Warum tut er das?

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„Gefühle verursachen Verhalten“

„Wenn Menschen sich verletzt fühlen, schlagen sie aus Vergeltung auf jemand anderen ein. Wenn sie sich eifersüchtig fühlen, werden sie besitzergreifend und vorwurfsvoll. Wenn sie sich kontrolliert fühlen, schreien und drohen sie.“ Stimmt’s?

Falsch. Jeder Mensch geht mit Verletzungen oder Ressentiments individuell um. Wenn Sie sich beleidigt oder schikaniert fühlen, greifen Sie vielleicht nach einem Schokoriegel. Unter den gleichen Umständen breche ich vielleicht in Tränen aus. Eine andere Person kann ihre Gefühle schnell in Worte fassen und die Misshandlung direkt ansprechen. Auch wenn unsere Gefühle die Art und Weise beeinflussen können, wie wir uns verhalten wollen, werden unsere Verhaltensentscheidungen letztlich eher durch unsere Einstellungen und Gewohnheiten bestimmt. Wir reagieren auf unsere emotionalen Verletzungen auf der Basis, wie wir uns selbst sehen, wie wir über die Person denken, die uns verletzt hat, und wie wir die Welt wahrnehmen. Nur bei Menschen, die schwer traumatisiert sind oder an schweren psychischen Erkrankungen leiden, ist das Verhalten von Gefühlen bestimmt. Und nur ein winziger Prozentsatz misshandelnder Männer hat diese Art schwerer psychischer Probleme.

Es gibt noch andere Gründe, die Ausrede „Liebe verursacht Missbrauch“ nicht zu akzeptieren. Erstens behalten sich viele Menschen ihr bestes Verhalten und ihre freundlichste Behandlung ihren Lieben vor, auch für ihre Partnerinnen und Partner. Sollten wir den Gedanken akzeptieren, dass diese Menschen ihre Liebe weniger stark empfinden oder weniger Leidenschaft haben als ein Missbrauchstäter? Das ist Unsinn. Außerhalb meines Berufslebens habe ich im Laufe der Jahre viele Paare kennengelernt, zwischen denen Leidenschaft und Spannung herrschte und die sich gegenseitig gut behandelten. Aber leider gibt es in unserer Gesellschaft eine breite Akzeptanz der unguten Vorstellung, dass Leidenschaft und Aggression miteinander verwoben sind und dass ein gemeiner verbaler Schlagabtausch und explosionsartige Ausbrüche der Preis sind, den man für eine Beziehung bezahlt, die aufregend, tief und sexy ist. Beliebte Liebesfilme und Seifenopern verstärken dieses Bild manchmal noch.

Die meisten misshandelnden Männer haben außer zu ihren Ehefrauen oder Freundinnen enge Beziehungen zu anderen Menschen. Meine Klienten können tiefe Zuneigung für einen oder beide Elternteile, ihre Geschwister, einen guten Freund, eine Tante oder einen Onkel empfinden. Misshandeln sie diese auch? Kaum. Es ist nicht die Liebe oder tiefe Zuneigung, die ihr Verhaltensproblem verursacht.

Mythos Nr. 4:

Er unterdrückt seine Gefühle zu sehr, und dann bauen sie sich auf, bis er platzt. Er muss mit seinen Gefühlen in Berührung kommen und lernen, sie auszudrücken, um diese explosiven Vorfälle zu verhindern.

Meine Kollegen und ich bezeichnen diese Ansicht über Männer als „Druckkessel-Theorie“. Der Gedanke ist, dass ein Mensch nur ein gewisses Maß an angesammeltem Schmerz und an Frustration ertragen kann. Wenn er nicht regelmäßig entlüftet wird – wie bei einem Schnellkochtopf –, dann ist ein schweres Unglück vorprogrammiert. Dieser Mythos klingt wahr, denn wir alle wissen, dass viele Männer zu viele Emotionen in sich aufstauen. Da die meisten Täter männlich sind, scheint es zu passen.

