins!« Er reicht dem Kollegen den Ordner hinüber.

Robert überfliegt das Geschriebene. Offensichtlich betroffen, räuspert er sich und berichtet: »Ich fasse mal zusammen, was hier drinsteht: Eine gewisse Cindy Frohm, siebenundzwanzig Jahre alt, und ihr Bekannter Rafael Kohlmann, achtunddreißig, waren bei Freunden auf einer Party, bei der ziemlich heftig gebechert wurde. Beide waren mittel bis stark alkoholisiert. Besagter Rafael hatte vergeblich versucht, eine andere Frau anzumachen, die ihn aber abblitzen ließ. Entsprechend wütend bemerkte er plötzlich, dass seine Cindy inzwischen sehr intim mit einem anderen Mann tanzte und es anscheinend willig geschehen ließ, dass dieser – entschuldigen Sie bitte, meine Damen, denn jetzt wird’s etwas krass, also ich zitiere – ihr sein in der Hose markant erigiertes Glied zwischen die Schenkel drückte. Von Eifersucht getrieben, riss er das Paar auseinander und wollte den Mann tätlich angreifen. Nur mit großer Mühe konnten ihn die in der Nähe stehenden Gäste bändigen und ihn von der Gewalttätigkeit abhalten. Nachdem sich die Lage einigermaßen beruhigt hatte, bat der Hausherr die beiden zu gehen, damit die Feier unbelastet fortgeführt werden konnte. Rafael ließ seinen Wagen stehen und das Paar machte sich zu Fuß auf den Nachhauseweg. Unterwegs überschüttete der Kerl seine Begleiterin mit argen Vorwürfen bezüglich ihres unmöglichen Verhaltens, das sie damit rechtfertigte, dass er es ja ebenso mit dieser Bitch im Wintergarten getrieben hätte. Während sie laut streitend durch eine abgelegene Gegend gingen, riss Rafael der Geduldsfaden und er prügelte Cindy windelweich, bis sie mit gespaltener Lippe, blutender Nase und angebrochenem Nasenbein auf den Gehweg stürzte und dort liegen blieb. Angeblich hielt Rafael darauf ein vorbeifahrendes Taxi an und fuhr einfach davon. Ein zufällig vorbeikommender älterer Mann, der seinen Hund Gassi führte, hatte den Vorfall beobachtet und half Cindy wieder auf die Beine. Er griff nach seinem Handy, um die Polizei zu benachrichtigen, Cindy hielt ihn aber davon ab und bat darum, er möge ihr nur ein Taxi rufen. Kurz nachdem sie weggefahren war, kam ein Streifenwagen vorbei und der Zeuge namens Marco Thieslaff, neunundsechzig Jahre alt, schilderte den Beamten den stattgefundenen Vorfall. Diese fertigten daraufhin ein Protokoll an. Nachdem Cindy die ganze Nacht schlaflos und mit starken Schmerzen in einem Hotelzimmer verbracht hatte, fuhr sie in aller Frühe ins Städtische Krankenhaus, wo man neben einem blauen Auge und dem geschwollenen Gesicht auch noch Hämatome auf Brust und Armen feststellte. Man versorgte die Wunden und richtete die Nase. Die behandelnde Ärztin in der Notambulanz – eine Frau Doktor Wohlgast oder Wohlgarten – machte vorsichtshalber Fotos von den Blessuren für das Krankenhausarchiv. Auf die Weigerung der Patientin, Kopien der Fotos mitzunehmen, empfahl sie Cindy jedoch, gegen ihren Freund unbedingt Anzeige wegen körperlicher Misshandlung zu erstatten. Deswegen soll sich Cindy danach doch noch bei einer Polizeistation gemeldet haben. Da sie sich nicht so gut in Kiel auskennt, kann sie sich jedoch nicht mehr genau erinnern, wo diese gelegen war. Sie zeigte Rafael Kohlmann dort namentlich wegen Körperverletzung an. Gemäß ihrer Darstellung wurde zwar die Anzeige von einem Beamten schriftlich aufgenommen, ihr allerdings weder ein Protokoll zur Unterschrift vorgelegt noch eine Aktenzeichennummer bekannt gegeben, sodass sie von dem Vorgang keinen Beleg erhielt. Man soll ihr angeblich nahegelegt haben, die formelle Anzeige an ihrem gemeldeten Wohnort, Gemeinde Schönberg, zu erstatten. Dazu werde sie von der dortigen Polizeistelle eine schriftliche Anforderung erhalten. Eine solche hat sie allerdings nie zu Gesicht bekommen. Als sie in der dortigen Polizei-Zentralstation in der Ostseestraße zwei Wochen später vorstellig wurde, um danach zu fragen, wusste man angeblich nichts von dem Vorgang. Weil sie keine Aktenzeichennummer besaß, konnte man ihr auch hier nicht weiterhelfen. Zwei Monate später erhielt sie überraschenderweise ein Schreiben des Amtsgerichts, in dem ihr auf Antrag der Staatsanwaltschaft – gemäß Paragraph 170, Abs. 2 StPO – ich zitiere: ›Verfahrenseinstellung mangels eines hinreichenden Tatverdachts‹ mitgeteilt wurde. Die Begründung lautete, es stünde Aussage gegen Aussage, da der Beklagte Kohlmann ihrer Schilderung des Tathergangs widersprochen habe und diese als glatte Lüge bezeichnete. Die Frau sei vollkommen betrunken gewesen, deshalb gegen einen Laternenmast gelaufen und gestürzt. Als er ihr zu Hilfe eilen wollte, habe sie ihn unflätig beschimpft und ihn aufgefordert, ›sich zu verpissen‹. Darauf sei er in ein vorbeifahrendes Taxi gestiegen, habe aber mit seinem Handy den Polizeiruf 110 gewählt und ihre Verletzung gemeldet. Deshalb sei wohl auch ein Streifenwagen dort vorstellig geworden.«

