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Dunkelheit über Tokyo – 1

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Sie sah Teru in die Augen. »Wirst du zum Schrein gehen, wenn ich nicht mehr bin?«

»Aber Obaachan, sag doch nicht so etwas. Du lebst doch noch ganz lange.«

»Ich meine es ernst, Teru. Versprich es mir. Bitte.«

»Na gut. Ich verspreche es.«

An dieses Versprechen hatte sich Teru ihr ganzes Leben lang gehalten. Bis ins hohe Alter war sie regelmäßig zum Schrein gegangen und auch jetzt war sie nur ein paar Wochen zu Hause geblieben, weil sie eine schwere Erkältung gehabt hatte.

Doch nun war der ganze Schrein verlassen. Es gab keinen Priester mehr und gewiss war seit Tagen niemand mehr hier gewesen, um zu beten. Teru stand vor dem Haiden und fühlte sich mit einem Mal ganz klein und hilflos. Sie war plötzlich vier Jahre alt, wie ihre Großmutter, als sie den Kami das erste Mal traf. Sie spürte, wie sich etwas hinter ihr aufbaute, etwas Gewaltiges, etwas von ungeheurer Kraft.

Teru drehte sich um.

1

Natürlich war Takeo schon ein paar Mal in der Provinzhauptstadt gewesen. Und Tokyo, dachte er, wäre sicher auch nicht anders, nur eben noch größer. Zumindest hatte er sich das eingeredet. Wie viel größer, das wurde ihm erst klar, als der Shinkansen Schnellzug nach endlosen Industriegebieten durch die Vororte der Stadt sauste. Schon hier gab es große Wohnblocks, Einkaufszentren und Pachinko-Hallen, wahrscheinlich war jede dieser Vorstädte größer als die Stadt, die bisher für ihn das Maß aller Dinge gewesen war.

Die Gleise machten eine sanfte Kurve und der Zug schoss geräuschlos auf Stelzen über weiße, graue und braune Wohnsilos, die aussahen, als hätte ein Kind sie achtlos hingeworfen. Obwohl sie immer noch mit hoher Geschwindigkeit dahinfuhren, brauchten sie noch über eine halbe Stunde, bis eine freundliche Frauenstimme die Fahrgäste darauf hinwies, dass sie bald am Bahnhof Ueno ankommen würden.

Takeo konnte seinen Blick nicht vom Häusermeer abwenden, das unter ihnen lag. Wohnten wirklich in allen Häusern Menschen? Aßen sie dort, sahen sie fern, badeten sie – lebten sie dort? Und in der nächsten Wohnung, gleich daneben, war wieder eine andere Welt, mit anderen Menschen …

So in Gedanken versunken war er, dass er beinahe nicht gemerkt hätte, wie der Zug abbremste. Einige der Reisenden erhoben sich. Takeo erschrak, als sich direkt vor ihm ein hünenhafter, blonder Mann aus seinem Sitz erhob. Er hatte hellgraue Augen und seine Haut war so rosig wie die eines kleinen Schweins. Bisher hatte er Gaijin nur im Fernsehen gesehen. Koharu, ein Mädchen aus seiner Klasse, hatte zwar behauptet, sie hätte einen Onkel aus Amerika, aber vielleicht wollte sie sich auch nur interessant machen, denn niemand hatte ihn je gesehen.

Schnell sah Takeo woanders hin. Er war entschlossen, sich nicht als Hinterwäldler zu outen und starrte mit dem gleichen leeren, desinteressierten Blick vor sich hin, den er bei seinen Mitreisenden beobachtet hatte.

»Oioioi, das ist aber eine große Stadt. Wahnsinn, so was Großes, oder?« Oh nein, dachte Takeo. Der Akzent kam ihm bekannt vor; es klang nach einem alten Mann aus Takeos Heimat. Jetzt bloß nicht umdrehen.

»Oi, oi, oi. Wo ist denn der Tokyo Tower, mein Junge? Den muss man doch sehen«, jetzt tippte er ihm von hinten auf die Schulter. Notgedrungen wandte Takeo sich um. Vor ihm stand ein alter Mann in einer grauen, angesichts des überheizten Zugs viel zu dicken Jacke.

»Meine Tochter hat nämlich gesagt, dass sie da in der Nähe arbeitet. Aber wie soll man den denn sehen vor lauter Häusern?« Takeo nickte unsicher. Die dunkle Haut des Mannes verriet, dass er sich meist draußen aufhielt.

»Sie arbeitet bei einer großen Firma. Am Empfang. Eine ausländische Firma«, betonte er und sah den Gaijin an, als erwarte er einen Kommentar von ihm. Der Mann blickte ausdruckslos zurück. Hoffentlich hat er das nicht verstanden, dachte Takeo.

Dann griff er in eine Tüte und zog etwas heraus.

