Die Ratte kommt

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IM KINDERGARTEN

Wenn Mutti arbeiten geht, muss ich in den Kindergarten. Ich gehe nicht gerne in diese Einrichtung – wegen der fremden Tanten. Und dann muss man da auch noch mittags schlafen. Jedes Mal, wenn ich auf der kleinen Liege aufwache und aufstehen will, trete ich in Pipi, weil mein Bettnachbar sein Wasser nicht halten kann. Igitt, schüttelt es mich. Außerdem hasse ich es, viel zu zeitig im Kindergarten zu erscheinen. Doch eine Mitfahrgelegenheit meiner Mutter zu ihrem Job nach Werder gibt es nur zu dieser Zeit. Wenn meine Mutti dort arbeiten möchte, muss sie auch irgendwie hinkommen und mich eben so früh am Kindergarten „abstellen“. Sie befiehlt mir, mich hinter der Hecke zu verstecken und dort so lange zu bleiben, bis der Kindergarten öffnet. Ich traue mich nicht aus meinem Versteck, bis die Kindergartentante die Tür aufschließt. Es sind vielleicht nur zehn Minuten, aber es kommt mir vor wie eine halbe Ewigkeit. Mutti sagt immer: „Lass dich nicht von fremden Männern anquatschen und geh auf keinen Fall mit ihnen mit!“ Das hört sich so bedrohlich an, dass ich furchtbare Angst in meinem Versteck habe.

Die Erinnerungen meiner Schwestern an die Kindergartenzeit sind natürlich nur gute. Kein Wunder, sie waren auch zu dritt. Sie schwärmen heute noch davon. Da gibt es Geschichten über wundervolle Feste, zum Beispiel wie sie Bohnen schnippeln und zusammen singen.

Dann gibt es Geschichten über ihre geliebte Kindergärtnerin Tante Doris, so wie die Begebenheit von Marlene, Eleonora und dem Pudding, den es an diesem Tag gibt. Marlene findet in ihrem Pudding ein Stück Glas und fragt ihre Schwester: „Ela, willst du meinen Pudding nicht auch noch essen?“

Eleonora sagt begierig „Ja“ und stürzt sich auf die Süßigkeit.

Marlene schaut mit großen Augen zu, wie ihre Schwester den Nachtisch samt Glas runterschlingt. Sie fragt Eleonora erschrocken: „Hast du gar nichts gemerkt? Da war ein Stück Glas in dem Pudding.“

„Wirklich?“, schreit Eleonora entsetzt und fängt fürchterlich an zu heulen.

Zum Glück ist das Stück Glas so abgerundet, dass es keinen Schaden in ihrem Körper anrichtet. Die Reaktion von Tante Doris kann ich mir aber bildlich vorstellen.

IMMER WIEDER SONNTAGS

Sonntags gehen wir in die Kirche. Am Sonnabend werden einige Vorbereitungen für den Sonntag getroffen. Mutti geht einkaufen und kommt mit vollbeladenen Taschen, die sie an den Fahrradlenker hängt, zurück. Einmal in der Woche wird der Kühlschrank gefüllt, dass es kracht. Davon müssen wir eine ganze Woche leben. Mutti bereitet den Sonntagsbraten vor und bäckt zwei Bleche Hefekuchen. Der ist spätestens am Sonntagabend aufgegessen. Einer ist mit Obst belegt und der andere mit Butterstreusel. Dann wird sauber gemacht, damit wir am Sonntag Gäste einladen können. Zum Schluss säubern wir uns selber. Die anderen benutzen die große Badewanne. Leider hat sie keinen Abfluss und muss nach jedem Bad ausgeschöpft werden. Für mich wird eine kleine gusseiserne Badewanne in der Küche aufgestellt und mit warmem Wasser gefüllt.

„Komm, Ramona, setz dich rein, jetzt wirst du gebadet“, sagt meine Mutti und fängt an mich einzuseifen.

