Die Ratte kommt

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DAS WEIHNACHTSGESCHENK



Heute ist kein Kind draußen, mit dem ich etwas unternehmen könnte. Doch ich rieche Mittagessen und renne schnell in die Küche. Oma bekommt ihr Essen aufs Zimmer. Tante Lena und ich essen in der Küche.



„Na, Ramona, was willst du dieses Jahr zu Weihnachten haben?“



Es rattert in meinem Gehirn. Wann bekommt man schon mal solch eine Frage gestellt? Genau genommen fast nie, außer von Tante Lena. Wenn jemand schon danach fragt, dann muss man sich auch etwas ganz Besonderes ausdenken. Etwas, was mir meine Eltern nie im Leben schenken würden, geht es mir durch den Kopf. „Ich hab es! Ich wünsche mir einen Affen“, verkünde ich.



„Einen Affen?“, fragt Tante Lena entsetzt. „Den kann ich dir nicht schenken.“



„Aber über einen Affen würde ich mich doch furchtbar freuen“, bettele ich. Ich muss nur beharrlich an meinem Wunsch festhalten, dann wird er schon in Erfüllung gehen, bin ich insgeheim überzeugt. Doch da habe ich mich gewaltig geschnitten!



In der Weihnachtszeit besuchen wir dann Tante Lena, um unsere Geschenke abzuholen. Meine zwei Cousins bekommen wundervolle Skier, nur ich schau mal wieder dumm aus der Wäsche. So wie voriges Jahr. Die Mädels erzählten mir nämlich, dass Onkel Franz für mich ein tolles Puppenhaus gebastelt hatte, mit allem Drum und Dran, kleinen Möbeln und Teppichen, sogar Licht legte er in das kleine Haus. Aber weil eine klitzekleine Glühbirne nicht funktionierte, bekam Onkel Franz solch einen Wutanfall, dass er das ganze Haus kurz und klein schlug. So ging ich letztes Jahr schon leer aus. An das Ersatzgeschenk kann ich mich gar nicht mehr erinnern. Nicht, dass ich mich darum reißen würde, mit Puppen zu spielen, aber das Puppenhaus hätte ich doch liebend gern gehabt. So ergreife ich mein Geschenk und bin den Tränen nahe. Tante Lena nimmt mich in den Arm und sagt: „Es tut mir leid, dass du jetzt enttäuscht bist, aber ich habe dir gleich gesagt, dass du keinen Affen bekommen kannst. Du wolltest ja nicht auf mich hören.“ Das ist mir eine bittere Lehre.




TANTE SONJA



Am nächsten Tag fahren wir zu Tante Sonja und die Jungs probieren ihre Skier aus. In der Nähe von Tante Sonja gibt es einen großen Berg mit einer Rodelbahn, die man hier „Dreihöckerbahn“ nennt. Erwin besorgt schnell einen alten Schlitten für mich und wir sausen den Berg hinunter. Bei jedem Höcker werden wir in die Luft geschleudert und landen unsanft wieder auf der Erde. Das Ende der Bahn ist um einiges steiler. Jedes Kind, das runterfährt, hört man dreimal „Aua“ schreien, weil einem beim Aufprall nach jedem Höcker der Hintern tierisch wehtut. Die Fahrt ist erst zu Ende, wenn das Kind juchzt, als würde es mit der Achterbahn einen riesigen Höhenunterschied überwinden. So steil ist das letzte Stück.



Knut und Heiko flitzen die Rodelbahn hinunter und machen die beschriebenen Geräusche. Scheinbar funktioniert das wohl auch bei Skiern. Wenn ich mir das so anschaue, bin ich ganz froh, keine Skier zu besitzen. Da lob ich mir doch den alten Schlitten, den ich gerade unter meinem Hintern habe. Wir rodeln bis zum Abend und können kaum noch was sehen. Deswegen umarmt Heiko auch noch einen Baum, den er in der Dämmerung zu spät bemerkt. Schnell rennen wir zu Tante Sonja nach Hause ehe noch etwas Schlimmeres passiert. Tante Inga tritt mit ihren Kindern die Heimreise an und wir bleiben noch eine Nacht hier.



