Das Messias Casting

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Milwaukee

Jeden Augenblick würden die ersten Läufer auftauchen. Atemlos berichtete der Ansager vor Ort, wer gerade vorn lag. Elijah sagten die Namen nichts. Klar, er hatte auch keine Ahnung von Triathlon. Aber er hatte seiner Mutter versprochen, etwas mit Matt zu unternehmen, und der Milwaukee Triathlon genoss anscheinend eine gewisse Bekanntheit. Okay, es war nicht der New York Marathon, aber immerhin. Und man konnte kostenlos zusehen, zumindest wenn man sich damit zufriedengab, dass man nicht auf der schicken Zuschauertribüne direkt am Zieleinlauf saß, sondern etwas weiter vorne am Straßenrand stand. Er warf einen Blick auf Matthew. Der Junge schien sich mehr für eine schwarzhaarige Frau auf der Tribüne zu interessieren als für den Sport. Naja, es war ja auch noch nichts zu sehen.

»Wie lange dauert das hier eigentlich? Ich habe später noch Bandprobe …« Matt schüttelte seine langen, dunklen Haare. Elijah hasste es, wenn er das tat. Warum ließ sich jemand die Haare so lange wachsen, dass er kaum noch aus den Augen sehen konnte? Dazu das Bürsten, Haarewaschen und Föhnen, was für ein Aufwand. Das war doch weibisch.

Seine Blicke wanderten wieder auf die Tribüne. Die Frau trank einen Schluck Cola Light aus der Dose und warf den Kopf nach hinten. Sie hatte einen langen, hellen Hals, der einen starken Kontrast zu ihren dunklen Haaren bildete. Die Haare sahen irgendwie zu schwarz aus, fast schon blau. Sicher gefärbt, das würde Mutter nicht gefallen, obwohl sie ihre Haare selbst kolorierte, seitdem sie graue Strähnen darin entdeckt hatte. Die Lippen waren auch zu rot, das Gesicht ein wenig zu blass. Sie sah ja aus wie eine Puppe. Oder wie Schneewittchen. Hatte sie gerade hergesehen? Aber wer könnte auf diese Entfernung schon sagen, wen sie angeschaut hat. Er bemerkte, wie er sich automatisch in Pose warf, und ärgerte sich darüber. Mit so einer, das würde sowieso nichts werden. Die ging sicher auf eine teure Uni und ihr Vater war Rechtsanwalt oder Arzt oder so etwas. Sie fuhr ein rotes BMW Cabrio und ging jedes Wochenende auf schicke Partys mit ihren Freundinnen und Freunden, die ebenso reich waren. Kenny hatte mal was mit so einer, das war nicht lange gut gegangen. Felicity war ihr Name gewesen, sie hatte lange, blonde Haare gehabt und hervorragend gemachte C- oder D-Cup Titten. Echtes Kunsthandwerk, hatte Kenny damals gescherzt. Seine Witze waren ihm bald vergangen, denn nach zwei Wochen war Schluss gewesen und jemand anderes erfreute sich an Felicitys Talenten. Das war vor einem halben Jahr gewesen und der ärmste trauerte ihr immer noch hinterher, obwohl allen anderen von Anfang an klar gewesen war, dass sie nur mit ihm gespielt hatte.

Immerhin war Matt nicht schwul. Der Sohn der Bernards von gegenüber, so ein Dürrer, Rothaariger, hatte sich als homosexuell geoutet und seine Eltern waren völlig verzweifelt. Reverend Hornbine war dabei auch keine große Hilfe, zum Entsetzen der Eltern meinte er, dass das ›nicht so schlimm‹ sei und sich in vielen Fällen noch gebe. Vater Bernard hatte geschworen, er werde dem Jungen sein Verhalten ›austreiben‹, er würde niemals eine Schwuchtel unter seinem Dach dulden und ihm diese Perversion schon abgewöhnen. Elijah schauderte bei dem Gedanken, wenn er sich vorstellte, wie er das tun wollte.

»Deine Band. Du weißt, was Mutter und ich davon halten.« Elijah sah es nicht, aber er konnte ganz genau spüren, wie Matt die Augen verdrehte. »Nichts gegen Musik, aber wir finden –«

»Ich weiß, aber mir ist sie wichtig«, unterbrach Matt ihn. Er hatte ja recht, diese Diskussion hatten sie schon oft genug geführt. Und irgendwie war es auch gut, dass ihm seine Band etwas bedeutete. Das sagte er Matt natürlich nicht. Aber es war immer gut, wenn sich Menschen für etwas interessierten. Diese Selbstmörder, die hatten sich für nichts interessiert, hatte der Reverend gesagt. Denen war alles so egal, dass sie am Ende sogar ihr Leben weggeworfen hatten, das Gott ihnen geschenkt hatte. Warum aber musste Matt sich ausgerechnet für eine Band so begeistern? Das war doch keine Zukunftsperspektive.