„Mann, bist du dreckig“, bemerken meinen Schwestern. „Aber kein Wunder, du spielst ja am liebsten im Dreck.“

„Marlene, hol mal eine Schüssel warmes Wasser, damit ich Ramona die Haare abspülen kann“, bittet meine Mutter.

Das Wasser läuft mir über die Haare ins Gesicht. „Aua, meine Augen!“, jammere ich.

„Ach, hab dich nicht so“, sagt Annedore.

„Das brennt aber“, halte ich dagegen.

„Ramona, steh bitte auf, damit wir dich abtrocknen können“, sagt Mutti. „Ist es jetzt besser mit deinen Augen?“, fragt sie mich und wischt sie mir noch einmal sorgfältig mit klarem Wasser aus. Dann werde ich ordentlich abgerubbelt.

Während ich warte, dass mein Haare trocknen, bekomme ich eine Scheibe Bierschinken in die Hand gedrückt. Frischer Bierschinken ist eine Delikatesse, finde ich.

Danach bringt man mich ins frisch gemachte Bett und ich fühle mich pudelwohl. Ich bin sauber, das Bett ist frisch bezogen, das ergibt ein wundervolles Gefühl. Noch gemütlicher wird es, wenn ich meine Zunge an die Bettdecke lege und nuckele, dann kann ich rundum glücklich einschlafen. Meine Mutter sagt dann immer: „Nuckel mal schön, Ramona, und gute Nacht!“

Am Sonntag stehen wir früh auf und machen uns fein. In der Woche renne ich nur mit Trainingsklamotten rum, aber am Sonntag bekomme ich ein schönes Kleid an. Mutti und meine Schwestern brauchen noch eine Weile. Ich bin schon fertig und schleiche mich nach draußen. Mein Kleid hat so einen wundervollen Rock. Da kann ich gar nicht anders, als mich um die eigene Achse zu drehen, um dabei meinen Rock zu bewundern, wie er in die Höhe schwingt. Natürlich falle ich in den Dreck und Mutti muss mir schnell noch eine saubere Strumpfhose anziehen. „Mann, was hast du denn jetzt schon wieder gemacht!“, schimpft sie. „Ich habe doch gesagt, du sollst aufpassen und dich nicht dreckig machen.“

Meine Schwestern werfen mir vorwurfsvolle Blicke zu. Zum Glück findet Mutti noch eine Strumpfhose, denn mit vielen tollen Klamotten sind wir nicht gerade gesegnet. Vati will kein Geld für solche Kinkerlitzchen ausgeben. Er meint, ein einfacher Trainingsanzug reicht völlig aus. Mutti ist da ganz anderer Meinung. Deshalb näht sie so manches gute Stück für sich und uns selber. Wenn Mutti in ihren Kleiderschrank schaut, ist sie meist unzufrieden. Sie sagt dann immer: „Der ganze Kleiderschrank voller Klamotten und nichts anzuziehen. Nur Lumpen! Alles geschenkte Sachen, die nicht so richtig passen.“ Außerdem wird sie mal dicker und dann mal wieder dünner. So ist sie ständig dabei, ihre Kleidung umzuändern und wird damit nie fertig.

Meine Schwester Annedore ist ganz eigen mit ihren Sachen. Sie schont sie und wäscht sie zum rechten Zeitpunkt, damit sie am Sonntag immer gut aussieht. Die anderen beherrschen diese Kunst nicht, sie wissen aber, wo sie sich bedienen können, wenn es in ihrem Wäschefach mal wieder nicht so gut aussieht. „Jetzt hat mir schon wieder jemand meine gute Strumpfhose geklaut!“, schreit Annedore. „Und meine gute Unterwäsche ist auch weg!“ Marlene und Eleonora schauen sich nur schuldbewusst an. So spielt sich so manches Mal ein kleines Drama am Sonntagmorgen in unserer Familie ab.