Tante Sonja wohnt in einem Bauernhaus mit zwei Etagen. Unten die gute Stube, ein Schlafzimmer, ein Kinderzimmer und die Küche. Oben noch ein Zimmer und der Boden mit Räucherkammer. Vom Flur führt eine Treppe in den Keller. Der Keller und der Boden sind erstaunlich leer und aufgeräumt. In der Küche gibt es einen Wasserhahn, aus dem rostiges Wasser tropft, darunter steht ein Hocker mit einer Schüssel. Hier kann man sich die Füße waschen, Zähne putzen oder das Wasser zum Kochen benutzen. Die Küchenmöbel sind alt. Ein gelber Küchenschrank und ein Tisch mit zwei Stühlen. Der Herd ist noch älter. Er wird mit Feuer betrieben. Um die Wärme zu regulieren, muss man die Öffnung zum Feuer größer oder kleiner machen. Dazu benutzt man kleiner werdende Metallringe, die man raus- oder reinlegen kann. In der Ofenröhre brutzelt Tante Sonja den besten Braten der Welt. Heute zum Beispiel liegt eine lecker riechende, knusprige Gans darin. Auf dem Herd kochen die Kartoffeln.



Von der Küche aus kommt man in den Stall. Links zwei Schweinegatter mit riesigen Futtertrögen. Ich kann zwischen Schweinezaun und Futtertrog nur die Schweineköpfe hin und her wackeln sehen. Darum stelle ich mich auf die Futtereinrichtung, so dass ich die Vierbeiner von oben beobachten kann. Hier hat mir Erwin mal gezeigt, wie man auf einem Schwein reiten kann. Er setzte sich einfach auf das Tier, fasste es an den Ohren und das Schwein rannte so lange hin und her, bis Erwin wieder runter fiel. Das sah witzig aus. Auf der anderen Seite wohnen die Hühner, sie können durch ein winziges Loch ins Freie gelangen. Auf den Hühnerstangen schlafen sie in der Nacht. Ich würde sicher von der Stange fallen, wenn ich so schlafen müsste. Die Kästen an den Wänden sind zum Eier legen. Tante Sonja klaut sie den Hühnern im wahrsten Sinne des Wortes unter dem Hintern weg. Wenn die Eier dann befruchtet sind, müssen sie unter eine Legelampe, bis die Hühnerkinder schlüpfen. Dann hat Tante Sonja im Wohnzimmer neben dem Ofen einen Karton voller gelber, flauschiger Küken zu stehen. Im Stall über den Hühnern sieht man die Luke zum Heuboden. Dort kann man wunderbar im Heu toben.



Draußen stinkt es mächtig nach Mist. Auf dem Misthaufen thront der Hahn. Da fällt mir die Geschichte vom Hahn ein, der nicht mehr krähen will. Dem hatte man den Kopf abgeschlagen und der ist dennoch im Hof noch ein paar Runden gelaufen. – Wie gruselig! – Das hat mir Erwin erzählt.



Hinterm Misthaufen befindet sich das Klo, auch „Donnerbalken“ genannt. Dort gehe ich nicht gerne rauf. Erstens stinkt es entsetzlich. Zweitens friert man sich im Winter den Arsch ab. Und drittens ist es so ekelhaft, da drauf zu sitzen. Man hat immer das Gefühl, einer grabscht einem gleich von unten an den Po. Ich bin ganz ehrlich froh, dass wir zu Hause ein Wasserklo besitzen.



Dann gibt es noch die große Scheune, an deren Wand der Hund angekettet ist. Ich begegne ihm immer mit großem Respekt, denn ich will nicht so enden wie die Nachbarstochter, die von einem Hund ins Gesicht gebissen wurde. Die Ärzte verpflanzten ihr ein Stück Fleisch vom Schenkel ins Gesicht. Die Wange sieht noch immer sehr seltsam aus, als wenn Gelee mit Narben durchzogen ist. Der Hund wurde zur Strafe eingeschläfert.




ERWIN



Auf der rechten Seite im kleinen Holzhaus steht Erwins Funkanlage. Funken ist seine große Leidenschaft. Wo er das Wissen dafür her hat, weiß kein Mensch. Er baute sein „Schätzchen“ ganz allein zusammen. Was alle sehr verwundert, denn in der Schule muss er jede Klasse zweimal besuchen. Somit kann er nicht der Hellste sein. Auf diesem Gebiet hat er jedenfalls ordentlich was drauf. Und er hört damit heimlich den Polizeifunk ab. Da wäre er beinahe erwischt worden. Ein Helikopter flog schon ganz dicht über Tante Sonjas Haus. Zum Glück konnten sie Erwins Anlage nicht orten und zogen gleich wieder ab. Das hätte Tante Sonja noch gefehlt. Ein Spion in ihrer Familie.



Als ich in diesem Raum stehe, fällt mir eine Begebenheit mit Erwin ein: Ich saß mit angezogenen Beinen auf einem Stuhl. Erwin fragte mich: „Wollen wir mal schauen, ob deine Muschi schon groß genug ist?“ So wie er es sagte, hörte es sich ganz harmlos an. Doch wie er sich über mich beugte und meinen Schlüpfer ein wenig zur Seite zog, war es mir gar nicht mehr so angenehm. „Nein, dein Loch ist noch zu klein“, meinte er und wir sprachen nie wieder ein Wort darüber.