Elijah drehte sich zu seinem kleinen Bruder und verwuschelte ihm die Haare.

»Hey, lass das!« Lachend wehrte Matt die Attacke ab und richtete seine Haare wieder her.

Elijah sah ihn nachdenklich an. Sein kleiner Bruder war groß geworden. Sicher würde er bald eine Freundin haben, die Mädels schienen sich ja nicht an den langen Haaren zu stören. Oder hatte er längst eine? Wenn er über all dem nur nicht die Schule vernachlässigte. Der Kleine war clever und er sollte es einmal besser haben als er selbst. Den ganzen Tag in einer lauten, schmutzigen Autowerkstatt, das wäre nichts für Matt. Matthew, da waren er und Mutter einig, war für Höheres berufen. Er sollte einmal Priester werden. Der Reverend wollte sie dabei auch unterstützen. Nur entscheiden müsste sich der Junge selbst.

Er unterdrückte ein Gähnen. Dass er so müde war, daran war dieser verdammte, uralte Mercury schuld, bei dem sie am Vortag das Getriebe ausgebaut hatten. Bis spät in die Nacht. Wer so eine Mühle fährt, kann doch nicht erwarten, dass seine Kiste am nächsten Morgen wieder fahrbereit da steht. Warum nahmen sie überhaupt solche Aufträge an? Klar, weil sie sonst gar nichts zu tun hätten. In jeder vernünftigen Werkstatt hätten sie dem Kunden ins Gesicht gelacht, wenn er mit so einem Ding aufgekreuzt wäre. Er seufzte. Das war echte Knochenarbeit gewesen. Immerhin hatte er dafür heute einen halben Tag frei nehmen dürfen. Naja, wenn das Rennen endlich zu Ende war, würden sie sich noch einen Chili Dog genehmigen, dann hätte der Ausflug immerhin etwas Gutes gehabt.

Er sah sich um und schrak zusammen. Direkt hinter ihm stand ein dicker Polizist und sah ihn direkt an. Elijah nickte ihm leicht zu und der Officer nickte zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

In einer Seitenstraße schlich ein hellblauer Ford Tempo dahin. Es waren sonst keine Autos unterwegs. Klar, die Innenstadt war ja gesperrt, wahrscheinlich durften heute nur Anwohner und Lieferverkehr für die ansässigen Geschäfte fahren.

Warum sind eigentlich alle Ford Tempo hellblau, fragte er sich. Der Tempo war ein gutes Auto, Elijah mochte es. Ehrlich, solide, keine komplizierte Elektronik und unter der Motorhaube nicht so zugestopft wie die neueren Autos, alle Teile waren gut zugänglich. Früher hatten sie auch so einen gehabt. Damals, als Vater noch lebte …

Der Ford lag tief auf der Straße. Stoßdämpfer im Arsch, dachte er, komm bloß nicht zu uns damit.

Nein, doch nicht, korrigierte er sich, als das Auto durch ein Schlagloch fuhr. Die Stoßdämpfer sind in Ordnung, das Auto ist nur total überladen.

Das Rennen schien auf seinen langweiligen Höhepunkt zuzusteuern. Irgendein Grüppchen hatte sich vom Pulk abgesetzt, wie der Sprecher aufgeregt mitteilte. Großartig, bringen wir es hinter uns und dann holen wir uns einen Hot Dog. Oder einen Burger bei Wendy’s, da ist Matt früher immer so gern hingegangen. Oder fand er Wendy’s inzwischen total uncool? Obwohl Matt nur ein paar Jahre jünger war, fühlte Elijah sich im Gespräch mit seinem jüngeren Bruder manchmal richtig alt.

Plötzlich zupfte ihn jemand am Arm. Überrascht sah Elijah nach unten. Da stand ein blasses, kleines Mädchen von vielleicht fünf oder sechs Jahren. Ihm fiel auf, dass es ein ausgewaschenes T-Shirt mit der Aufschrift Northwestern Mutual trug. So eines hatte er – und ein paar Jahre später natürlich Matt – früher auch einmal gehabt. Er hatte es beim Sommerfest des Kindergartens beim Sackhüpfen gewonnen und er war damals sehr stolz darauf gewesen.