Aber das tut es nicht, und hier ist der Grund dafür: Die meisten meiner Klienten unterdrücken ihre Gefühle nicht in besonderem Maße. Tatsächlich bringen viele von ihnen ihre Gefühle stärker zum Ausdruck als einige nicht-misshandelnde Männer. Anstatt alles in sich hineinzuschaufeln, neigen sie zum Gegenteil: Sie haben eine übertriebene Vorstellung von der Wichtigkeit ihrer Gefühle. Die ganze Zeit sprechen sie über ihre Gefühle – und leben sie aus –, bis ihre Partnerinnen und Kinder erschöpft sind, weil sie das alles mit anhören müssen. Die Gefühle eines Täters sind wahrscheinlich beides: zu groß und auch zu klein. Sie können das ganze Haus ausfüllen. Wenn er sich schlecht fühlt, denkt er, dass das Leben für alle anderen in der Familie aufhören sollte, bis jemand sein Unwohlsein in Ordnung bringt. Die Lebenskrisen seiner Partnerin, die Krankheiten der Kinder, die Mahlzeiten, die Geburtstage – nichts anderes ist so wichtig wie seine Gefühle.

Es sind nicht seine Gefühle, zu denen der Täter eine zu große Distanz hat, sondern es sind die Gefühle seiner Partnerin und die Gefühle seiner Kinder, um die es geht. Das sind die Gefühle, über die er so wenig weiß und mit denen er „in Kontakt treten“ muss. Meine Aufgabe als Berater von Missbrauchstätern besteht oft darin, die Diskussion weg von den Gefühlen meiner Klienten und hin zu seinen Gedanken (einschließlich seiner Einstellung gegenüber den Gefühlen seiner Partnerin) zu lenken. Meine Klienten versuchen immer wieder, den Ball in den Bereich zurückzubringen, der ihnen vertraut und angenehm ist, wo ihre innere Welt das einzige ist, was zählt.

Seit Jahrzehnten bemühen sich viele Therapeuten, misshandelnden Männern zu helfen, sich zu verändern, indem sie sie anleiten, ihre Gefühle wahrzunehmen und auszudrücken. Leider nährt diese wohlmeinende, aber fehlgeleitete Herangehensweise tatsächlich die Fokussierung des Täters auf sich selbst, was eine wichtige Triebkraft für seine Misshandlungen ist.

Ein Grund, warum Sie versucht sein könnten, die „Druckkessel-Theorie“ zu akzeptieren, ist, dass Sie vielleicht beobachten, dass das Verhalten Ihres Partners einem Muster folgt. Er zieht sich immer mehr zurück, sagt immer weniger und seine Stimmung scheint sich allmählich von einem leisen Brodeln zu einem sprudelnden Kochen zu entwickeln, bis sie sich in einem Ausbruch von Schreien, Herabsetzungen und Gemeinheiten entlädt. Es wirkt wie eine emotionale Explosion, daher nimmt man natürlich an, dass es eine ist. Aber die wachsende Spannung, der Druck, der sich in seinen Gefühlen aufbaut, wird in Wirklichkeit durch sein mangelndes Einfühlungsvermögen in Ihre Gefühle und durch eine Reihe von Einstellungen angetrieben, die wir später untersuchen werden. Außerdem explodiert er, wenn er sich selbst die Erlaubnis dazu gibt.

Mythos Nr. 5:

Er hat eine gewalttätige, explosive Persönlichkeit. Er muss lernen, weniger aggressiv zu sein.

Kommt Ihr Partner normalerweise mit allen anderen außer Ihnen einigermaßen gut aus? Ist es ungewöhnlich für ihn, andere Menschen zu beschimpfen oder sich mit Männern körperlich anzulegen? Wenn er Männern gegenüber aggressiv wird, hat es dann in der Regel etwas mit Ihnen zu tun, z. B. wenn er einem Mann gegenübersteht, von dem er glaubt, dass er Sie abcheckt? Die große Mehrheit der misshandelnden Männer ist eher ruhig und in den meisten Beziehungen vernünftig, die nicht im Zusammenhang mit ihren Partnerinnen stehen. Tatsächlich beschweren sich die Partnerinnen meiner Klienten ständig bei mir: „Wie kommt es, dass er zu allen anderen so nett ist, mich aber wie Dreck behandelt?“ Wenn es das Problem eines Mannes wäre, eine „aggressive Persönlichkeit“ zu haben, wäre er nicht in der Lage, diese Seite seiner selbst nur für Sie zu reservieren. Viele Therapeuten haben im Laufe der Jahre versucht, missbrauchende Männer auf ihre sensiblere, verletzlichere Seite zu lenken. Aber die traurige Realität ist, dass viele sanfte, sensible Männer ihre Partnerinnen bösartig – und manchmal auch gewalttätig – misshandeln. Die zwei Seiten des Täters bilden einen zentralen Aspekt des Rätselhaften.