Meine Schwestern kennen ihn ganz anders und berichten, dass Erwin ein ganz süßer ist und so lieb wie Tante Sonja. Sie lassen sich Märchen von ihm unter der Bettdecke erzählen. Erwin bringt alles durcheinander und erzählt die Geschichten quer durch den Gemüsegarten. Er fängt zum Beispiel mit Schneewittchen an und endet mit Frau Holle.



Meine Schwestern müssen öfter mal unter der Bettdecke hervor kriechen, weil sie ihre eigenen schlecht riechenden Pupse nicht ertragen können. Doch Erwin lässt sich davon nicht beirren. Mittlerweile ist er beim Froschkönig angekommen. Alle sind sie wieder unter der Decke, nur Erwin hört abrupt auf zu erzählen.



„Aber Erwin, warum erzählst du denn nicht weiter“, fragen meine Schwestern.



„Ach, ich hab die letzte Strophe vergessen“, sagt er ganz unschuldig.



Meine Schwestern reißen sich wegen des Gestanks und vor Lachen die Decke vom Kopf.



Erwin sitzt jetzt auch im Freien und japst nach Luft: „Mann, hat das da unten gestunken! Habt ihr etwa gepupst?“, fragt er.



Da können sich meine Schwestern nicht mehr halten vor Lachen.



Eine Zeit lang versucht Erwin wie ein Hund zu essen. „Erwin, warum machst du das?“, wollen meine Schwestern wissen. Doch Erwin bewegt nur die Schultern nach oben und weiß auch nicht, warum er das tut. Aber aufhören will er damit auch nicht. „So ist er eben“, meinen meine Schwestern.



Hinterm Hof besitzen Tante Sonja und Onkel Gert noch ein Stück Land. Neben dem Haus befindet sich der Obst- und Gemüsegarten. Hier habe ich entdeckt, dass Stachelbeeren auch süß und in einer kräftigen roten oder gelben Farbe vorkommen können. Bei uns zu Hause werden die Dinger immer nur grün gegessen. Ich habe sie deshalb zuvor noch nie reif sehen.




ONKEL GERT



Onkel Gert macht manchmal mit mir lustige Späße. Die fangen mit „Na Püppchen“ an und enden mit „Nicht Püppchen?“ Alles was er mir dazwischen erzählt verstehe ich überhaupt nicht, auch wenn ich mir noch so große Mühe gebe. Da er dabei übers ganze Gesicht lacht, muss es sich doch um einen Spaß handeln! Oder nicht!?

 



Onkel Gert hat zu einem Schnäpschen eingeladen. Bevor meine Eltern mit mir nach Hause fahren, will er mit Vati noch schnell einen heben. Er holt den guten Schnaps raus und die beiden trinken davon. „Auf dein Wohl, Heinz“, sagt Onkel Gert.



„Prost! Der war bestimmt teuer“, meint mein Vater. Er kippt den Schnaps runter und sagt anerkennend: „Der ist ja richtig gut!“ Und Onkel Gert freut sich über das Kompliment.



Den Wein machen sie selber. Aus den Früchten, die der Garten so hergibt, und mit einer Anlage, die im Keller steht. Den gönnen sich Mutti und Tante Sonja. Beim Trinken erzählt sie, dass sie Erwin schon mal unterm Weinballon erwischt hat. „Stell dir vor, Lydia“, sagt sie, „da liegt er einfach so auf der Erde unter dem Ballon mit dem Ablaufschlauch im Mund und ist stinkbesoffen.“



„Na, da konnte er ja nicht mal mehr umfallen“, meint meine Mutter belustigt und sie gackern sich einen ab.



Nach dem dritten Schnaps fängt Onkel Gert wieder so ein Gespräch mit mir an. Ich schaue ihm ins Gesicht. Er grinst und zeigt dabei zwei tadellose Zahnreihen. Onkel Gert hat ja neue Zähne, denke ich erfreut. Die sehen aber toll aus! Jetzt sieht er nicht mehr so faltig wie eine Backpflaume um den Mund herum aus. Was Zähne so alles ausmachen, staune ich. Solche Zähne würde ich auch gerne haben, da hat man gleich ein viel schöneres Lächeln, geht es mir durch den Kopf. Doch ich bin sehr enttäuscht, dass er mit den neuen Zähnen genauso schlecht sprechen kann, wie mit den alten. Denn ich kann ihn immer noch nicht verstehen. Mein Vater erkennt das Dilemma und versucht ein wenig zu übersetzen. Doch da jeder weitere Satz von mir nicht verstanden wird, merken alle Beteiligten sehr schnell, dass es keinen Sinn macht, wenn Onkel Gert sich mit mir unterhält. Deshalb schaue ich mir lieber den bunt geschmückten Weihnachtsbaum von Tante Sonja an. Am Baum hängen wunderschöne mund-geblasene Vögel und kleine Körbchen aus dem gleichen Material. Viel Lametta verschönert den Baum.



