Das Konzerthaus

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Kapitel 8

3. Mose 17/11

Nora bog mit ihrem Rad knirschend in den weißen Kieselweg ein, der zu ihrem neuen Zuhause in Niendorf führte. Verschwitzt betrat sie ihre frisch renovierte Einliegerwohnung im Souterrain. Wie immer drapierte sie ihren Wohnungsschlüssel so auf dem Tisch, dass er über dem Haustürschlüssel zum Liegen kam. Dann kontrollierte sie die Jacken an der Garderobe, ob sie den richtigen Abstand zueinander hatten. Hierbei ging sie immer gleich vor. Sie legte ihre Hand als Maßband an die Garderobenstange und richtete danach ihre Jacken aus. Jetzt konnte sie endlich Isa begrüßen, die schwanzwedelnd darauf wartete, gestreichelt zu werden. In einer Viertelstunde würde ihr über ihr wohnender Vermieter kommen. Sie waren verabredet. Nora sprang schnell unter die Dusche, ließ „Always on my mind“ von Elvis Presley durch die Boxen dröhnen und dachte über ihren Fall und Melzer nach, während sie leise mitsang.

In Hamburg hatte er es bereits auf die Liste der Hamburger Persönlichkeiten geschafft, denn sein Name war mit dem Bau der Elbphilharmonie und somit eng mit Hamburg verbunden. Allerdings war seine prominente Stellung durch den derzeit durch die Gazetten jagenden Bauskandal um die Elbphilharmonie beschattet.

Nun war er verdächtig, den Baubehördenmitarbeiter Bülow bestochen zu haben, um den Zuschlag für das Bauvorhaben der Elbphilharmonie zu erhalten, was einen erheblichen Imageschaden nach sich ziehen würde, sollte sich dieser Verdacht bewahrheiten. Eine Pressewelle von unglaublicher Schlagkraft und mit nicht zu überschauenden Folgen würde Hamburg überfluten, sollte sich der Vorwurf als richtig erweisen, davon war Nora überzeugt.

Sie hatte im Netz über Melzer recherchiert und herausgefunden, dass er keine Familie hatte und sich engagierte für das Kinderheim „Junge Deerns“, für das er ein Ferienhaus auf Sylt bauen ließ, das kurz vor der Eröffnung stand. Bis auf den Bauskandal zog sich ein tadelloses Profil durch seinen Lebenslauf. Er hatte sich sogar besonders verdient gemacht, als er gemeinsam mit Sabine Spindt, einer ehemaligen Erzieherin des Mädchenheimes „Junge Deerns“, den Skandal aufdeckte, der zur Frühpensionierung der vorherigen Heimleitung geführt hatte. Strukturell bedingte, unwürdige Erziehungsmethoden wurden damals den dort beschäftigten Erzieherinnen vorgeworfen. Die gepeinigten Mädchen bekamen als Strafaktion nichts zu essen oder mussten mitten in der Nacht für mehrere Stunden in einem dunklen Raum im Keller stehen, bis die Beine zu zittern anfingen und sie erschöpft endlich ins Bett gehen durften. Nora schüttelte sich bei der Vorstellung, dass die abhängigen und schutzlosen Mädchen, so schwierig sie vielleicht auch gewesen sein mochten, dieser Quälerei ausgesetzt waren. Melzer hatte sich mit viel Sozialengagement vorbildlich um die Heimbewohnerinnen gekümmert und war sogar, wie Nora ebenfalls im Internet herausgefunden hatte, seit einem Jahr mit der neuen Heimleiterin Sabine Spindt liiert. Alles in allem ein anerkanntes, prominentes Mitglied der Hamburger Gesellschaft, welches lediglich an der einen oder anderen Stelle korrumpierend nachhalf. Wie es wohl die meisten taten, vermutete Nora. Nur Meister passte irgendwie nicht in seine Agenda.

Bevor sie sich einen Rotwein eingießen konnte, klingelte es an der Tür. Sie öffnete sie erwartungsvoll und versuchte gleichzeitig, die bellende Isa zu beruhigen. Vor ihr stand ein älterer Herr, mit schneeweißem Haar, festem, rundem Bauch und einer mit vielen geplatzten Äderchen durchzogenen Knollnase. Er strich sich durch seine lichten Haare und lächelte Nora freundlich an. „Frau Kardinal, herzlich willkommen, ich hoffe, Sie werden sich hier schnell einleben.“

Seine Stimme wirkte aufgrund ihres tiefen Klanges beruhigend auf sie.