Die gesellschaftliche stereotype Vorstellung vom Täter als einem relativ ungebildeten Arbeiter trägt zur Verwirrung bei. Die fehlerhafte Gleichung lautet: „Misshandlung ist gleich muskelbepackter Höhlenmensch, was wiederum der Unterschicht entspricht.“ Zusätzlich zu der Tatsache, dass dieses Bild ein unfaires Stereotyp von Männern aus der Arbeiterklasse ist, übersieht es auch den Fakt, dass ein Mann mit Berufs- oder Hochschulbildung etwa der gleichen Wahrscheinlichkeit unterliegt, Frauen zu misshandeln wie jeder andere. Ein erfolgreicher Geschäftsmann, ein Hochschulprofessor oder ein Segellehrer wird vielleicht weniger wahrscheinlich das Image eines harten Kerls mit Tätowierungen am ganzen Körper annehmen, kann aber dennoch ein Albtraum-Partner sein.

Stereotypen im Hinblick auf Klasse und Ethnie erlauben es den privilegierteren Mitgliedern der Gesellschaft, dem Problem des Missbrauchs auszuweichen, indem sie so tun, als sei es das Problem von anderen. Ihr Denken geht etwa so: „Es sind diese Bauarbeiter, die nie aufs College gegangen sind, es sind diese Latinos, es sind diese Straßengangster – sie sind die Missbrauchstäter. Unsere Stadt, unsere Nachbarschaft, ist nicht so. Wir haben hier keine Macho-Männer.“

Aber Frauen, die mit Misshandlungen leben, wissen, dass es die Täter in jeglicher Gestalt und in allen gesellschaftlichen Schichten gibt. Je gebildeter ein Täter ist und je mehr Knoten er im Gehirn einer Frau zu knüpfen weiß, desto besser kann er sie dazu bringen, sich selbst die Schuld zu geben, und desto geschickter kann er andere Menschen davon überzeugen, dass sie verrückt ist. Je gesellschaftlich einflussreicher ein Täter ist, desto wirksamer kann sein Missbrauch sein – und desto schwieriger kann es sein, ihm zu entkommen. Zwei meiner ersten Klienten waren Harvard-Professoren.

Manche Frauen fühlen sich von dem Image des harten Kerls angezogen, und manche können es nicht ausstehen. Wählen Sie selbst. Wie wir in Kapitel 5 sehen werden, gibt es Möglichkeiten festzustellen, 000ob ein Mann die Tendenz hat, missbräuchlich zu werden, aber die Kriterien einer sanften oder machohaften Persönlichkeit gehören nicht dazu. (Doch Vorsicht: Wenn ein Mann andere grundsätzlich einschüchtert, passen Sie auf. Früher oder später wird er seine Einschüchterungen gegen Sie richten. Anfangs mag es Ihnen vielleicht ein sicheres Gefühl geben, mit einem Mann zusammen zu sein, der Menschen Angst macht, aber nicht, wenn Sie an der Reihe sind.)

 

Mythos Nr. 6:

Er verliert die Kontrolle über sich selbst. Er wird einfach wild.

Vor vielen Jahren habe ich eine Frau namens Sheila telefonisch befragt. Sie beschrieb die Wutausbrüche, die mein Klient Michael ihr zufolge regelmäßig hatte: „Er dreht einfach völlig durch, und man weiß nie, wann er so ausrasten wird. Er fängt einfach an, nach allem zu greifen, was da ist, und damit rumzuwerfen. Er schleudert das Zeug überall hin, an die Wände, auf den Boden – es ist einfach ein Chaos. Und er zerschlägt Sachen, manchmal wichtige Dinge. Dann ist es, als ob der Sturm einfach vorbeizieht; er beruhigt sich und geht für eine Weile weg. Später scheint er sich irgendwie vor sich selbst zu schämen.“

Ich habe Sheila zwei Fragen gestellt. Die erste war, wenn Dinge kaputtgingen, gehörten sie dann Michael oder ihr, oder waren es Dinge, die beiden gehörten? Es entstand eine beträchtliche Stille, während sie nachdachte. Dann sagte sie: „Wissen Sie was? Ich bin erstaunt, dass ich nie darüber nachgedacht habe, aber er macht nur meine Sachen kaputt. Ich kann mich nicht erinnern, dass er etwas zerbrochen hat, das ihm gehört hat.“ Als Nächstes fragte ich sie, wer das Chaos aufräumt. Sie antwortete, dass sie das tut.