Vati plagt sich nicht mit solchen Sorgen rum. Er besitzt für jede Gelegenheit einen Anzug. Seine Figur ändert sich nie. Ein Griff in den Kleiderschrank und er ist angezogen. Er versteht sowieso nicht, warum die Weiber so einen Aufstand wegen ihrer Klamotten machen. Doch wenn wir dann endlich alle fertig sind, schaut Mutti ganz stolz auf ihre vier Mädels.

Wir müssen ungefähr 20 Minuten zur Kirche laufen. Im Sommer ist es ein schöner Spaziergang. Im Winter, wenn man die Kleidung nach Schönheit ausgesucht hat, ist es bitterkalt. Da will man am liebsten in das nächste Haus laufen, um dem scharfen Wind zu entgehen. Als Kleinkind werde ich von meinen Schwestern im Winter mit dem Schlitten zur Kirche gezogen. Sie albern und gackern herum, bis sie merken, dass ich gar nicht mehr dort bin, wo ich eigentlich sitzen soll, sondern nur noch als Punkt in der Ferne auf der Straße zu sehen bin.

„Wo ist denn Ramona?“, ruft Annedore entsetzt.

„Ach du Schande, die liegt ja da hinten auf der Straße“, stellt Marlene fest.

„Ich habe gar nicht gemerkt, dass wir Ramona verloren haben“, sagt Ela schuldbewusst und sie und Marlene müssen schon wieder lachen. Nur Annedore findet das gar nicht lustig.

Schnell flitzen sie den ganzen Weg zurück, um mich zu holen.

Ein anderes Mal, als es so furchtbar viel geschneit hat, stecken mich meine Schwestern mit dem Kopf zuerst in einen riesigen Schneehaufen. Da schauen nur noch meine Stiefel raus.

In der Kirche geht es sehr herzlich zu, jedenfalls bei den Erwachsenen. Die Orgel und der Chor hören sich schön an und ich schlafe dort meistens den Schlaf der Gerechten. Meine Mutter stört das gar nicht. Im Gegenteil, dann bin ich wenigstens ruhig. Nur dass ich ihr dabei immer den Mantel so vollsabbere, kann sie gar nicht leiden. Ihr Mantel fühlt sich aber auch so behaglich in meinem Mund an. Genauso wie meine frisch gewaschene Bettdecke. Deswegen kann ich nicht widerstehen, daran zu nuckeln. Auf der anderen Seite des Mittelgangs sitzen die Kinder in meinem Alter ohne ihre Eltern. Deswegen halten sie mich wahrscheinlich auch für ein Baby, weil ich noch nicht bei ihnen sitzen darf. Ich finde aber, die sind auch nicht viel besser als ich. Immer wenn jemand redet, den sie nicht leiden können, stecken sie sich die Finger in die Ohren oder sie machen sich Knoten in die Taschentücher, damit sie nicht vergessen, was sie gerade sagen wollten. Manchmal stecken sie mir sogar die Zunge raus.

Wenn Odette, eines der Kinder von der anderen Seite des Kirchengangs, zu mir nach Hause kommt, dann ist es voll langweilig. Sie will andauernd mit Puppen spielen. Ich muss meine einzige Puppe rausholen und so tun, als wenn ich das hochinteressant finde. Oft werde ich in meiner Familie mit ihr verglichen. Sie meinen: „Kannst du nicht so sein wie Odette, sie ist immer so ordentlich und sauber und spielt nicht im Dreck wie du.“

Das andere Mädchen ist die Tochter vom Vorsteher. Die denkt auch, sie wäre etwas Besseres. Ela ist mit ihrer Schwester befreundet, die ist ganz in Ordnung. Nur wenn sie mit allen ihren Geschwistern bei uns auftaucht, ist sie manchmal genauso zickig wie der Rest. Sie wollen mich dann meistens nicht dabei haben und sagen: „Hau ab, du kleine Doofe!“

Wenn ihr Vater uns besucht, dann nennt er meine Mutter jedes Mal „Tante Wedding“. Mutti gefällt das gar nicht und sie wird dabei puterrot. Wenn er dann weg ist, beschwert sie sich bei uns und sagt geringschätzig: „Der nennt mich immer ‚Tante Wedding’, dabei ist er sogar älter als ich.“ Ich habe zu Ostern von ihm ein wunderschönes metallenes Osterei bekommen, in dem Süßigkeiten steckten. Die Eihälften schienen mir aber nur zum Buddeln im Sand geeignet zu sein.