„Herr Neumeier, nehme ich an? Ich freue mich sehr, auf gute Nachbarschaft! Stimmt es, dass Sie ein Opernsänger sind?“ Nora trat einen Schritt zurück und bat ihren Vermieter mit einer schwingenden Armbewegung in die Wohnung.

„War, Kindchen, war, meine Stimme ist zu alt. Ach, jetzt singe ich nur noch für mich und meinen Hund.“ Dabei deutete er auf die Pudelmischung zu seinen Füßen. „Oder für Sie, wenn Sie es mögen ...“ Er lachte dröhnend und hielt sich seinen wackelnden Bauch.

„Ich singe auch, also nur so zum Spaß“, sagte Nora verhalten und konnte ihren Blick nicht von dem schwingenden Kugelbauch abwenden. „Ich fahre gleich ins ,Birdland‘, da ist heute Vocalsession.“

„,Birdland‘? Schon mal gehört. Was bedeutet Vocalsession? Wissen Sie, ich bin Klassiker alter Schule.“ Er zuckte mit den Schultern und hob die Augenbrauen.

„Ein Jazzschuppen. Bei der Vocalsession treffen sich die unterschiedlichsten Menschen, die gemeinsam musizieren und singen. Einfach Spaß haben. Mögen Sie mitkommen?“

„Ach, Kindchen, vielleicht ein anderes Mal, heute nicht, aber ich wünsche Ihnen viel Spaß. Wenn was ist, melden Sie sich einfach. Und wenn ich Ihren Hund mal mitnehmen soll, sagen Sie mir ruhig Bescheid. Sie haben sicher viel zu tun.“ Er drehte sich um, hielt sich seinen runden Bauch, hob den Arm nach oben, trällerte die Arie „Nessun Dorma“ und schritt mit seiner älteren Pudeldame würdevoll die Treppe hoch. Oben angekommen, drehte er sich um und zwinkerte ihr zu, wie Peter Frankenfeld auf seiner Showtreppe.

Eine Stunde später radelte Nora los und hörte „Andante Andante“ von Abba. Nora war neben Elvis Presley auch ein großer Fan dieser schwedischen Popgruppe. Durch die Toreinfahrt des „Birdland“ fuhr sie zu den Fahrradständern, schloss ihr Rad an und betrat den Musikclub über die Kellertreppe. An der Garderobe saß eine etwa Mitte fünfzigjährige Frau mit kurzen, grauen Haaren. Sie trug Jeans, einen pinkfarbenen Pullover und lächelte freundlich. Nora zog ihre Kunstfelljacke aus und hängte sie an den Bügel. Sie fasste sich auf den Nasenrücken und bemerkte, dass sie ihre Brille vergessen hatte. Erhobenen Hauptes ging sie durch den Club und lächelte jeden Gast im „Birdland“ an, obwohl sie niemanden erkannt hatte. Nicht, dass es später heißt, die ist aber arrogant geworden, dachte Nora.

Als sie die Ahnengalerie der Jazzkoryphäen an den Wänden erblickte, geriet sie in einen kaum beschreibbaren wohligen Gemütszustand. An der Wand hingen in Öl gemalte, gold gerahmte Bilder von Miles Davis, Billie Holiday, Ella Fitzgerald, Sarah Vaughan und Louis Armstrong. Während Nora über einen der Musiker rätselte, der aussah wie George Clooney in jungen Jahren, stieß sie ein junger Mann an und schaute sie offen an. „Entschuldige, aber du hast mich so freundlich angelächelt, dass ich dich einfach ansprechen musste, aber umrennen wollte ich dich nicht, sorry noch mal. Möchtest du etwas trinken?“

„Ja gerne, einen Primitivo, bitte“, antwortete Nora und fühlte sich etwas überrumpelt, aber die Neugier überwog.