Ich erklärte ihr: „Sehen Sie, Michaels Verhalten ist nicht annähernd so berserkerhaft, wie es aussieht. Und wenn er wirklich so reumütig wäre, würde er beim Aufräumen helfen.“

Frage 2: Macht er das mit Absicht?

Wenn mir ein Klient erzählt, dass er missbräuchlich wurde, weil er die Kontrolle über sich verloren hat, frage ich ihn, warum er nicht etwas noch Schlimmeres getan hat. Ich sage zum Beispiel: „Sie haben Ihre Partnerin eine verdammte Hure genannt, Sie haben ihr das Telefon aus der Hand gerissen und es durch den Raum geschleudert, und dann haben Sie ihr einen Schubs gegeben, und sie ist hingefallen. Da lag sie vor Ihren Füßen; es wäre ein Leichtes gewesen, ihr einen Tritt an den Kopf zu verpassen. Jetzt haben Sie mir gerade gesagt, dass Sie zu diesem Zeitpunkt ‚völlig außer Kontrolle‘ waren, aber Sie haben sie nicht getreten. Was hielt Sie davon ab?“ Und der Klient kann mir immer einen Grund nennen. Hier sind einige übliche Erklärungen:

„Ich möchte ihr keine ernsthafte Verletzung zufügen.“

„Ich merkte, dass eines der Kinder zusah.“

„Ich hatte Angst, jemand würde die Polizei rufen.“

„Ich könnte sie umbringen, wenn ich das täte.“

„Der Streit wurde laut, und ich hatte Angst, dass die Nachbarn es hören würden.“

Und die häufigste Antwort von allen:

„Mein Gott, das würde ich nicht tun. Ich würde ihr so etwas nie antun.“

Die Antwort, die ich fast nie hörte – ich erinnere mich, dass es in all den Jahren nur zweimal vorkam – war: „Ich weiß es nicht.“

Diese unmittelbaren Antworten nehmen den Ausreden meiner Klienten, sie würden die Kontrolle verlieren, die Glaubwürdigkeit. Während sich ein Mann verbal oder körperlich missbräuchlich austobt, behält sein Geist das Bewusstsein für eine Reihe von Fragen: „Tue ich etwas, was andere Leute herausfinden könnten, sodass ich schlecht dastehe? Tue ich etwas, das mich in rechtliche Schwierigkeiten bringen könnte? Könnte ich selbst verletzt werden? Tue ich etwas, das ich selbst als zu grausam, grob oder gewalttätig erachte?“

Aus der Arbeit mit meinen ersten paar Dutzend Klienten habe ich eine wichtige Erkenntnis gewonnen: Ein Täter tut fast nie etwas, das er selbst als moralisch inakzeptabel betrachtet. Er mag das, was er tut, verbergen, weil er glaubt, andere Menschen würden dem nicht zustimmen, aber er fühlt sich innerlich gerechtfertigt. Ich kann mich nicht erinnern, dass ein Klient jemals zu mir gesagt hätte: „Ich kann das, was ich getan habe, auf keinen Fall rechtfertigen. Es war einfach völlig falsch.“ Er hat immer einen Grund, den er für gut genug hält. Kurz gesagt, das Kernproblem eines Täters ist, dass er eine verzerrte Vorstellung von Richtig und Falsch hat.

Manchmal stelle ich meinen Klienten folgende Frage: „Wie viele von Ihnen haben sich jemals wütend genug auf Ihre Mutter gefühlt, um den Drang zu verspüren, sie eine Schlampe zu nennen?“ Normalerweise hebt die Hälfte oder mehr der Gruppenmitglieder die Hand. Dann frage ich: „Wie viele von Ihnen haben schon einmal diesem Drang nachgegeben?“ Alle Hände fallen nach unten, und die Männer werfen mir entsetzte Blicke zu, als hätte ich gerade gefragt, ob sie vor Grundschulen Drogen verkaufen. Dann frage ich: „Nun, warum haben Sie es nicht getan?“ Jedes Mal, wenn ich diese Übung mache, schießt die gleiche Antwort aus den Männern heraus: „Aber du kannst deine Mutter nicht so behandeln, egal wie wütend du bist! So etwas tut man einfach nicht!“

Der unausgesprochene Rest dieser Aussage, den wir für meine Klienten ergänzen können, lautet: „Aber Sie können Ihre Frau oder Freundin so behandeln, solange Sie einen guten Grund haben. Das ist offensichtlich etwas anderes.“ Mit anderen Worten: Das Problem des Täters liegt vor allem in seiner Überzeugung, dass die Kontrolle oder der Missbrauch seiner Partnerin gerechtfertigt ist. Diese Einsicht hat enorme Auswirkungen auf die Art und Weise der Beratungsarbeit mit Tätern, wie wir im Laufe dieses Buches sehen werden.

