Buch lesen: «FLIP FLOP AND FLY»

Schriftart:

Lutz Nitzsche Kornel

FLIP FLOP AND FLY

Gedichte

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag

Alle Rechte beim Autor,

die Rechte für die Abbildungen bei Andreas Hanske und Armin Krause,

für diese Ausgabe beim Verlag,

für die Gedichte von Thomas Böhme und Paul Alfred Kleinert bei diesen,

desgleichen für die Nachrede bei Gringo Lahr,

das Essay „Bebilderung – Bemerkungen zum Problem der Illustration“

bei Andreas Hanske

Umschlaggestaltung: Tino Hemmann

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

FLIP FLOP AND FLY

„Now, when I get the Blues,

I get me a rocking´ chair.

Well, if the Blues overtake me,

gonna right away from here …

Now flip, flop and fly,

I don´t care if I die.

Don´t ever leave me,

Don´t ever say,

Goodbye … ”

Sänger: Big Joe Turner

Autoren: Lou Willie Turner

Charles E. Calhoun

Recorded 1955


IN DAS FALSCHE JAHR GEBOREN

IN DAS FALSCHE JAHR GEBOREN

empfand nicht nur ich. Elvis

brachte uns 1955ern nicht mehr viel

IN THE GHETTO berührte

dort als Text vom erschossenen Jungen

in Meuselwitz, östlich der Westgrenze

die versperrt war bis zur Rente.

Der Rest: Langeweile. Verfettung.

Peinlich Blue in Hawaiii

Aloha-Oe.

Sleepy John Estes, Big Bill Broonzy, J.B. Lenoir

zerhämmerten Südseesehnsucht

aus elterlichem Volksempfänger:

That´s All Right, Mama,

Eine übliche Lüge, gestohlen

von Arthur “Big Boy” Crudup. Was Tantiemen

sind, ahnte nicht einmal der Anführer

unserer Straßen-Gang

Hartmut H.

Um 1965 kamen Beatles, Rolling Stones,

Kinks, Who, Eric Burdon, Dave Dee, Dozy,

Beaky, Mick and Titch & Co

auch an die Schnauder, bald Hippies

mit Haaren übern Ohransatz, die trampten

zu den Kometen, Mäckys, Isotopen. Endlich

Jugend als unendlicher Traum, mit elf, zwölf, angekommen.

Als Gealterter mit siebenundzwanzig

stellte ich regelmäßig in der Großstadt L.

im Klub der Baustudenten Rocksongs vor,

brachte Storys, als eine Schöne klagte: Ihr

habt das noch erleben dürfen, Atmosphäre

peitschender Rockkultur. Ach,

wollte ich beruhigen: Wenn fünf Prozent

der Jahresproduktion an Musik blieben,

damals, heute, morgen,

welcher Kunst-Gigantismus. Sie

schüttelte unverständig ihren Kopf.

Noch.

Mit Gedichte, Filmen, Büchern, Beziehungen

läuft es wohl ähnlich. Gaga

kann eine berüchtigte Lady sein

oder psychedelische Radio-Station

Freddy Mercury im Himmel,

ich, Seifenmarke, ein Irrtum

wie dieser Text, die Frage

nach dem günstigsten Jahr der Geburt,

nach dem was bleibt.

(für Gringo Lahr zum Geburtstag, 2015)

MEINE GELBE STADT. MEIN ATEM

saugte deine Gifte. Weshalb

kam ich durch. Die Schnippchen,

Haken wurden zur Gewohnheit

Abzuhängen das Erlegte

kommend aus dem Trug der Wirklichkeiten

in den klaren Traum

Erleben


DIE KOHLEZÜGE SCHEPPERTEN

Gedichte durch die Nacht

sprangen Funken virtuos wie kapriziös

auf den Oberleitungen strich Mangel

diese teuflischen Violinen im Wahnorchester

Braunkohlentagebau. Ostinater Orgiasmus

produziert durch die Bagger-Rhythmus-Sektion

Heavy-Metal in Dauerlust Land & Leben

fressend bis das Wasser abgegraben

für trivialen Stromfluss

zu beleuchten unser Opferritual

als apokalyptische Feier

dieser Erdepoche.