Während sie auf ihr Getränk wartete, erblickte sie die Pianistin für den heutigen Abend, jung, hübsch und mit einem perfekt geschnittenen, akkuraten Pony, nahm sie vor dem schwarzen, glänzenden Flügel Platz. Sie hatte das dunkle, lange Haar zu einem Seitenzopf gebunden und blätterte in ihren Noten. Die Hand des Schlagzeugers ruhte auf ihren Schultern, während er sich an ihr vorbei­schlängelte, um sich an sein Schlagzeug setzen zu können. Er lächelte die Pianistin an, hockte sich auf den runden Lederstuhl, nahm die auf der Snare Drum abgelegten Brushes an sich und drehte sie akrobatisch in seinen Händen. Der Kontrabass wurde von einer zierlichen, schwarzhaarigen, in einem schwarzen Chiffonoverall gekleideten Französin gespielt. Nora nahm allen Mut zusammen und ging zur Pianistin.

Sie streckte ihren Arm aus. „Hallo, ich bin Nora, wie läuft die Vocalsession heute ab?“

Die Pianistin hob den Kopf und begrüßte sie. „Hallo Nora, ich bin Julia und begleite heute die Sänger durch den Abend. Hast du Noten für uns dabei?“

„Ja, ich möchte ,Can’t help falling in love‘ singen, in einer arrangierten Jazzversion.“

„Vor dir sind noch fünf Sängerinnen dran, und dann kommst du an die Reihe.“ Julia lächelte ermutigend und wandte sich sodann konzentriert ihren eigenen Noten zu.

„Bis gleich“, verabschiedete sich Nora und verließ die Bühne, die durch eine Vielzahl an einer langen Leiste angebrachten runden Glühbirnen erleuchtet war. Während sie sich suchend im Raum umschaute, bemerkte sie, wie sich ein Arm hob und ihr zuprostete. Jetzt erst nahm sie ihre Begegnung von eben genauer wahr. Der Mann, der mit ihrem Glas Primitivo auf sie wartete, sah gut aus, hatte aber für Noras Geschmack einen Rotschopf, der einen flotteren Haarschnitt vertragen könnte sowie einen zu lang geratenen Vollbart. Er war in ihrem Alter und trug ein schwarzes T-Shirt, auf dem ein verknoteter Kabelaufdruck zu sehen war, der an einem viereckigen Kasten hing.

„Hey, arbeitest du für die Telekom?“, wollte Nora scherzhaft wissen und wartete nicht auf seine Antwort. So gelungen fand sie ihre scherzhaft gemeinte Bemerkung nämlich nicht. Wahrscheinlich hörte er das häufiger.

„Wie heißt du?“

„Mike, Mike Hummel, nein, ich arbeite nicht für die Telekom, aber ich bin ein Fan vom CCC. Chaos Computer Club“, fügte er hinzu, ohne dabei belehrend zu wirken. „Und du? Wie nennt man dich?“

„Nora“, antwortete sie, nahm neben Mike an einem kleinen, runden Tisch Platz und legte ihr Handy auf den Tisch. Der Laden war voll mit jungen, aber auch älteren Musikinteressierten. Die Stimmung war vergleichbar mit einer Mischung aus Familientreffen, Abiturfeier und musikalischer Buchlesung. Aufgeregt schnatternde Teenager, wie vor Beginn einer Klassenfahrt, in Begleitung ihrer Familienangehörigen einerseits. Und ältere, intellektuelle Jazzliebhaber, die das Geschehen eher verhalten genossen, andererseits. Nora mochte vor allem das zwanglose Ambiente und fieberte mit jedem Künstler mit. Sie trank einen Schluck von dem beerigen, weichen Wein und schenkte ihre Aufmerksamkeit der ersten Sängerin. Eine ältere, sehr schlanke Frau mit weit aufgerissenen Augen, die ein T-Shirt aus Spitze trug, allerdings ohne Büstenhalter. Sie interpretierte auf dramatische Weise einen Jazzstandard, den Nora nicht kannte. Die Sängerin starrte in die Ferne, und Nora fand, dass sie aufgrund ihres gezierten Blickes wirkte, als sei sie seit Kurzem vom Wahnsinn befallen. Im gleichen Moment, da sie das dachte und sich für die Sängerin fremdschämte, tat es ihr leid. Auch in solchen peinlichen Momenten durfte man nie außer Acht lassen, dass diese Interpreten Respekt verdienten für das, was sie taten. Auch wenn es scheußlich war.