Als ich neu in der Beratung von misshandelnden Männer war, kollidierte mein eigener Mythos vom Kontrollverlust immer wieder mit den Realitäten, die in den Geschichten meiner ersten Klienten auftauchten. Kenneth gab zu, dass er immer das Licht dimmte und dann gegenüber Jennifer behauptete, dass sich an der Helligkeit nichts geändert hätte. Er versuchte, ihr so das Gefühl zu geben, verrückt zu sein (ich erinnere mich auch, dass er mir mit seiner offenen Kritik an den anderen Gruppenteilnehmern wegen ihrer mangelnden Sensibilität gegenüber ihren Partnerinnen aufgefallen war, denn er tat dies trotz seines eigenen missbräuchlichen Verhaltens). James erzählte mir, dass er manchmal etwas versteckte, das seine Partnerin dann suchte, wie z. B. ihre Handtasche oder ihre Autoschlüssel, und er darauf wartete, dass sie auf der Suche danach verzweifelte und frustriert wurde, um es dann wieder irgendwo sichtbar hinzulegen und darauf zu bestehen, dass es die ganze Zeit dort gelegen hätte. Mario berechnete die Entfernung von seinem Haus bis zum Supermarkt, und wenn seine Frau berichtete, dass sie tagsüber einkaufen war, überprüfte er den Kilometerzähler ihres Autos, um sicherzustellen, dass sie nirgendwo anders hingefahren war.

Als meine Kollegen David und Carole einmal für eine Konferenz einen Sketch über Missbrauch vorbereiteten, beschlossen sie, ihn zur Probe ihrer Klienten-Gruppe vorzuspielen. Danach überhäuften die Gruppenmitglieder meine Kollegen mit ihren Vorschlägen zur Verbesserung des Sketches, vor allem, was Davids Rolle anging: „Nein, nein, du entschuldigst dich nicht dafür, dass du zu spät nach Hause kommst, das bringt dich in die Defensive, du musst es umdrehen und ihr sagen, dass du weißt, dass sie dich betrügt … Du stehst zu weit von ihr weg, David. Machen Sie ein paar Schritte auf sie zu, damit sie weiß, dass Sie es ernst meinen … Sie lassen sie zu viel reden. Sie müssen ihr das Wort abschneiden und bei Ihren Punkten bleiben.“ Die Kollegen waren verblüfft, wie sehr die Klienten sich der Art ihrer Taktiken bewusst sind und warum sie sie anwenden: In der Aufregung, Feedback zu dem Sketch zu geben, ließen die Männer ihre Fassade als „außer Kontrolle geratene Täter, die nicht merken, was sie tun“ fallen.

Wenn wir uns in diesem Buch die Geschichten meiner Klienten näher ansehen, werden Sie immer wieder beobachten, wie viel Bewusstsein in ihre grausamen und kontrollierenden Handlungen einfließt. Gleichzeitig möchte ich aber auch nicht, dass der Eindruck entsteht, dass misshandelnde Männer bösartig sind. Sie kalkulieren und planen nicht jeden ihrer Schritte – obwohl sie öfter vorausschauend handeln, als man erwarten würde. Es ist nicht so, dass jedes Mal, wenn ein Täter einen Stapel Zeitungen auf den Boden fegt oder einen Becher an die Wand wirft, er sich im Voraus entschlossen hat, diesen Weg einzuschlagen. Um ein passenderes Bild zu erhalten, stellen Sie sich den Täter wie einen Akrobaten in einer Zirkusmanege vor, der zwar bis zu einem gewissen Grad „außer Rand und Band“ gerät, aber nie vergisst, wo die Grenzen sind.