Das Kind sah ihn auffordernd an. Ihr bleiches, rundes Gesicht kam ihm bekannt vor, er vermochte aber nicht zu sagen, woher.

Er sah sie deutlich, wie sie neben ihm stand, und doch war etwas seltsam an dem Kind. Es legte den Finger an die Lippen und zeigte nach hinten. Fragend sah er das Kind an. Was wollte es? Vielleicht hatte es seinen Ball verschossen oder so etwas. Elijah wandte sich um.

Dort fuhr immer noch der alte Ford Tempo, jetzt im Schritttempo. Elijah fragte sich, wo er hinwollte. Suchte er einen Parkplatz? Es war doch alles frei. Oder hatten sie die ganze Innenstadt zu einer Parkverbotszone erklärt? Das wäre natürlich möglich.

Er konnte erkennen, dass der Mann am Steuer schwitzte, obwohl es nicht besonders warm war. Angestrengt kurbelte er am Lenkrad, die Servolenkung war doch nicht etwa auch hinüber? Er wollte wieder zu dem Mädchen sehen, aber als er nach unten blickte, war es weg.

Ich sollte heute wohl mal früher ins Bett, dachte er und strich sich durch die kurzen Haare.

Mit einem Mal wusste er, woher ihm das Mädchen bekannt vorgekommen war. »Madison«, murmelte er. Matthew blickte sich zu ihm um, unsicher, ob sein Bruder etwas zu ihm gesagt hatte. Mit diesem fragenden Blick sah er jung aus, viel jünger als jemand, der schon bald von der Highschool abgehen würde.

Madison! Er setzte sich in Bewegung. Was wollte sie von ihm? Es musste etwas mit dem Tempo zu tun haben. Wie in Trance ging er auf den Wagen zu. Der dicke Polizist sah ihm kurz nach, entschied dann aber wohl, dass von Elijah keine Gefahr ausging, und wandte sich wieder dem Rennen zu.

»Madison«, flüsterte Elijah eindringlich, als könne er sie dadurch beschwören. Was wollte sie ihm sagen? Verdammt, was hatte Madison ihm nur zeigen wollen? Der Tempo stand jetzt mit laufendem Motor da. Der Fahrer hatte die Augen geschlossen und bewegte die Lippen, als betete er.

Das konnte nicht Madison gewesen sein, natürlich nicht. So viel war klar. Das war überhaupt niemand gewesen, er hatte es sich nur eingebildet. Er beschloss, wieder an seinen Platz zurückzukehren. Das Rennen war bald zu Ende, gewiss würden bald viele nach Hause gehen und er sollte lieber sehen, dass er Matt in dem Gedränge nicht verlor.

 

Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, sah er das Mädchen wieder. Sie stand direkt neben dem Wagen und machte eine seltsame Handbewegung. Sie bückte sich, streckte ihre rechte Hand nach vorn, ballte sie zur Faust und zog sie dann schnell zurück. Was sollte diese Pantomime? Tat sie, als zöge sie an einem Hebel? Fragend sah er sie an. Madison lächelte und plötzlich sah sie seiner Mutter so ähnlich, dass ihm beinahe das Herz stehen blieb. Das Mädchen vollführte nochmals die Handbewegung und richtete sich wieder auf. Sie machte beide Hände zur Faust und drückte sie gegeneinander. Darauf riss sie sie plötzlich auseinander und spreizte die Finger. Boom, formte ihr Mund. Dann war sie weg, verschwunden von einem Augenblick auf den anderen, aber Elijah war inzwischen ohnehin klar, dass sie nicht wirklich da gewesen war.

Er wusste, was er zu tun hatte. Mit schnellen Schritten ging er zum Ford und zog mit Schwung am Türgriff. Abgeschlossen. Erschrocken blickte ihn der Fahrer an. Elijah sah sich nach einem harten Gegenstand um. Irgendetwas – ein Pflasterstein, ein Stock, … nichts. Der Wind schob träge eine leere, braune Papiertüte über den Asphalt. Im Rinnstein lag ein plattgefahrener Pappbecher von Starbucks. Fuck. Hektisch legte der Fahrer einen Gang ein. Sein Gesicht war von Panik gezeichnet.