 

ELAS MISSGESCHICK

Seitdem Eleonora mit der Tochter vom Vorsteher befreundet ist, hat sie einen Putzfimmel. Sie meint: „Bei Brauns ist es immer so sauber und bei uns nicht.“ Deshalb ist sie bestrebt, es der Familie gleichzutun. Sie fängt mit dem Sauber machen im Flur an und trägt alle Mäntel aus dem Flur in die Stube. Dort legt sie die Kleidungsstücke gleich neben den Ofen ab. Vielleicht kann sie nachher sogar ein paar Mäntel in den Stubenschrank verstauen. Dann würde es hier sicher schon etwas ordentlicher aussehen. Erst will sie aber den Flurboden wischen, bevor sie sich um die Mäntel kümmern kann. Während des Wischens riecht es so merkwürdig angebrannt. „Ach du Schreck“, ruft Eleonora, „die Mäntel!“ Leider haben alle Sachen zu dicht am Ofen gelegen, so dass jeder Mantel ein Brandloch bekommen hat.

Mutti riecht das Versengte auch und kommt gleich in die Stube gerannt. „Was ist hier los? Warum riecht es so angebrannt?“, fragt sie erschrocken. Als sie die Bescherung sieht, bekommt Eleonora ordentlich eine geklebt. Mutti ist mächtig sauer! „Warum musstest du die Mäntel hierher tragen?“, schreit sie. „Konnten die nicht im Flur hängen bleiben?“

Das ist das erste Mal, dass Mutti ihr gegenüber handgreiflich wird. Eleonora ist tief beleidigt. Sie wollte doch nur Ordnung schaffen … Dass jetzt jeder Mantel, der dort lag, ein Brandloch hat, das hat sie nicht gewollt.

Mutti macht sich ran, die Mäntel sorgfältig zu flicken. Da aber die Kleidungsstücke von Kind zu Kind weitergereicht werden, müssen das zweite Kind zwei Jahre und das letzte Kind drei Jahre mit einem Flickenmantel rumlaufen.

ANDRÉ

In der Kirche ist André mein bester Freund. Er hat genauso blonde Locken wie ich. Seine Familie kommt uns oft sonntags besuchen. Dann spielen wir im Garten oder gehen mit Lenors am Kanal spazieren. Frau Lenor ist eine große, korpulente Frau mit einem hübschen Gesicht. Ihr Mann ist etwas rundlich, hat eine Halbglatze und ist mindestens einen Kopf kleiner als sie. Die beiden verstehen sich prima. Herr Lenor singt die schönsten Tenorsolos der Welt. Außerdem gibt es da noch zwei Mädchen, Lena und Uta.

DAS GIBT ES NUR SONNTAGS

Das Mittagessen am Sonntag ist immer vorzüglich. Mutti macht den Braten warm und setzt die Kartoffeln an. Die Mädels decken den Tisch. Ich renne voller Erwartung zwischen Stube und Küche hin und her. Dabei muss ich an unserer Kammer vorbei. In dem Moment, wo niemand in Sichtweite ist, werde ich in die dunkle Kammer gezogen. Wie von Geisterhand umklammert mich eine Person von hinten und flüstert mir mit verstellter Stimme ins Ohr: „Ich bin der Busemann, ich bin der Busemann.“

Schnell versuche ich mich aus dieser Umklammerung zu lösen und sage: „Marlene, hör auf mit dem Quatsch!“

Doch sie ergreift mich noch einmal und fängt von vorne an: „Ich bin der Busemann, ich bin der Busemann, ich bin nicht Marlene.“

„Ja, ja, wer’s glaubt, wird selig. Ich weiß ganz genau, dass du Marlene bist!“

Mit diesen Worten reiße ich mich von ihr los und fliehe aus der Kammer. Sie lacht sich halb kaputt. Und ich denke, die kann aber auch den Quatsch nicht lassen! Sie muss doch merken, dass ich darauf nicht mehr reinfalle.