Wenn einer meiner Klienten zu mir sagt: „Ich bin explodiert“ oder „Ich bin einfach durchgedreht“, bitte ich ihn, in Gedanken Schritt für Schritt durch die Momente zu gehen, die zu seinem missbräuchlichen Verhalten geführt haben. Ich frage: „Sind Sie wirklich ‚einfach explodiert‘, oder haben Sie sich an einem bestimmten Punkt entschieden, sich selbst grünes Licht zu geben? Gab es nicht einen Moment, in dem Sie entschieden, dass Sie ‚genug hatten‘ oder ‚es nicht mehr hinnehmen wollten‘, und Sie sich selbst die Erlaubnis gaben, das zu tun, worauf Sie Lust hatten?“ Dann sehe ich ein Flackern des Erkennens in den Augen meines Klienten, und er gibt in der Regel zu, dass es tatsächlich einen Moment gab, in dem er alle Vorbehalte über Bord geworfen hat, um mit der Horror-Show zu beginnen.

Selbst der körperlich gewalttätige Täter zeigt Selbstbeherrschung. In dem Augenblick, in dem zum Beispiel die Polizei vor dem Haus vorfährt, beruhigt er sich meist sofort, und wenn die Beamten eintreten, spricht er in einem freundlichen und vernünftigen Ton mit ihnen. Wenn die Polizei eintrifft, findet sie fast nie einen laufenden Kampf vor. Ty, ein körperlich Gewalttätiger, der jetzt andere Männer berät, beschreibt in einem Trainingsvideo, wie er aus seiner Wut ausstieg, sobald die Polizei vor dem Haus vorfuhr, und Süßholz raspelte: „Ich erzählte ihnen, was sie getan hatte. Dann schauten sie zu ihr, und sie war diejenige, die völlig außer Kontrolle war, weil ich sie gerade erniedrigt und in Angst versetzt hatte. Ich sagte zur Polizei: ‚Sehen Sie, ich bin nicht derjenige‘“. Ty schaffte es mit seinem ruhigen Auftreten und seiner Behauptung, sich nur selbst verteidigt zu haben, wiederholt, der Verhaftung zu entkommen.

Mythos Nr. 7:

Er ist voller Wut. Er muss lernen, mit seiner Wut umzugehen.

Vor einigen Jahren durchlebte die Partnerin einer meiner Klienten ein Martyrium, weil ihr zwölfjähriger Sohn (aus einer früheren Ehe) für mehr als achtundvierzig Stunden verschwunden war. Zwei Tage lang war Mary Beths Herz kurz vor dem Zerspringen, während sie durch die Stadt fuhr, um ihren Sohn zu suchen. Voller Panik rief sie alle an, die sie kannte, und gab das Foto ihres Sohnes bei der Polizei, in Zeitungen und Radiosendern ab. Sie schlief kaum noch. Währenddessen begann ihr neuer Ehemann Ray, der in einer meiner Gruppen war, langsam innerlich zu kochen. Gegen Ende des zweiten Tages explodierte er schließlich und schrie sie an: „Ich habe es so satt, von dir ignoriert zu werden! Es ist, als würde ich gar nicht existieren! Fick dich ins Knie!“

Wenn Menschen zu dem Schluss kommen, dass Wut zu Misshandlungen führt, verwechseln sie Ursache und Wirkung. Ray hat sich nicht missbräuchlich verhalten, weil er wütend war; er wurde wütend, weil er missbräuchlich war. Missbrauchende Männer haben Einstellungen, die Wut erzeugen. Ein nicht-missbräuchlicher Mann würde nicht erwarten, dass seine Frau sich in einer so schweren Krise emotional um ihn kümmert. Vielmehr würde er sich darauf konzentrieren, wie er sie unterstützen kann, und versuchen, das Kind zu finden. Es wäre zwecklos, Ray beizubringen, eine Auszeit zu nehmen, in Kissen zu schlagen, einen zügigen Spaziergang zu machen oder sich auf tiefes Atmen zu konzentrieren, denn sein Denkprozess wird ihn bald wieder wütend machen. In Kapitel 3 werden Sie sehen, wie und warum die Haltung eines Täters ihn wütend macht.

Wenn ein neuer Klient zu mir sagt: „Ich bin wegen meiner Wut in Ihrem Programm“, erwidere ich: „Nein, sind Sie nicht, Sie sind wegen Ihres missbräuchlichen Verhaltens hier.“ Jeder wird wütend. Tatsächlich erleben die meisten Menschen zumindest gelegentlich Zeiten, in denen sie überaus wütend sind, was in keinem Verhältnis zum eigentlichen Ereignis steht oder über das hinausgeht, was gut für ihre Gesundheit ist. Manche bekommen dadurch Geschwüre, Herzattacken oder Bluthochdruck. Aber sie misshandeln ihre Partner deswegen nicht zwangsläufig. In Kapitel 3 werden wir einen Blick darauf werfen, warum misshandelnde Männer dazu neigen, so wütend zu sein – und warum ihre Wut zugleich nicht wirklich das Hauptproblem ist.