Nie Ruhe. Nie angekommen

mit dem harten Schatz Heimat

Erfahrung. Immer weiter

träumen, warten, wissen,

hoffen auf ein Billett retour

zur Symphonie der nächtlichen Kohlezüge

mit dem diabolischen Ur-Geist

als lokführenden Dirigent

aus dem Schnaudertal fort

im schweren dauerplatternden sauren Regen

der die Gleise rosten ließe

wenn das Musikstück stoppte.

KINDHEIT

Keiner Fliege

Flügel ausgerissen

Keinen Frosch

aufgeblasen

Keinen Maulwurf

ausgegraben

Keinen Regenwurm

zerkaut

Was

auf Christ hinwiese

Zumindest

Pazifist.

Eine Chance

musste der Gegner bekommen

Das

war Ehrenkodex

Im Spiel, sonst

erfolgte Ausschluss

Hier

War es doch nicht

wie im wahren Leben

Hatten wir Knirpse festgelegt.

DIE NÄCHTE DER KINDHEIT

Waren endlos wie Lederstrumpf

Von James Fenimore Cooper

Eine gefährliche Expedition

Mit vagem Ziel: Nicht einschlafen

Gefahr überall

Rote


DAS TEMPO

Der Spiele

Die mit dem Ball

Mochte ich nie, der

Rollte zu schnell, flog

Den Träumen davon

Wie lndianerpfeile, Worte

Im erregten Gespräch

Schwer wiederzufinden.

NEUER HÄWELMANN

Bei Vollmond

Brachen die Mauern

Brüllte der Wald "Komm"

Flog der Junge

Auf dem Mondlicht

Sah Betrunkene

Verlassene Schänken

Drifte ich in Jugend

Der Zukunft zu

Genügen dort

Von wo nachts

Helle strahlt

Weit oben.

AUCH KINDHEIT –
WAS BRACHTE MIR DAS LESEN

auf endlosen Zeilen

unter grauem Herbsthimmel

mit klammen Fingern

Stechen im Rücken?

Zehn Pfennig der Korb

auf dem Kartoffelacker.

ULI HAUCKES VATER

trug seinen schwarzen Zigeunerschnauzer

Anfang der Sechziger erhaben

durch dieses genormte Land,

der damals so provokatorisch war

wie schulterlanges Haar

sieben Jahre später.

Er fuhr Motorrad,

mit Ehefrau und Kindern

zelten bei Bad Kösen an der Saale,

damals uns so weit entfernt

wie zur Jahrtausendwende

Timbuktu oder Bali.

Wenig genügte damals,

jemand in Erinnerung zu bewahren

noch nach Jahrzehnten.

FÜR WOLFGANG HAFERSTROH
(1955 – 1996)

Die Nächte der Kindheit

waren unendlich lang

wie später vergebliche Lieben,

Delirien oder Todeskrankheiten.

Auswege boten

uns die Erdgeschosswohnungsfenster

schichtarbeitende Eltern

Kino- oder Bekanntenbesuche derselben

bei Frühdienst.

Mir blieb

nach der Verschraubung der Fenster

das Morsealphabet, zumindest

was ich dafür hielt: lang, lang, kurz!

Der Schulfreund hinter der Wand

meines Kinderzimmers

antwortete: kurz, kurz, kurz!,

dann improvisierten wir

über Beat-Rhythmen, wussten

uns steht noch Abenteuerliches bevor.

SCHULJAHRESENDE
in M., DDR
1965

Du hättest sprechen sollen,

ermahnt er sich erinnernd

seines Empfindens:

Hier geschieht Unrecht.

Die Klassenbeste, christlich,

als Feind behandelt hier

im Staate der Atheisten,

blieb

im Schweigen

ohne Urkunde.

1985

4,99 €