Der dicke Polizist hatte sich umgewandt und sah zu Elijah hin. Auch Matthew sah ihn an. »Elijah, was ist denn los?«

Der Fahrer des Wagens wollte wegfahren, aber er hatte zu viel Gas gegeben und den Wagen abgewürgt. Er drehte den Zündschlüssel und die Zündung stotterte. Elijah griff in die Tasche seiner Baggy Pants und fand endlich, was er suchte. Ein kleiner Schraubenschlüssel. Warum war er da nicht gleich darauf gekommen? Er nahm ihn in die Faust, holte aus und schlug mit aller Kraft gegen die Scheibe. Das Sicherheitsglas des Fensters zersprang in unzählige kleine Teile, die Elijah ins Wageninnere drückte. Der Fahrer schrie um Hilfe.

Wie in Zeitlupe nahm Elijah wahr, dass der Polizist etwas in sein Funkgerät sagte – seinen Namen, den Standort und einen Zahlencode. Sicher etwas wie »Violent Assault – Request Backup«. Sein Vater hatte ihnen einige der Codes beigebracht, aber Elijah erinnerte sich nur noch an den für »Essenspause« – den wichtigsten, wie Dad immer gescherzt hatte.

»Scheiße, Mann, was ist denn los?« Matt kam angelaufen, blieb aber ein paar Schritte vor Elijah stehen. Sein Gesicht spiegelte Verwirrung. So hatte er seinen großen Bruder noch nie erlebt. Elijah griff ins Wageninnere und stürzte sich auf den Mann. Er wollte ihn durch das Fenster aus dem Wagen ziehen, aber das war schwieriger, als er erwartet hatte. Elijah war viel kräftiger, aber der Mann setzte sich mit der Kraft der Verzweiflung zur Wehr. Er schrie um Hilfe und biss seinen Angreifer in die Hand. Elijah spürte, wie Blut seine Hand herablief, dachte aber keine Sekunde daran loszulassen. Er konnte die Geste nicht vergessen, die Madison gemacht hatte. Der Griff nach unten, ein Zug am Hebel, Boom.

»Okay, Sir, treten Sie weg von dem Wagen.« Das war der Polizist. Scheiße. Elijah musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass er breitbeinig da stand und mit einem Taser auf ihn zielte. Vielleicht auch mit einer Pistole.

»Ich kann nicht!«, schrie er.

»Treten Sie weg! Ich will Ihre Hände sehen!«

»Ich kann nicht!«

»Das war meine letzte Warnung.« Elijah kämpfte mit dem Mann im Auto, versuchte ihn irgendwie nach draußen zu ziehen. Er durfte auf keinen Fall an dem Hebel ziehen, denn dann wäre alles vorbei. Alles. Der Polizist, das Rennen, Schneewittchen auf der Zuschauertribüne. Und er selbst und Matt. Es war eine einfache Rechnung. Wenn er den Mann losließ, würden alle sterben. Wenn er ihn herauszog, würden sie überleben, auch wenn er selbst vielleicht dabei draufging. Elijah war ganz ruhig, alles schien wie in Zeitlupe abzulaufen. Es gab nichts zu überlegen.

Ein Schuss. Elijah spürte nichts, der Polizist hatte in die Luft geschossen. Der nächste Schuss würde kein Warnschuss mehr sein. Der Polizist rief etwas, Matthew schrie, aber Elijah nahm es nur wie durch Watte hindurch wahr. Er registrierte hektische Bewegungen am Rand seines Gesichtsfelds, doch das war unwichtig. Für den Moment bestand das Universum nur aus ihm und diesem Mann. Der Fahrer riss den Mund auf, bei seinem linken Schneidezahn war eine Ecke abgebrochen. Sein Kinn, wo er Elijah gebissen hatte, war blutverschmiert. Er strampelte mit den Füßen, um sich zu befreien und versuchte, nach unten zu greifen. Irgendwo da musste der Schalter sein. Elijah konnte ihn nicht sehen, aber er erinnerte sich an Madisons Geste. Da der Mann nur noch versuchte, den Knopf zu erreichen und sich nicht mehr wehrte oder festhielt, war es einfacher, ihn herauszuziehen. Mit einem Ruck gelang es Elijah, den Oberkörper des Mannes durch das offen stehende Fenster zu ziehen. Er sah Elijah in die Augen und sein Blick war so voller blinder Wut und Verzweiflung, dass Elijah wusste, dass er gewonnen hatte. Beinahe hätte er gelächelt.

Dann traf ihn ein Stromschlag von 50.000 Volt. Ein Kollege des Polizisten hatte ihn getasert. Elijahs Muskeln verkrampften sich und er stürzte hart auf den Boden. Für einen Sekundenbruchteil sah er den Himmel, dann knallte er mit dem Hinterkopf auf den Asphalt und verlor das Bewusstsein.