 

Höfliches Klatschen füllte den Raum, nachdem die Sängerin die Bühne verlassen hatte. Sodann betrat eine junge, zierliche Frau die Bühne, stellte sich an den Kontrabass und stimmte leise auf Französisch „Autumn leaves“ an und verzauberte Nora und die anderen Gäste mit ihrer Darbietung.

Mit Mike verstand sich Nora auf Anhieb, und sie plauderten angeregt. Er erinnerte sie an ihren alten Schulfreund Sepp aus München, der die gleichen spitzbübischen Augen hatte und mit dem sie viel Zeit verbracht hatte. Einmal, als sie zwölf Jahre alt waren, schrieben sie auf kleine Zettel: „Kohl muss weg, hat kein Zweck“, und verteilten diese munter in die Briefkästen der umliegenden Nachbarschaft. Dieses politische Engagement hinderte sie aber nicht daran, sich auf einer CSU-Wahlveranstaltung hungrig mit Würstchen vollzustopfen.

Nora wurde unruhig, da sie gleich an der Reihe sein würde, aber vor allem, weil ihr die Menschenmassen zu schaffen machten. Sie zählte die Birnen in den Leuchtleisten, konnte aber keine Erleichterung erreichen. Ihre unkontrollierbaren Gedanken nahmen erneut von ihr Besitz. Was wäre, wenn ein Einbrecher käme und Isa bellte und ihr etwas zustieße ...?

„Aller guten Dinge sind drei,

sagten drei kleine Dreikäsehoch

und kauften drei Brote,

Schwarzbrot, Graubrot, Weißbrot,

bevor sie sich dreimal bekreuzigten“, murmelte sie leise vor sich hin und bekreuzigte sich dreimal.

„Was hast du?“, fragte Mike. „Wieso bekreuzigst du dich?“ Er legte seine Hand auf ihren Arm und schaute sie an.

Nora antwortete nicht. Jetzt musst du dreimal bis dreißig zählen, und dann wird alles gut, dachte sie und zählte, während eine weitere Sängerin „Cry me a river“ sang, was aber nur wie durch eine dicke Nebelwand zu ihr durchdrang.

Sie wiederholte den Vers wie ein Mantra, zählte dreimal bis dreißig und spürte, wie die Anspannung von ihr abließ und sie ruhiger wurde.

„Mann, Nora, du bist aber echt schräg drauf“, sagte Mike und schaute sie an. „Wirst du heute auch singen?“, wechselte er das Thema und deutete auf ihre Noten.

Nora antwortete nicht und blätterte nervös durch ihre Sheets, während sie die Band betrachtete, die professionell ein Lied nach dem anderen interpretierte und vergnügt zu sein schien.

Sie nahm ihren Mut zusammen, stand ruckartig von ihrem Stuhl auf und betrat den Musikern zugewandt die Bühne. So bemerkte sie nicht, wie sich Mike konzentriert seinem Handy zuwandte.

Dann wollen wir mal schauen, dachte er, wie wir den Trojaner auf dein Handy kriegen ... Mmmh, wo ist deine MAC-Adresse ...

Schnell fand Hummel in seinem Gerät die Kennung 00-60-63-mr-kw-4r, die Adresse, die er vor wenigen Tagen bei Nora mittels WLAN-Sniffing identifiziert hatte. Dazu musste er sie mit seiner Technik bloß eine Weile begleiten. Eigentlich ganz simpel.

Wie schön, du machst es mir einfach, Bluetooth ist aktiviert. Hummels Finger tippten ein letztes Mal über das Display.

So, dieser kleine Trojanerfreund ist für dich, liebe Nora. Nach nur wenigen Minuten hatte Hummel Noras Handy erfolgreich angegriffen.

Mit geschlossenen Augen stand Nora auf der Bühne und sang. Die Zuhörer hatte sie in ihren Bann gezogen, und sie selbst war zu Gast in einer Klangwelt, in der die Musik und die Geschichte des Songs ihren Körper vollständig durchdrangen. Auch Mike hörte dem Rest des Songs zu und ließ sich von der Musik davontragen. Ja, für einen Moment hatte er vergessen, warum er hier war, und ihn überfiel ein schlechtes Gewissen.