Inzwischen ist Mutti fertig und wir können den Braten in vollen Zügen genießen. Nur wenn es Kaninchen gibt, mache ich lange Zähne. Die Tierchen sind so niedlich. Als die Zibben gestorben waren, haben wir die kleinen Kaninchen mit winzigen Nuckelflaschen aufgezogen. Mit einem Mal hängen sie dann mit abgezogenem Fell an der Teppichstange oder liegen in einer Schüssel im Kühlschrank. Wenn du dann die Kühlschranktür öffnest, glotzt dich so ein nackter Kaninchenkopf an. Das ist voll ekelig!

MITTWOCHABENDS

Mittwochabend gehen meine Geschwister jetzt auch in die Kirche und ich muss ganz allein zu Hause bleiben. Da bekomme ich Muffensausen, ganz ehrlich. Meine Schwestern erzählen mir von ihren wundervollen Abenden, wo sie ohne Vati und Mutti alleine zu Hause waren. Ich glaube, sie konnten es gar nicht abwarten, bis meine Eltern endlich weg waren. Dann wurden Märchen aufgeführt. Sie zogen sich die guten Kleider meiner Mutter an und spielten Schneewittchen. Eleonora war die böse Königin und rief: „Spieglein, Spieglein, an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?"

„Frau Königin, ihr“, antwortete Annedore.

Sie spielten es so, als befänden sie sich auf einer großen Bühne vor richtigem Publikum. Als die Szene mit dem Apfel kam, rief Ela zu Marlene: „Ich habe einen wundervollen Apfel. Willst du ihn mal probieren? Schau, die eine Seite ist rot und die andere Seite grün.“

Der Apfel sah so wunderschön aus. Besonders die rote Seite, so dass Eleonora richtigen Appetit bekam und sie diese Hälfte gern selbst essen wollte. Eigentlich müsste Marlene diese Seite bekommen, denn sie spielte ja das Schneewittchen. Doch Eleonora sah gar nicht ein, die rote Hälfte nicht essen zu dürfen, und änderte kurzerhand das Drehbuch. So gab die Königin dem Schneewittchen in Eleonoras Aufführung die grüne Apfelseite.

Marlene flüsterte hinter vorgehaltener Hand: „Eleonora, ich bin das Schneewittchen, ich bekomme die rote Hälfte.“

Ela fauchte ganz leise zurück: „Nimm die grüne Hälfte und fall endlich um!“

Eleonora glaubte, damit sei die Situation gerettet, doch Marlene tat ihr den Gefallen nicht. Auf keinen Fall durfte das imaginäre Publikum merken, dass es Unstimmigkeiten zwischen den Schauspielern gab. Da kam Ela die nächste gute Idee. Sie änderte das Drehbuch noch einmal und spielte das Schneewittchen selbst weiter. Eleonora nahm den Apfel, biss in die rote Hälfte und schmiss sich in den Dreck. Jedes Mal, wenn meine Schwestern die Geschichte erzählen, wird sie immer lustiger.

Eine Zeit lang schlichen sie sich sogar raus und trieben sich mit Herolds rum. Einmal wollten sie sich ein Süppchen kochen. Sie sammelten alles zusammen: einen Topf, Wasser, Holz, Kartoffeln und Gemüse. Nur mit den Streichhölzern wurde es ein wenig schwierig. „Bei uns raucht niemand. Wir besitzen nur einen eisernen Gasanzünder“, meinte Annedore. Bei Herolds rauchten beide Elternteile, da würde es nicht auffallen, wenn sie eine Schachtel Streichhölzer wegnahmen.