Island

An dem Morgen, an dem ich nach Chicago fliegen sollte, rief mich meine Nichte an. Das arme Mädchen hat das Pech, die Tochter meines Bruders zu sein, schon allein dafür gebührt ihr mein ganzes Mitgefühl.

»Onkel Stefan?«

»Mia! Schön, dass du anrufst. Wie geht’s dir denn?«

»Ich hab dir doch von dem Jungen aus der Neunten erzählt …«

Angestrengt dachte ich nach. Verdammt, wie hieß der noch … »Sebastian, oder?«

»Bastian.« Sie machte eine Pause. Vor meinem inneren Auge sah ich, wie sie eine ihrer Locken mit dem Finger verdrehte. Das tat sie immer, wenn sie nachdachte oder verlegen war. »Jedenfalls … du hast doch gesagt, ich soll einfach mal auf ihn zugehen.«

Himmel, hatte ich das gesagt? Jetzt war wahrscheinlich trösten angesagt. »Und … das hast du getan?« Was gab ich da für Ratschläge? Ich würde das doch selbst nicht tun. Ich von allen Menschen am allerwenigsten.

Ich hörte, wie sie lächelte. »Ja! Und jetzt gehen wir miteinander.«

Was immer miteinander gehen in diesem Alter bedeutet. Ja, was heißt das eigentlich, wenn man 14 ist? Egal, das war nicht meine Sorge, damit sollten sich ihre Eltern beschäftigen. Mir fiel ein Stein vom Herzen. »Das ist ja klasse. Das freut mich für dich!« Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr. Ich musste wirklich langsam zum Flughafen. »Du, ich würde sehr gerne weiter mit dir quatschen, aber ich muss los. Ich fliege nach Chicago.«

»Wow, cool. Wegen dem Job?«

»Ja.«

»Wenn ich groß bin, will ich auch in die Werbung. Was du immer erzählst, mit Fernsehspots und Modelcastings und so was …«

»Das wirst du schön bleiben lassen. Ich verbiete es dir und werde dafür sorgen, dass du nicht einmal einen Praktikumsplatz bekommst.« Nebenbei gesagt war das so ziemlich das einzige Thema, bei dem ich zu 100% der gleichen Meinung war wie Mias Vater. Obwohl ich immer etwas beleidigt war, wenn er Mia allzu vehement von diesem Berufswunsch abzubringen versuchte. Als schlechtes Beispiel und gescheiterte Existenz dazustehen, ist auch nicht lustig.

»Für wen arbeitest du denn?«

Wenn ich das wüsste. »Ehrlich gesagt, so genau weiß ich das selbst nicht. Eigentlich weiß ich es nicht einmal ungefähr. Streng geheimes Geheimprojekt. Aber sie zahlen gut.«

»Dann pass bloß auf, dass sie dich nicht als Lustsklaven verkaufen oder so.«

Hey, die wird ja immer schlagfertiger, dachte ich. »So viel Glück werde ich wohl nicht haben.« Ich schluchzte theatralisch ins Telefon.

»Wir müssen echt mal eine Frau für dich suchen, Stefan. Du bist doch noch knackig, da finden wir bestimmt was.«

»Willst du mich verkuppeln – jetzt wo du in festen Händen bist?«

»Genau.« Sie glaubte vermutlich wirklich, dass sie die große Liebe ihres Lebens gefunden hatte, und war sicher, dass ihre Beziehung ewig halten würde. Wie beneidenswert, wenn man eine Romanze mit dieser Vorstellung beginnen konnte.

»Ich muss jetzt echt. Ich ruf dich an, ja? Oder schicke dir ’ne E-Mail, okay?«

»Klar. Ciao, Stefan. Und guten Flug.«

»Danke.« Ich machte eine dramatische Pause. »Eine Sache noch, Mia.«

»Ja?«

»Kondome schützen.«

»Onkel Stefan!«, schrie Mia empört. »Du bist–«

»Ich liebe dich auch, Mia.« Ich schmatzte in den Hörer und legte auf.

Ich nahm mir ein Taxi zum Flughafen. Ich hätte auch die S-Bahn nehmen können, angesichts der zu erwartenden Reichtümer glaubte ich aber, dass ich mir den Luxus eines Taxis leisten könnte. Die Rechnung behielt ich trotzdem, falls mein Auftraggeber sie bezahlen wollte – und wenn nicht, dann eben für die Steuer.