 

Der explosive Wutausbruch des Missbrauchstäters kann Ihre Aufmerksamkeit von all der Respektlosigkeit, Verantwortungslosigkeit, dem Gerede über Sie, der Lüge und anderen missbräuchlichen und kontrollierenden Verhaltensweisen ablenken, die er selbst dann zeigt, wenn er gerade nicht wütend ist. Ist es Wut, die so viele Missbrauchende dazu bringt, ihre Partner zu hintergehen? Führt die Wut eines Täters dazu, dass er jahrelang die Tatsache verschweigt, dass eine frühere Freundin untergetaucht ist, um von ihm wegzukommen? Ist es eine Form von Explosivität, wenn Ihr Partner Sie unter Druck setzt, Ihre Freundschaften aufzugeben und weniger Zeit mit Ihren Geschwistern zu verbringen? Nein. Vielleicht kommen seine lautesten, offensichtlichsten oder einschüchterndsten Formen des Missbrauchs zum Vorschein, wenn er wütend ist, aber sein tiefer liegendes Muster ist die ganze Zeit aktiv.

Mythos Nr. 8:

Er ist verrückt. Er ist psychisch krank; er sollte sich medikamentös behandeln lassen.

Wenn sich das Gesicht eines Mannes in Bitterkeit und Hass verzerrt, sieht er ein wenig unzurechnungsfähig aus. Wenn sich seine Stimmung von jetzt auf gleich von freudig erregt zu angriffslustig ändert, scheint seine geistige Stabilität Fragen aufzuwerfen. Wenn er seine Partnerin beschuldigt, dass sie vorhabe, ihm etwas anzutun, wirkt er paranoid. Es ist kein Wunder, dass die Partnerin eines misshandelnden Mannes den Verdacht hegt, dass er psychisch krank ist.

Dennoch ist die große Mehrheit meiner Klienten im Laufe all der Jahre vom psychologischen Standpunkt aus „normal“ gewesen. Ihr Verstand arbeitet logisch, sie verstehen Ursache und Wirkung und sie halluzinieren nicht. Ihre Wahrnehmung der meisten Lebensumstände ist ziemlich präzise. Sie haben gute Arbeitszeugnisse, sind gut in der Schule oder im Ausbildungsprogramm, und niemand außer ihren Partnerinnen und Kindern denkt, dass mit ihnen etwas nicht stimmt. Ihr Wertesystem ist krank, nicht ihre Psyche.

Vieles von dem, was bei einem Täter als verrücktes Verhalten erscheint, funktioniert bei ihm tatsächlich gut. Wir haben bereits Michael kennengelernt, der nie seine eigenen Sachen zerbrochen hat, und Marshall, der seinen eigenen Eifersuchtsvorwürfen nicht glaubte. Auf den folgenden Seiten werden Sie viele weitere Beispiele für die Methode finden, die hinter dem Wahnsinn des Täters steckt. Sie werden auch erfahren, wie verzerrt seine Sicht auf seine Partnerin ist – was ihn emotional gestört erscheinen lassen kann – und was die Ursache für diese Störungen ist.

Jüngste Forschungsergebnisse zeigen, dass selbst bei körperlich Gewalttätigen die Rate psychischer Erkrankungen nicht hoch ist. Mehrere meiner brutal misshandelnden Klienten wurden psychologisch untersucht, und nur bei einem von ihnen wurde eine psychische Erkrankung festgestellt. Gleichzeitig gehörten einige meiner Klienten, die ich wirklich für psychisch krank gehalten habe, nicht unbedingt zu den gewalttätigsten. Die Forschung deutet darauf hin, dass die extremsten Gewalttäter – diejenigen, die ihre Partner bis zur Bewusstlosigkeit würgen, ihnen Waffen an den Kopf halten, sie stalken und töten – eine erhöhte Anzahl an psychischen Erkrankungen aufweisen. Es gibt jedoch keinen speziellen psychischen Gesundheitszustand, der typisch für diese extremen Schläger ist. Sie können eine Reihe von Diagnosen haben, darunter Psychose, Borderline-Syndrom, manische Depression, antisoziale Persönlichkeit, Zwangsstörung und andere. (Und selbst unter den gefährlichsten Tätern gibt es viele, die keine eindeutigen psychiatrischen Symptome irgendwelcher Art aufweisen.)