Damit niemand sie bei ihrem Vorhaben entdeckt, beschlossen sie, mitten im Kornfeld ein Feuerchen zu machen. „Das wird lustig“, meinte Arne. „Dazu brauchen wir nur noch ein paar große Steine.“

Die wurden schnell herbeigeschafft. Jeder schnappte sich etwas, das man zum Kochen einer Suppe braucht und sie schlichen sich hintereinander ins Kornfeld.

„Da, die Stelle ist gut“, sagte Arne und stapelte die Steine zu einer Kochstelle aufeinander. Da hinein legten sie kleine Holzscheite und Stroh. Der Topf mit dem Wasser wurde auf die Feuerstelle gestellt und das Gemüse reingelegt.

„He, wer hat die Streichhölzer?“, fragte Barbara.

„Ich“, sagte Senta und gab sie ihr in die Hand.

„Die sind ja ganz nass und stinken nach Bier, wo hast du die denn her?“, fragte Barbara.

„Aus der Wohnstube“, sagte Senta.

Barbara nahm ein Streichholz aus der Schachtel und zog es über die Reibefläche. Nichts passierte. Sie versuchte es noch einmal. Kein Funken!

Arne riss ihr die Streichhölzer aus der Hand: „Stell dich nicht so doof an!“ Er versuchte es ebenfalls. Das Streichholz fing Feuer, ging aber gleich wieder aus. Er versuchte es immer schneller und ehrgeiziger. Arne schaute die Streichhölzer an, als würden sie sich durch blanke Willenskraft entzünden. Beim letzten Streichholz hielten alle die Luft an. Es brannte und er führte es langsam zu den Holzscheiten. Alle stöhnten laut auf, als es wieder ausging. Vor Wut schmiss Arne die leere Streichholzschachtel in den Dreck.

„Das war es, jetzt können wir alles wieder einpacken und nach Hause gehen!“, schrie Arne wütend.

„Krieg dich wieder ein“, sagte Barbara barsch.

„Ist doch wahr“, entschuldigte sich Arne halbherzig. Doch vorher musste er noch dem selbstgebauten Ofen einen ordentlichen Tritt versetzen, damit seine Wut verfliegen konnte. Dann zogen alle enttäuscht von dannen.

Erst viel später begriffen meine Schwestern, was sie damals für ein Glück gehabt hatten, dass die Streichhölzer nicht zündeten. Ja, mehr Glück als Verstand. Zu dem besagten Zeitpunkt war das Korn sehr trocken und überreif. Es hätte lichterloh brennen können und die Kinder vielleicht noch mit.

Aber ansonsten haben sich meine Schwestern an Mittwochabenden köstlich amüsiert!

Ich dagegen sitze, wenn ich allein zu Hause bin, ängstlich unterm Tisch und erwarte sehnsüchtig den Augenblick, an dem meine Familie wieder nach Hause kommt.

Heute läuft ein Mann dreimal an unserem Fenster vorbei. Plötzlich presst er sein Gesicht ganz dicht an die Scheibe, um in das Fenster des Zimmers zu gucken, in dem ich gerade unterm Tisch sitze. Scheinbar sieht er nichts und haut wieder ab. Ich mache mir aber fast in die Hosen vor Angst.

UNSERE UNTERMIETER

Wir besitzen unser Haus nicht für uns allein. In der oberen Etage wohnen Untermieter. Mutti muss ihnen immer frisches Wasser zum Waschen hinstellen. Manchmal bittet sie Annedore, das zu tun. Anne hasst diese Arbeit, besonders wenn die Untermieter ihr dabei auf die Finger schauen. Ich war auch schon mal da oben. Pfui Teufel, wie das da riecht! Mutti reißt immer gleich, wenn sie oben ist, die Fenster auf. Natürlich nur, wenn die Untermieter nicht in der Nähe sind. Der Gestank ist wirklich bestialisch, so nach kaltem Zigarettenrauch, Schweiß und Alkohol. Der eine Untermieter riecht besonders unangenehm und glotzt einen mit so glasigen Augen an.