»Da! Damit du mal was Ordentliches isst.« Strahlend hielt er dem Jungen einen Apfel hin. Takeo bedankte sich und nahm ihn entgegen. Auch die umstehenden Reisenden bekamen Äpfel, wobei der Mann die Qualität seiner Früchte lobte. Takeo war das Ganze peinlich, Äpfel waren der ganze Stolz seiner Heimat und er hatte Angst, dass der Alte ihn als Landsmann erkennen könnte.

Zum Glück fuhren sie in diesem Augenblick in den Bahnhof ein und der Zug hielt an. Mit einem leisen Zischen öffnete sich die Tür und die Kolonne setzte sich in Bewegung. Auf dem Bahnsteig verabschiedete sich Takeo von dem alten Mann und bat ihn, seine Tochter zu grüßen.

»Mach ich! Heute wollen wir Sushi essen gehen!«

Der Bahnhof wimmelte von Menschen, es schien Takeo wie ein Wunder, dass sie nicht ständig zusammenstießen. Es erinnerte ihn an die Ameisenhaufen, die er als Kind immer wieder beobachtet hatte. Fasziniert betrachtete er die unterschiedlichen Menschen. Büroangestellte in dunklen Anzügen und mit akkurat gescheiteltem Haar hetzten zu ihren nächsten Terminen. Ein paar Mädchen mit aufwendigen Perücken und barocker Fantasiekleidung schlenderten neben ihm. Mit ihren manikürten Fingern tippten sie desinteressiert auf Handys herum, an denen unzählige kleine Plüschfiguren hingen. Wenn einer der Passanten eine Kamera zückte, um ein Foto zu machen, warfen sie sich sofort in Pose und zeigten ebenso routiniert wie gelangweilt das »Peace«-Zeichen.

Zwei ältere Frauen in Kimonos unterhielten sich laut darüber, welchen Zug sie nehmen müssten oder ob ein Taxi nicht doch die bessere Wahl gewesen wäre.

Ein europäisch aussehender Mann schob einen Kinderwagen, neben ihm ging seine Frau. Noch nie hatte Takeo einen derart riesigen Kinderwagen gesehen, der musste doch überall anecken. Und überhaupt, warum schob der Mann den Kinderwagen? Wenn in seinem Dorf ein Mann einen Kinderwagen schieben würde, würden sich die anderen wahrscheinlich noch Jahre später darüber lustig machen.

Eine schicke junge Frau im adrett sitzenden Businesskostüm eilte in Richtung Ausgang. Das gibt’s bei uns nicht, dachte Takeo. Ihr Gesicht schien völlig makellos, wie das einer Puppe, und sie musterte die Menschen mit einer bewundernswerten Gleichgültigkeit.

Am Ausgang stand eine lange Reihe Taxis. Takeo steuerte auf das erste zu. Die hintere Tür öffnete sich automatisch, der Fahrer stieg aus und nahm ihm den Rucksack ab. Er öffnete den Kofferraum und legte ihn hinein.

Takeo nannte sein Ziel. Der Taxifahrer hielt inne und sah Takeo an.

»Da willst du hin? Mit dem Taxi? Bist wohl neu hier, was?«

»Wieso?«

»Pass mal auf, junger Mann. Du denkst vielleicht, Aomori ist ›ne große Stadt. Aber das ist ein Dreck verglichen mit Tokyo. Wenn ich dich da hinbringe, wo du hinwillst, bist du ein armer junger Mann.« Er legte den Kopf schief und musterte ihn. »Weil, so reich siehst du mir nicht aus.«

Takeo errötete.

»Okay, ich gebe dir einen Tipp. Geh noch mal rein in den Bahnhof und such die Yamanote-Linie. Das ist die Linie, die den großen grünen Kreis fährt. Immer im Kreis. Die nimmst du und fährst bis Ikebukuro. Und dann schaust du weiter. Alles klar?«

Takeo nickte unsicher und bedankte sich. »Hey!«, der Taxifahrer hielt die Hand auf, »Kriege ich keinen Apfel?«

»Das – also … ich …«

»Ein Scherz!«, lachte der Mann und klopfte ihm auf die Schulter, »Nur ein Scherz!« Gut gelaunt drückte er Takeo wieder seinen Rucksack in die Hände und ließ ihn verdattert stehen. Takeo ärgerte sich. Warum wussten nur alle, woher er kam? War sein Akzent wirklich so schlimm? Er blickte an sich herab. Oder verriet ihn seine Kleidung? Seufzend schulterte er seinen Rucksack und machte sich wieder auf den Weg.

Es war bereits dunkel, als er das Haus erreichte, in dem sein Onkel lebte. Ein freundlicher Polizist in einer winzigen Polizeibox hatte ihm geduldig den Weg erklärt, sonst hätte er es wohl nie gefunden. Er war nervös und ihm fiel ein, dass er gar kein Geschenk dabei hatte. Zum Glück hatte er am Eck einen Convenience Store gesehen. Rasch ging er dorthin zurück.