Als die letzten Noten verklungen waren, nahm Nora mit geöffneten Augen den Applaus ihres Publikums entgegen. Sie lächelte, bedankte sich bei den Musikern und der Pianistin Julia Berend per Handschlag und plauderte noch eine Weile mit Mike Hummel, bis es fast Mitternacht wurde. Am Ende des Abends sang sie noch für die letzten drei hartgesottenen Clubgäste und Mike Hummel „Will you still love me“ von Carol King, verabschiedete sich von ihm und fuhr, erfüllt von dem Abend, mit dem Song „Thank you for the music“ im Ohr nach Hause. Am scheensten is‘, wenns schee is‘, dachte sie und schlief beseelt ein.

Mike Hummel trat als Letzter aus der Clubtür, zog sein Handy aus der Hosentasche und tippte seine WhatsApp-­Nachricht an seinen Kontaktmann Röpke.

Der Adler ist gelandet!

***

Als sich am frühen Sonntagmorgen im Volkspark langsam der Nebel hob und die aufgehende Sonne den gefrorenen Boden erwärmte, reckte sich auf einem Hügel eine mehrere Hundert Jahre alte Eiche mit ihren knorrigen Zweigen dem stahlblauen Himmel entgegen. Durchbrochen wurde die Stille durch das Plaudern und Lachen einer kleinen Rentnergruppe. Deren Kursleiter Rene Schmitz, ein rüstiger älterer Herr mit einem langen weißen Zopf und einer braunen Wollmütze, die mit dem Logo des FC St. Pauli verziert war, legte seinen Rucksack beiseite und ließ die Holzstöcke für die Teilnehmer scheppernd zu Boden fallen. Hastig verließ er die bewegungshungrige Rentnergruppe, die sich noch auf den Kursanfang vorbereitete und die schweren Winterjacken gegen leichtere, wärmende Sportjacken austauschte. Der Kursleiter bestieg den Hügel zur alten Eiche, passierte den in die Jahre gekommenen Baum und trat an eine dichte Strauchreihe, um sich, vor neugierigen Blicken geschützt, zu erleichtern. Selig blickte er in die Ferne, während er seine Notdurft verrichtete. Am Ende stellte er sich kurz auf die Zehenspitzen, schüttelte seinen Arm und verpackte mit einem leichten Hüftschwung sein Geschlechtsteil in seiner Sport­hose. Während er seine Kleidung ordnete, drehte er sich um, lief einige Schritte in Richtung der knorrigen Eiche, an der er die auf dem Boden abgelegte Leiche von Denis Berend erblickte. Am Stamm des Baumes war dessen Kopf so drapiert, dass Schmitz ihm direkt auf den aufgeschnittenen Hals schauen konnte. Der Tote war nackt und blass. Nur seine Hüften waren durch einen rosafarbenen Rock bedeckt. Schmitz riss die Augen weit auf und starrte auf seine Entdeckung. Nach einer Weile, ihm kam es wie eine Ewigkeit vor, fiel sein Blick auf eine auf dem Schoß platzierte und an den Oberkörper der Leiche angelehnte Leinwand, die rot beschrieben war. Er las die Zeilen mehrmals, als würde er dadurch besser verstehen können, was dort zu lesen war. Schließlich begann er den Text leise vor sich hin zu murmeln:

„Denn das Leben des Fleisches ist im Blut und ich habe

es euch für den Altar gegeben. Denn das Blut ist es,

das durch Leben Versöhnung erwirkt. Im Blut war die

Seele und Gott beansprucht die Seele.

3. Mos. 17/11.

Auf dass ihr euch Gott wieder nähern könnt!“

Schmitz führte seine Hand in die Hosentasche, kramte nach seinem Handy und drückte hektisch die Tasten. Am anderen Ende hörte er die verschlafene Stimme seines Freundes.

„Mensch, Rene, wie spät ist es? Ich hab frei. Wieso weckst du mich so früh? Ist etwas passiert?“, erkundigte sich sein Freund mit müder Stimme.