Iris übernachtet mal ohne unser Wissen bei einem dieser Untermieter. Am Morgen klingelt es Sturm. Anne öffnet die Tür. Vor der Tür steht Iris’ Bruder und fordert, dass seine Schwester sofort nach Hause kommen soll. Iris hört das Tamtam und kommt schnell runter. Ehe sich Anne versieht, donnert der Bruder Iris eine mitten ins Gesicht, dass ihr die Schneidezähne schief nach vorne stehen. Iris rennt mit blutendem Mund nach Hause und Anne schaut ihr entsetzt hinterher., Mann, dass sie bei dem Untermieter übernachtet hat, ist ja nicht gerade schön, aber ihr so eine reinzuhauen, ist ja total verrückt’, denkt meine Schwester.

Annedore verliebt sich ebenfalls in einen unserer Untermieter. Dabei ist sie erst zwölf und für ihr Alter ziemlich zart. Uta Lenor dagegen sieht da schon ganz anders aus. Sie kommt uns jetzt öfter besuchen und gibt vor, wegen Annedore da zu sein. Was Annedore natürlich nicht glaubt. Sie sagt: „Von wegen, die will doch nur unseren Untermieter sehen.“

Zu Annes 13. Geburtstag schenkt Suhl, besagter Untermieter, ihr Rollschuhe, denn er mag Annedore sehr, aber nicht als Freundin, sondern eher als kleine Schwester. Utas Reizen hingegen kann er sich nicht so ganz entziehen.

Uta und Annedore sitzen in der Küche und Uta sagt mit großen, ehrlichen Augen: „Ich will dir Suhl auf keinen Fall wegnehmen.“

Wenn die drei zusammen sind, sieht das aber ganz anders aus. Suhl streichelt Uta zärtlich durchs Haar und sie gibt vielsagende Blicke zurück. Was soll Annedore da machen, Uta ist wesentlich weiter entwickelt als sie. Anne kann schon verstehen, warum sich Suhl mehr für Uta interessiert. Trotzdem ist sie stinksauer auf ihre vermeintliche Freundin. „Die hat bei mir bis in alle Ewigkeit verschissen“, meint Annedore und will sie nie wiedersehen.

Frau Lenor ist erst Feuer und Flamme und außerdem stolz auf ihre Tochter, dass die sich trotz ihres jungen Alters so einen feschen jungen Mann geangelt hat. Doch dann wird es ihr zu heiß und sie unterbindet das Techtelmechtel der beiden. So bekommt keiner den schönen Hans-Jürgen Suhl.

Mutti ist in Hans-Jürgen auch vernarrt. Sie sieht ihn als Sohn, den sie nie hatte. Und Suhl entwickelt ein starkes Vertrauensverhältnis zu ihr. So kann er ihr unter anderem anvertrauen, dass er vorhat, in den Westen abzuhauen. Da muss sie sich nicht wundern, dass Hans-Jürgen eines Tages spurlos verschwunden ist. Doch andere Leute wundern sich sehr und interessieren sich auch brennend dafür! Deswegen bekommen wir zweimal Besuch von Männern in schwarzen Mänteln. Die Aufregung meiner Eltern ist groß. „Das kann mächtig ins Auge gehen, wenn man sich mit diesen Männern anlegt“, meint mein Vater. Doch Mutti erzählt nur das Allerbeste von ihrem Untermieter. Die Flucht erwähnt sie mit keinem Sterbenswörtchen. Vati und wir können nichts erzählen, denn Mutti hat bis dahin auch uns gegenüber geschwiegen.