Wie ausgemacht stand in der Abflughalle ein Mann, der ein Schild mit meinem Namen hochhielt. Nein, es waren sogar zwei Männer, denn der daneben schien auch dazuzugehören. Zwei schweigsame Männer in dunkelgrauen Anzügen. Sie bugsierten mich aber nicht zum Abflugschalter, sondern durch etliche Türen mit der Aufschrift »Nur für Personal« und Sicherheitskontrollen, durch die wir einfach durchgewinkt wurden, direkt aufs Rollfeld, wo ein Learjet wartete.

Ich fragte den Mann mit dem Schild, was das zu bedeuten hätte, aber er antwortete nur: »Das werden Sie schon bald erfahren, kommen Sie einfach mit.«

Mir war das Ganze dann schon ein bisschen mulmig, aber dann dachte ich, hey, so lange der Kunde zahlt, darf er ruhig wunderlich sein. Außerdem war ich noch nie mit so einem Ding geflogen, mich interessierte, wie sich das anfühlte. Hatten so etwas nicht auch all die Milliardäre dieser Welt?

So toll war’s dann nicht. Ich hatte eine Art fliegendes Wohnzimmer erwartet, mit der neuesten Unterhaltungselektronik, Sofa, Bett, und selbstverständlich einer komplett ausgestatteten Cocktailbar. Pustekuchen. Als ich die Maschine betrat, präsentierte sich das Interieur ziemlich unspektakulär, mit zwei normalen Sitzreihen, einer links und einer rechts. Das war wohl nicht die Milliardärsausführung, höchstens Business-Class.

Schade eigentlich, denn Platz genug wäre gewesen – ich war der einzige Gast an Bord. Damit es nicht so langweilig war, bestellte ich Champagner und lud die Stewardess ein, mit mir gemeinsam zu trinken. Nach einiger Überredung willigte sie ein, »aber wirklich nur ein Glas«. Sie eröffnete mir, dass die Maschine nicht nach Chicago, sondern nach Island fliegen würde. Ich war nach dem dritten Glas schon etwas beschwipst, so dass mir das inzwischen ganz egal war. Na gut, ich hatte den Reisestecker-Adapter »USA« und den Marco Polo Reiseführer »Chicago und die Großen Seen« umsonst gekauft, aber das konnte ich verschmerzen.

Ich machte mir allerdings Sorgen, ob ich die richtigen Klamotten eingepackt hatte, und fragte die Stewardess nach dem Wetter am Zielort. Sie hieß übrigens Annika und mit jedem Schluck Champagner kam ihr sächsischer Akzent mehr zum Vorschein. Es soll ja Leute geben, die Sächsisch nicht sexy finden, aber die kannten Annika bestimmt nicht. Während ich mir die Chancen ausrechnete, »Im Flugzeug« zur beklagenswert kurzen Liste der ungewöhnlichen Orte hinzuzufügen, an denen ich Sex gehabt hatte, stand sie auf, um im Cockpit nach dem Wetterbericht zu fragen.

Leider ist sie dann nicht mehr wiedergekommen, erst kurz vor der Landung erschien sie wieder, räumte ab und forderte mich auf, meinen Gurt anzulegen. Dabei sah sie irgendwie immer an mir vorbei. Vielleicht zur Strafe für meine sündigen Gedanken. Oder ihre eigenen. Ich hoffte natürlich letzteres.

Ich hatte erwartet, dass wir in Reykjavik landen, weil das die einzige Stadt war, die ich auf Island kannte und ich mir nicht vorstellen konnte, dass es noch mehr Flughäfen gab. Aber mit so einem kleinen Flugzeug ist man natürlich nicht auf einen internationalen Flughafen angewiesen. Wir landeten auf einem winzigen Flugplatz, der außer einem Tower, der so niedrig war, dass er kaum als Tower zu erkennen war und einem Hangar, dessen Tor geschlossen war, keinerlei Gebäude vorweisen konnte.

Ich hatte mir vorgenommen, Annika beim Aussteigen noch einmal tief in die Augen zu sehen, aber ich war so zerknittert und es war so kalt und so nass, dass ich alle Hände voll zu tun hatte, dass ich nicht die paar Stufen hinunterfiel. Und blamieren wollte ich mich vor ihr auch nicht. Als ich mich zum Flugzeug umwandte, war Annika schon verschwunden. Naja, mit dem Akzent, das wäre sowieso nichts mit uns geworden.