Die strahlend hellen Neonröhren im Laden taten seinen Augen weh. Er überlegte, ob er Bier oder Sake kaufen sollte, oder doch das billigere, bierähnliche Malt? Er beschloss, sich nicht lumpen zu lassen und entschied sich für zwei große Dosen echtes Bier. Yebisu, das hatte sein Vater getrunken, wenn er etwas feiern wollte. Dazu noch etwas zu knabbern. Das Mädchen an der Kasse sah ihn prüfend an.

»Darfst du überhaupt schon Bier trinken?«

»Äh, ja … natürlich.« Takeo räusperte sich und versuchte, erwachsen zu wirken. Vermutlich wenig überzeugend, dem Mädchen schien das aber zu genügen.

»Okay.« Gleichgültig scannte sie seine Waren, auf dem Display der Kasse erschien die Summe. Als Takeo in seinem Geldbeutel kramte, stellte er fest, dass seine Barreserven bereits erschreckend zusammengeschmolzen waren.

»Wenn du kein Geld hast, kannst du mich auch in Äpfeln bezahlen.«

Takeo sah das Mädchen an und spürte, wie er knallrot anlief.

»Entschuldige, das war ein dummer Scherz. Wirklich. Es tut mir leid.« Sie verbeugte sich, griff dann unter die Theke und packte ein paar Mini-Tütchen mit Knabberzeugs mit in die Tüte. »Hier, das ist für dich. Gratis-Service.«

Aus irgendwelchen Gründen war das Mädchen auch rot geworden. Immerhin – vielleicht war ihr der Scherz ja wirklich peinlich gewesen. Takeo bedankte sich und verließ den Laden.

Als er bei seinem Onkel klingelte, fragte er sich, ob es nicht schon zu spät sei. Aber schließlich hatte sein Onkel ihm ja immer wieder versichert, dass er jederzeit zu ihm kommen könne. Er hielt den Atem an.

 

Schlurfende Schritte näherten sich der Tür und blieben dann stehen. Vielleicht sah sein Onkel durch den Türspion. Takeo lächelte. Dann öffnete sich die Tür.

»Guten Abend, Masao-ojisan!«

»Ah, Takeo-kun, was machst du denn hier?«

»Naja, du hattest doch gesagt, ich könne jederzeit …«

»Ach so … ja.« Er warf einen Blick auf Takeos Rucksack. Er sah übermüdet aus, fand Takeo. Bekleidet war er lediglich mit einem schon etwas abgetragen aussehenden Bademantel. Vielleicht war er gerade aus der Badewanne gekommen.

»Was ist denn?«, meldete sich eine Frauenstimme hinter dem Onkel.

»Nichts, falsche Tür.«

Als Takeo ihn entsetzt ansah, entschuldigte er sich: »Heute ist es grad ungünstig. Du verstehst das sicher.« Er lächelte und zeigte mit dem Kopf nach hinten, »Gomen, ne.«

»Masao-chan? Komm doch wieder ins Bett …«

Er zwinkerte Takeo zu. »Ich komme, Liebling.«

Dann kramte er in einer Tasche neben der Tür und steckte Takeo ein paar Scheine zu.

»Geh ins Kino oder so. Komm doch morgen wieder, sagen wir … 10 Uhr? Bis dann!« Damit schlug er die Tür zu und Takeo war wieder allein.

Im giftgrün gestrichenen Flur zählte Takeo das Geld, das ihm sein Onkel gegeben hatte: 900 Yen. In was für ein Kino sollte er damit gehen? Takeo war sauer, aber er traute sich auch nicht, nochmals zu klingeln. Verdammt, warum hatte er auch nicht vorher angerufen? Natürlich wusste er, warum. Er hatte befürchtet, dass es seinem Onkel nicht passte und er sich dann niemals nach Tokyo wagen würde. Aus dem gleichen Grund hatte er sich auch von niemandem verabschiedet; weil er Angst hatte, dass er sich zum Bleiben überreden lassen würde.

Eine Frau mittleren Alters ging an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Er war aber sicher, dass sie ihn genau betrachtet hatte. Naja, hier konnte er sowieso nicht bleiben. Eine Weile stand er noch vor der Tür, dann ging er langsam die Treppe hinunter.

Dunkel war die Gasse und der Asphalt war ein schwarzes Loch, das direkt in die Hölle führte. Einzig der Himmel schimmerte gelblich und betonte die grotesken Silhouetten der eng zusammenstehenden Häuser. In diesem Augenblick schaltete die Ampel an der großen Straße auf grün und ließ ihre Melodie ertönen. Unbewusst murmelte Takeo den Text des Kinderlieds mit.

Geht hindurch, geht hindurch.

Wohin führt dieser enge Pfad?

Es ist der schmale Pfad zum Tenjin Schrein.

Hineingehen ist einfach, doch der Rückweg ist grauenvoll.

Geht hindurch, geht hindurch.

Auf einmal schien es ihm, als ginge er durch völlige Dunkelheit, doch als er hochblickte, war der Himmel von dem gleichen blassen Gelb wie vorher. Er schüttelte sich, um den bösen Traum loszuwerden.