„Nein, kein Schnaps mehr! Wir müssen jetzt los, sonst verpassen wir noch unseren Zug“, höre ich meinen Vater sagen. So stiefeln wir los.




TYPISCH VATI



Mein Vater rennt immer voran und Mutti und ich hinterher. Bei Tante Elsa kehren wir nicht ein, obwohl wir, wenn wir zum Zug gehen, immer an ihrem Haus vorbei kommen. Meine Schwestern erzählten mir, dass Onkel Otto nicht so nett zu Tante Elsa ist. Er hat sie sogar mal in Eiseskälte ausgesperrt. Bei Familienfeiern stänkert er so lange mit Onkel Franz, bis der heulend am Tisch sitzt und ganz fertig ist. Mit dem scheint nicht gut Kirschen essen zu sein. Deshalb gehe ich mit viel Respekt an seinem Haus vorbei.



Als wir kurz vor der Schranke sind, fängt Vati an zu rennen. „Los beeilt euch“, ruft mein Vater gehetzt. Mutti beeilt sich so schnell sie kann, ihr ist die Anstrengung schon ins Gesicht geschrieben. Das kann sie gar nicht leiden, von Vati immer so gehetzt zu werden. Als wir auf dem Bahnsteig ankommen, dauert es noch eine ganze Weile bis die Schranke runtergeht.



,Typisch Vati!’, wird Mutti wahrscheinlich jetzt wieder denken.



Wenn wir verreisen und mit unseren Koffern zur Straßenbahn laufen, ist die Situation fast dieselbe. Dann rennt mein Vater von der Freiheit beflügelt mit seinem kleinen Täschchen voraus und Mutti mit den dicken Koffern hinterher. Ich weiß immer nicht, für wen ich mich entscheiden soll. Für Vati, der die Straßenbahn mit seinem Tempo sicher nicht verpassen wird, oder für meine Mutter, die sich mit den Koffern abschleppt und nicht vorran kommt. Wenn sie sich beschwert, dann bekommt sie auch noch zur Antwort, dass sie selber Schuld ist, wenn sie so viele Sachen mitnimmt.



Am Ende kann die Straßenbahn gar nicht zur rechten Zeit kommen, weil sie hinter der Schranke feststeckt.




PEINLICH



Aber nicht nur Mutti mag Vatis Allüren nicht, auch meine Schwestern sind manchmal sehr peinlich berührt, wenn sie mit Vati unterwegs sind. Da fällt mir die Geschichte mit dem Sack Heu wieder ein. Mein Vater fährt mit Eleonora und Marlene zu Onkel Gert aufs Land, um einen riesigen Sack Heu von ihm zu holen. Angela, unsere Cousine, will an diesem Tag auch zurück in die Stadt und so fährt sie gleich mit meiner Familie mit. Bei Onkel Gert gibt es zuvor noch wie üblich einen guten Schnaps für Vati und dann geht es los.



Der Sack ist ja eigentlich nicht schwer, aber sehr unhandlich. Vati macht es sich einfach. ‚Wozu habe ich drei Mädels dabei’, denkt er und rennt ohne Sack voraus. Die Mädels rennen mit dem Monster hinterher. Vati treibt die drei an, weil es ihm schon wieder nicht schnell genug geht. Im Dorf ist ihnen der Sack zwar lästig, aber noch nicht peinlich, denn Heusäcke sind hier alltäglich. Im Zug sieht die Sache schon ganz anders aus und in der Stadt steigt ihnen endgültig die Schamesröte ins Gesicht.



„Mann, Vati, kannst du das Drecksding nicht alleine tragen?“, fragt Marlene.



Doch Vati denkt gar nicht daran. Er hetzt die drei Mädels mit dem Sack über den Bahnhofsvorplatz, weil er schon wieder Angst hat, die Straßenbahn zu verpassen.



„Ohne dieses blöde Ding könnte ich auch so schnell rennen“, meint Angela und sie wünscht sich, nie mit ihren Verwandten mitgefahren zu sein.