 

Es gab keinerlei Sicherheitskontrollen. Ich fragte mich, ob ich nicht doch in etwas Illegales geraten war. Drogen? Naja, notfalls würde ich ihnen auch eine Werbekampagne für Kokain machen. Ich hatte in meiner Laufbahn schon Schlimmeres gemacht. Nicht viel, aber ein paar Sachen fielen mir schon ein.

Ein Mann mit einem blauen Anorak empfing mich und ließ mich in einen weißen Nissan-Minibus einsteigen. Daneben standen noch zwei weitere Minibusse. Ich wollte etwas von der Landschaft sehen, aber der dichter werdende Nebel verhinderte das und dann bin ich auch noch eingenickt. Der Champagner.

Als ich geweckt wurde, standen wir vor einem weißen Prachtbau mit vier Stockwerken. Ich musste mich kneifen, um sicherzugehen, dass ich nicht mehr schlief. Ein wunderbares Hotel, wie geschaffen als Kulisse für einen Werbespot, der in den 50ern spielen soll. Ein Gebäude, wie ich es mir an Orten wie Sankt Moritz oder Nizza vorstellen konnte, aber nicht auf Island.

Es war immer noch sehr neblig und ich konnte aufgrund der Geräusche der Brandung nur erahnen, dass auf der anderen Seite der Ozean sein musste. Ich war völlig verschlafen und auf den paar Metern bis zur Eingangstür fror ich erbärmlich.

Schlaftrunken stand ich an der Rezeption, wo ein würdevoll aussehender Portier mich aufforderte, ihm mein Handy auszuhändigen. Während meines Aufenthalts, erklärte er und zog bedauernd die Augenbrauen hoch, müsste ich darauf verzichten. Für mich Online-Junkie war das ein schwerer Schlag – ohne mein iPhone halte ich es normalerweise keine fünf Minuten aus. Aber ich fühlte mich noch so benommen, dass ich mich nicht einmal wehrte.

Dafür weinte ich innerlich. Wie soll ich wissen, ob ein Essen auch tatsächlich lecker ist, wenn ich keine Fotos davon auf Facebook posten kann? Kann ich ohne die Likes der anderen meinen Espresso im Straßencafé wirklich genießen? Wie soll ich ohne meine virtuellen Freunde entscheiden, welchen Film ich mir im Kino ansehen soll? Das würde eine harte Zeit werden.

Aber gut, ich dachte an die Kohle und biss die Zähne zusammen. Mir fiel Mias Warnung ein, dass ich als Lustsklave verkauft werden könnte, und fand sie auf einmal nicht mehr so lustig. Natürlich kam mir keinen Augenblick in den Sinn, dass irgendjemand so etwas vorhatte, aber was, wenn mir wirklich etwas passierte? Es wusste ja niemand, wo ich war oder mit wem ich mich da eingelassen hatte.

Der Portier hüstelte. »Das Telefon auf Ihrem Zimmer ist übrigens nur für die hausinterne Kommunikation geeignet.« Ich hatte beinahe vergessen, dass ich noch an der Rezeption stand.

Am liebsten hätte ich ihm die polierte Messingglocke auf den Schädel geschlagen, mir mein Handy geschnappt und wäre nach Hause gefahren, aber … richtig: Ich dachte an das Geld. Also fragte ich: »Und wie soll ich zu Hause anrufen?«

»Bitte entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten. Die Maßnahmen mögen Ihnen extrem scheinen, aber die Gründe für dafür wird man Ihnen beizeiten mitteilen. Bis dahin möchte ich Sie um Ihr Verständnis bitten.«

Ich wollte eine freche Erwiderung knurren, aber der Mann sah so vornehm aus, dass ich sie mir verkniff. Okay, die Wahrheit ist, dass mir keine Antwort eingefallen ist. Ich bin Texter, wenn ich länger nachdenke, fällt mir fast immer etwas sehr Schlagfertiges ein, das ich hätte sagen sollen. Aber eben erst eine halbe Stunde später. Ich wäre ein lausiger Stand-Up-Comedian.

War ich beunruhigt? Eigentlich hätte ich es sein sollen. Aber der Portier strahlte eine derartige Ruhe aus, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass mir hier etwas geschehen könnte.

Wenn mich jemand töten wollte, würde er mich dazu kaum mit dem Learjet nach Island fliegen und in einem historischen Luxushotel unterbringen. Aber sicher war das auch nicht. Vielleicht wollte mein Feind mich ja in einen Vulkan werfen oder in einer heißen Quelle garkochen. Oder ich würde dem Cthulhu geopfert werden.