 

Robert legt eine Verschnaufpause ein. Während er stumm weiterliest, meint Margrit: »Wenn man das so hört, da möchte man sich doch so einen gemeinen Kerl vornehmen und ihn ordentlich verdreschen, nicht wahr?«

Robert nickt und ergreift wieder das Wort: »Aber jetzt kommen einige wirklich außergewöhnliche Anmerkungen, und es ist mir unerklärlich, wie so etwas hier auftaucht. Hört euch das mal an: Unhaltbare Zustände! Wieso gibt es kein amtliches Protokoll von der Anzeige der Geschädigten? Der Zeuge wurde nicht vernommen – dabei hätte ja die Aussage der Frau bestätigt werden können. Und in der Mitteilung der Verfahrenseinstellung vom Amtsgericht fehlt ebenso der obligate Hinweis auf die gesetzlich geregelte Möglichkeit zum Widerspruch oder zur Beschwerde-Einreichung. Frau Frohm ließ diese aus Unkenntnis verstreichen und konnte nichts mehr unternehmen, sodass der üble Täter unbestraft bleibt! Eine Schande ist das!«

Es folgt allgemeine Ratlosigkeit. Walter Mohr hatte den Arbeitsraum des Teams gerade in dem Augenblick betreten, als Robert Zander mit der Tatschilderung begann. Er meldet sich jetzt zu Wort: »Guten Morgen, Kollegen! In der Tat, eine ziemlich außergewöhnliche Darstellung, die mir da eben zu Ohren gekommen ist! Woher kommt überhaupt diese Akte?«

»Moin, moin!«, klingt es unisono seitens Margrit und Robert.

»Guat’n Morgen, Herr Doktor!«, antwortet Ferdl ebenfalls. »Die hob i heit zufällig auss’n Stapel nauszog’n!« Robert übergibt Waldi den Ordner. Der sieht sich diesen genauer an und es erscheinen einige Falten auf seiner Stirn.