„Hör zu! Halt dich fest. Ich habe hier eine Leiche entdeckt, ganz übel zugerichtet, mit einem Bibelspruch versehen. Ich ruf gleich die Polizei an, aber ich dachte, für dich wäre das ein schönes Foto zu einer guten Geschichte. Passiert ja nicht alle Tage. Schnapp’ dir deine Kamera, beweg deinen Hintern und komm zu der Eiche, an der ich immer den Tai-Chi-Kurs mache!“

Peter Hemmlos vom Hamburger Tagesblatt machte einen Satz aus dem Bett, sprang hüpfend in die am Abend zuvor auf den Boden geworfene Hose, verlor das Gleichgewicht und fiel mit einem lauten „Rums“ zu Boden, sodass er befürchtete, dass sich seine ewig nörgelnde Nachbarin sicher bei passender Gelegenheit wieder beschweren würde.

Hemmlos rappelte sich auf, zog sich an, griff mit links seine Kamera, mit rechts seine Jacke und rannte zu seinem Auto.

Keuchend und außer Atem erreichte er die Eiche und registrierte erleichtert, dass die Polizei noch nicht erschienen war. Allerdings stand das Rentnergrüppchen, das sich nicht entgehen lassen wollte, den Grund für den Kursausfall näher zu betrachten, im Halbkreis vor der Eiche. Einer der Kursteilnehmer trat aus der Poleposition einen Schritt zur Seite, nachdem Hemmlos ihn unsanft an der Schulter weggedrückt hatte. Die vor seinem Bauch schaukelnde Kamera nahm er mit einem schnellen Handgriff hoch, kniff ein Auge zu und drückte den Auslöser. Der Shuttersound des Auslösers gab der bizarren Stimmung etwas Reales. Hemmlos sicherte sich in einer Nanosekunde eine Serienaufnahme des schrecklichen Fundes, bevor die jede Sekunde eintreffende Schutzpolizei ihn an seiner Arbeit würde hindern können.

Routiniert sperrten die eingetroffenen Beamten den Fundort ab, informierten die Bereitschaft der Mordkommission und schoben Hemmlos und die verbliebenen Kurs­teilnehmer, von denen einige Erinnerungsfotos geschossen hatten, zur Seite.

Während Hemmlos in die Redaktion fuhr, um seine Bilder anzubieten, erreichten Nora und ihr Kollege Pieter den Fundort. Nachdem die Spurensicherung ihre Arbeit verrichtet und der Rechtsmediziner Dr. Christian Manz eine erste Leichenschau vorgenommen hatte, näherten sich Nora und Pieter der am Boden abgelegten Leiche.

„So wie der hier sitzt und aufgebahrt ist, war hier sicher nicht der Tatort, dafür muss man kein Profiler sein“, murmelte Nora und fuhr fort: „Das ist ein religiöser Fanatiker. Ach du Scheiße, lies dir diesen alttestamentarischen Scheiß mal durch!“, entfuhr es ihr, und sofort entschuldigte sie sich. „Sorry, aber mit der Religion hab ich es nicht so.“

Pieter winkte mit einer Handbewegung ab. „Alles gut, Nora, das kränkt mich nicht“, entspannte er die Situation. Zum Rechtsmediziner gewandt, sagte er: „Wir versuchen, am Montag früh gleich die richterliche Obduktionsentscheidung zu erwirken. Können wir am Montag am frühen Nachmittag mit den ersten Ergebnissen rechnen, Herr Doktor Manz?“

„Ja, ich versuch es zu schaffen“, antwortete Manz und betrachtete den Hals des Opfers.

„Der Angriff auf den Hals erfolgte mittels scharfer Gewalteinwirkung, aber das seht ihr ja selbst, nehme ich an. Die Leichenstarre scheint vollständig ausgebildet zu sein. Im Kieferbereich löst sie sich bereits. Der Todeseintritt war mutmaßlich vor vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden. Alles Weitere am Montag“, verabschiedete sich Dr. Manz.

„Ich werde es Alexander, so schonend ich kann, beibringen“, sagte Pieter, der den Bruder seines Kollegen vom Sehen kannte, legte seinen Arm um Noras Schultern und zog sie vom Fundort weg.