Vati ist schon fast an der Straßenbahnhaltestelle, da brüllt er ganz laut „Mädels, macht doch mal ein bisschen schneller, die Straßenbahn fährt gleich los!“



Ela verdreht die Augen und ist stinksauer. Vati setzt schon mal seinen Fuß aufs Trittbrett, damit die Straßenbahn nicht losfahren kann. Die drei erreichen ihr Ziel und steigen mit dem Heusack ein. Sie verkrümeln sich gleich nach hinten. Vati bleibt vorne sitzen. Das blöde Ding, das wesentlich größer ist als sie selber, wird mit einem wütenden Fußtritt in die hinterste Ecke geschoben. Da steht er nun und droht zu kippen. Die Straßenbahn ist noch nicht voll. Die Mädels verschwinden und suchen sich einen Sitzplatz. Danach tun sie so, als würde der Sack nicht zu ihnen gehören.



Vati hat Angst um seinen Heusack. „Eleonora, Marlene, kümmert ihr euch auch um den Sack?“, brüllt Vati ganz laut durch die Straßenbahn.



Die beiden laufen vor Scham ganz rot an und fangen an zu prusten. Angela ist das Ganze peinlich und sie würde am liebsten im Erdboden versinken. Doch sie muss immerzu lachen, sodass es niemanden verborgen bleibt, zu wem der Sack gehört.



Mein Vater gibt keine Ruhe und schreit abermals durch die Straßenbahn: „Eleonora, Marlene, passt ja auf den Sack auf!“



Den Mädels wird es heiß und kalt, alle Blicke sind auf sie gerichtet. Die hübschen Jungs dort drüben, die an der letzten Station eingestiegen sind, grinsen sie auch schon ganz blöde an. ‚Mann, dass Vati uns auch immer wieder in solch eine beschissene Situation bringen muss’, denken meine Schwestern.



Vati interessieren die Empfindungen seiner Töchter nicht, er nervt ungeniert weiter: „Kinder, wir steigen die nächste Station aus. Vergesst mir ja den Heusack nicht!“



Jetzt müssen sie auch noch Farbe bekennen und das blöde Monster aus der Straßenbahn bugsieren.



Marlene sagt: „Ich fasse das Scheißding nicht an.“



Wieder kommt es von vorn: „Eleonora, nimm ja den Sack mit!“



Ein junger Mann mischt sich in das Gespräch ein und sagt belustigt: „Eleonora, nu’ nimm schon den blöden Sack mit!“



Alle in der Straßenbahn fangen an zu lachen. Marlene und Angela springen einfach ohne Heusack aus der Straßenbahn. Ela überlegt einen kurzen Moment, was sie machen soll. Sitzen bleiben geht nicht, irgendwann muss sie ja aufstehen. Das Monster stehen lassen? Da würde ihr Vati schon was erzählen! So wartet sie bis zum letzten Augenblick, schnappt sich den Sack und zerrt ihn blitzschnell aus der Straßenbahn. Die Bahn fährt los und mit ihr verschwinden auch die grinsenden Gesichter, die sie so hämisch aus dem Fenstern anglotzen.



Vati ist schon, bevor die Straßenbahn losfuhr, über den Schienen verschwunden. Er rennt voraus und die Mädels mit dem Sack gackernd hinterher.




VATI UND ICH FAHREN ZU TANTE ELLA UND OMA



Wenn ich mit Vati zu Tante Ella reise, dann ist das ganz lustig. Ich muss keinen großen Koffer schleppen; meine paar Sachen passen bei Vati in die Tasche, und ich renne sogar noch einige Schritte ihm voraus. Wir nehmen den Zug nach Rostock. In Neustadt/​Dosse müssen wir umsteigen. Dann geht es weiter mit einem Bummelzug nach Altburghof. Dort steht dann eine andere Bahn bereit, solche Waggons habe ich vorher in meinem Leben noch nie gesehen, vorne und hinten offen. Da kann man während der Fahrt draußen stehen. Im Abteil befinden sich Holzbänke.



„Ramona, flitz schon mal voraus und reserviere uns zwei Plätze“, sagt mein Vater.



Schnell klettere ich auf die Plattform vom Waggon, öffne die Tür zum Abteil und setze mich auf eine Bank neben dem Fenster. Meine Trainingsjacke schmeiße ich auf den mir gegenüberliegenden Platz, um ihn zu reservieren. Ehe ich mich versehe, ist das Abteil voll. Vati kommt ganz zum Schluss und setzt sich zufrieden auf meine Trainingsjacke.



Und schon fährt der Zug los. Felder und Häuser rauschen an uns vorbei. Noch ein paar Stationen, dann sind wir in Altburghof. Vati hat super

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