»Diese Fallakte scheint mir ziemlich getürkt! Da hat offensichtlich jemand auf einem älteren Aktendeckel herumradiert und diesen dann neu tituliert.« Er geht an den Telefonapparat auf Nilis Schreibtisch und wählt. »Guten Morgen! Hier spricht EKHK Mohr. Ist zufällig Herr Treumann in der Nähe? Danke, ich warte!« Er blickt hinüber zu Nili, diese nickt ihm zu. »Gut, sollten Sie ihn erreichen, richten Sie ihm bitte aus, er möchte unverzüglich ins Sonderermittlungsbüro kommen, man benötigt hier dringend seine Hilfe. Vielen Dank, Frau Schmeling, und noch einen schönen Tag.« Er beendet das Gespräch und schaut auf. »Wenn der Bote kommt, fragt ihn, woher er die Akte hat, denn die ist nicht koscher. Ich muss jetzt aber weiter, gebt mir dann bitte beim Mittagessen in der Kantine Bescheid!«

Als Waldi aus der Tür ist, meldet sich Nili zu Wort: »Ferdl, seien Sie so gut, schauen Sie mal in unserem Netz nach, ob Sie irgendetwas über den Fall finden, zum Beispiel Anschriften von besagter Cindy Frohm, dem Zeugen Marco Thieslaff und dem mutmaßlichen Missetäter Rafael Kohlmann. Margrit und Robert, Sie fahren bitte zur Polizei-Zentralstation in Schönberg und versuchen, dort Näheres zu erfahren. Fragen Sie deren Leiter, warum man Frau Frohm nicht weitergeholfen hat. Ich kümmere mich um das Städtische Krankenhaus, denn ich will die Ärztin ausfindig machen, die Cindy behandelt hat, und sie fragen, ob wir Kopien ihrer Fotos bekommen können.«

»Chefin, I schau mal ah, ob i vielleicht das Streif’nrevier z’fassn krieg, das die Zeug’naussage aufgn’nomm’n hat! An Datum hamma ja!«, volontiert Ferdl.

Nili nickt ihm anerkennend zu.

»Haben wir überhaupt einen Fall, Nili?«, fragt Margrit ein wenig verunsichert. »Ich meine, weil doch die Akte anscheinend ein Fake sein könnte.«

»Das entscheiden wir, wenn wir ein paar Fakten zusammengetragen haben. Ich vermute, dass jemand diese Akte bewusst und sehr gezielt in unsere Hände manövriert hat, damit in dieser bösen Sache endlich etwas passiert. Die darin geschilderte Darstellung erscheint mir dennoch durchaus plausibel und ich frage mich ernsthaft, ob da nicht irgendwer etwas vertuschen wollte. Jedenfalls ist es der Sachverhalt wert, dass wir ihm nachgehen. Also los, Leute, an die Arbeit!«

*

»Herzlichen Dank, Frau Prinz, sehr gute Arbeit, meine Damen und Herren vom Kriminaltechnischen Institut!«, lobt Staatsanwalt Dr. Uwe Pepperkorn die zum Lagebericht versammelte Ermittlungsmannschaft. »Besonders erfreulich, dass Sie so rasch die Identität der Leiche feststellen konnten!«

Lutz Krause wirft einen raschen Seitenblick auf Koordinatorin Annegret Prinz und räuspert sich, ist ihm doch klar, dass das, was er jetzt sagt, nicht unbedingt nach dem Geschmack der ehrgeizigen Fallanalytikerin sein wird. Dennoch möchte er es – wahrscheinlich gerade deshalb – klarstellen und meldet sich zu Wort: »Ich muss allerdings gestehen, dass dies nicht allein auf unserem Mist gewachsen ist. Es war Frau Kriminalhauptkommissarin Masal, mit der meine Familie und ich am Wochenende zum Essen verabredet waren, die den richtigen Spürsinn hatte und ihren Kollegen Csmarits vom Sonderermittlungsteam veranlasste, die kargen Daten, die auf dem von mir gefundenen Ehering eingraviert waren, weiter zu erforschen. Der wackere IT-Fachmann schlug sich mit der Suche den ganzen Sonntagnachmittag um die Ohren und war glücklicherweise so erfolgreich mit dieser reichhaltigen Ausbeute.«