Ich überlegte rasch, ob ich Feinde hatte, die mich vielleicht umbringen wollten. Ich kam zu dem Schluss, dass es sicher ein paar Typen gab, die mich nicht leiden konnten, aber ich vermochte mir nicht vorzustellen, dass die sich irgendetwas Originelles einfallen lassen würden, um mich loszuwerden. Ein Flug nach Island würde ihre Fantasie bereits bei Weitem übersteigen.

Das Hotel war alt, aber, wie es aussah, vor kurzem sehr gekonnt und zurückhaltend renoviert worden. Viel poliertes Messing, dicke, rote Teppiche und geruhsame Aufzüge, die ein mechanisches »Ding« hören ließen, wenn sie ein Stockwerk erreichten. Sehr nett, ich liebe so etwas. Man erwartete jeden Augenblick, Cary Grant oder Audrey Hepburn zu begegnen.

Außer mir waren offensichtlich viele andere Gäste gerade angekommen, viele schoben oder zogen Koffer und sahen sich verwirrt um. Ein paar der Gesichter kamen mir bei näherer Betrachtung bekannt vor, ich konnte sie nur nicht zuordnen. Ich denke aber, eher nicht aus der Werbebranche. Die meisten schienen ebenso ratlos zu sein wie ich, andere wirkten entschlossener, aber vielleicht versteckten sie ihre Hilflosigkeit nur besser. Immerhin war ich nicht der einzige Idiot hier. Die wissen auch nicht, was sie hier sollen, schloss ich messerscharf und war ein wenig beruhigt. Obwohl ich deswegen auch beunruhigt hätte sein können.

Was auch immer hier im Gange war, jemand hatte es sich viel Geld kosten lassen. Hatte unser Auftraggeber etwa das ganze Hotel gebucht? Diese Spinner. Diese reichen, großzügigen Spinner. So langsam wurde ich wirklich neugierig, um was es hier ging.

Für das Abendessen, »20 Uhr, seien Sie pünktlich«, wie der Portier mich beim Check-in noch väterlich-streng ermahnt hatte, wählte ich meinen Standard-Agentur-Look. Turnschuhe, Blue-Jeans, ein nicht zu neu aussehendes T-Shirt mit einem auffälligen Aufdruck (in diesem Fall Duffy Duck) und darüber ein Sakko. Damit macht man in einer Werbeagentur nie etwas falsch.

Hier aber schon, denn außer mir trugen alle Herren mindestens einen dunklen Anzug, einige sogar Smoking. Ich konnte vermutlich von Glück reden, dass ich nicht nach Hause geschickt wurde, weil ich keine Krawatte trug. Die – leider etwas dünn gesäten – Damen trugen teils festliche Abendkleider, teils elegante Business-Kostüme. So ähnlich stelle ich mir die Atmosphäre bei der Verleihung der Nobelpreise vor, nur dass die schwedische Königin fehlte. Zumindest hatte ich sie noch nicht gesehen.

Während des Essens unterhielt ich mich mit meinem Tischnachbarn. Er war ein Forscher aus den USA und arbeitete in einem Institut; es ging um irgendetwas mit Medizin, so ganz habe ich es nicht verstanden. Immer, wenn ich sicher war, ich hätte begriffen, was er eigentlich machte und es ihm stolz mitteilte, korrigierte er mich lächelnd. Naja, so sehr hatte es mich ohnehin nicht interessiert. Wie es aussah, hatte er ebenfalls keine Ahnung, warum er hier war. Er hatte ein Symposium erwartet und war einigermaßen perplex, dass er neben einem Werbetexter saß. Ich will ihm seinen Gesichtsausdruck zumindest mal als Verwirrung durchgehen lassen und nicht als Enttäuschung. Oder Empörung.

Mir war zumindest klar, dass ich nicht mit meinem forschenden Tischnachbarn an einer Werbekampagne arbeiten würde. Einer von uns beiden war ziemlich sicher fehl am Platze. Ich ging davon aus, dass ich das war. War ich am Ende nur aufgrund einer Verwechslung hier? Stefan Berger ist ja auch wirklich kein besonders ausgefallener Name. Meine Träume von Reichtum und Wohlstand schmolzen wie Schnee im Juli und in Gedanken sah ich mich schon um meinen Tagessatz prozessieren. Vielleicht hätte ich doch diese Berufsrechtsschutzversicherung abschließen sollen, von der ich alle 14 Tage eine Werbemail in meiner Inbox fand.