Wie können all diese verschiedenen psychischen Erkrankungen so ähnliche Verhaltensmuster verursachen? Die Antwort ist, dass sie es gar nicht tun. Psychische Erkrankungen verursachen ebenso wenig missbräuchliches Verhalten wie Alkohol. Was passiert, ist vielmehr, dass das psychische Problem des Mannes mit seinem missbräuchlichen Verhalten interagiert und eine unberechenbare Kombination bildet. Wenn er zum Beispiel schwer depressiv ist, kann er aufhören, sich über die für ihn negativen Folgen seines Handelns Gedanken zu machen, was die Gefahr erhöht, dass er sich zu einem schwerwiegenden Angriff auf seine Partnerin oder seine Kinder entschließt. Ein psychisch kranker Täter hat zwei verschiedene – aber miteinander verbundene – Probleme, genau wie der Alkoholiker oder Drogenabhängige.

Das Standardwerk für psychiatrische Erkrankungen, das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-IV), enthält keine Erkrankungen, die gut auf missbräuchlich handelnde Männer zutreffen. Einige Kliniker erweitern eine der Definitionen, um sie auf missbrauchende Klienten anzuwenden, z. B. auf eine „intermittierende explosive Störung“, sodass die Versicherung seine Therapie übernimmt. Dennoch ist diese Diagnose fehlerhaft, wenn sie allein auf der Grundlage seines missbräuchlichen Verhaltens gestellt wird. Ein Mann, dessen destruktives Verhalten sich in erster Linie oder gänzlich auf eine Paarbeziehung beschränkt, ist ein Missbrauchstäter, kein psychiatrischer Patient.

Zwei letzte Punkte zur psychischen Erkrankung möchte ich noch anfügen: Erstens höre ich gelegentlich Aussagen über einen gewalttätigen Missbrauchstäter wie: „Er muss verrückt sein, wenn er glaubt, er käme damit durch.“ Aber leider stellt sich oft heraus, dass er damit durchkommen kann, wie wir in Kapitel 12 erörtern, sodass sein Glaube keineswegs eine Wahnvorstellung ist. Zweitens habe ich ein paar Berichte über Fälle erhalten, in denen sich das Verhalten eines Täters eine Zeit lang verbesserte, weil er von einem Psychiater verschriebene Medikamente genommen hat. Sein allgemein missbräuchliches Verhalten hörte nicht auf, aber die verheerendsten oder erschreckendsten Verhaltensweisen haben nachgelassen. Medikamente sind jedoch keine langfristige Lösung, und zwar aus zwei entscheidenden Gründen:

1. Die Missbrauchstäter lassen sich nicht gerne medikamentös behandeln, weil sie zu egoistisch sind, um die Nebenwirkungen zu ertragen, ganz gleich, wie sehr die Verbesserung ihren Partnerinnen zugutekommt. Fast immer hören sie nach einigen Monaten mit der Medikation auf.Das Medikament kann dann als weiteres Mittel für den psychischen Missbrauch eingesetzt werden. Beispielsweise kann der Täter die Einnahme seiner Pillen einstellen, wenn er wütend auf seine Partnerin ist, weil er weiß, dass sie dadurch nervös und ängstlich wird. Oder wenn er sie auf dramatische Weise angreifen will, kann er sich absichtlich eine Überdosis verabreichen, um so eine medizinische Krise auszulösen.

2. Es gibt bisher kein Medikament, das aus einem Täter einen liebevollen, rücksichtsvollen und geeigneten Partner macht. Es können nur die Spitzen seines absolut schlechtesten Verhaltens gelindert werden – wenn das überhaupt möglich ist. Wenn Ihr missbrauchender Partner Medikamente einnimmt, sollten Sie sich bewusst sein, dass Sie dadurch nur Zeit gewinnen. Nutzen Sie die (friedlichere) Zeit, um Unterstützung für Ihre eigene Heilung zu bekommen. Beginnen Sie damit, eine Beratungsstelle für misshandelte Frauen zu kontaktieren.

Mythos Nr. 9:

Er hasst Frauen. Seine Mutter oder eine andere Frau muss ihm etwas Schreckliches angetan haben.