Buch lesen: «Israel als Urgeheimnis Gottes?»

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Lukasz Strzyż-Steinert

ISRAEL ALS URGEHEIMNIS GOTTES?


Bonner

Dogmatische

Studien

Band 59

Lukasz Strzyż-Steinert

ISRAEL ALS URGEHEIMNIS GOTTES?

Die Analogik des christlich-jüdischen Verhältnisses bei Erich Przywara

echter

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar.

© 2018 Echter Verlag GmbH

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ISBN 978-3-429-05311-6 (Print)

ISBN 978-3-429-04997-3 (PDF)

ISBN 978-3-429-06407-5 (ePub)

Vorwort

Die vorliegende Arbeit wurde im Februar 2017 an der Päpstlichen Lateranuniversität in Rom als Dissertation angenommen und verteidigt. Für den Druck wurden einige Stellen stilistisch überarbeitet sowie die unterlaufenen Fehler korrigiert.

Die Beschäftigung mit der Vision des christlich-jüdischen Verhältnisses bei Erich Przywara regte mich nicht nur wegen der sperrigen Sprache und der nicht selten äußerst verwinkelten Gedankengänge dieses aus Kattowitz stammenden Autors an. Sie wurde auch zur spirituellen und existentiellen Herausforderung. Mit Erich Przywara verbindet mich, auch wenn durch einige Jahrzehnte getrennt und unter veränderten Bedingungen, die oberschlesische Heimat. An vielen Stellen glaubte ich spüren zu können, wie das, was Przywara sagt oder zu sagen versucht, mit der Erfahrung dieser Brücke zwischen Ost und West, die sich ständig neu als Gegensatzspannung zwischen verschiedenen Kulturen, Mentalitäten und Sprachen ereignen muss, zu tun hat. Dass jegliche gegensätzliche Spannung christlich nur im Blick auf das Verhältnis zwischen Christen und Juden verstanden und gelebt werden kann, ist mir zur Überzeugung geworden.

An dieser Stelle möchte ich allen danken, die die Entstehung dieser Arbeit ermöglichten und mittrugen. In besonderer Weise gilt dieser Dank meinem Doktorvater, Herrn Prof. Achim Schütz, der mich in diesen Jahren stets engagiert, wohlwollend und fachlich begleitete. Bereichernd und wegweisend war für mich immer der Austausch mit Herrn Prof. Michael Fuss. Des Weiteren danke ich allen Dozenten und der ganzen Gemeinschaft der Lateranuniversität.

Meinen Ordensoberen danke ich für die Freistellung zur Promotion. Dank empfinde ich auch meinen Mitbrüdern gegenüber, die mir in der internationalen Gemeinschaft Seminarium Missionum in Rom und im Kloster Reisach am Inn ein Zuhause schenkten.

Mein herzlicher Dank ergeht an die Angehörigen der Pfarreien in Neubiberg und München-Waldperlach, die das Studium ihres ehemaligen Seelsorgers mit regem Interesse verfolgten und auf vielfache und großzügige Weise unterstützten, an Herrn Dr. Clemens Brodkorb, Leiter des Archivs der Deutschen Provinz der Jesuiten in München, der meine Recherche wohlwollend begleitete, an Frau Dr. Celia Speth und Frau Barbara Villani, die die mühsame Aufgabe der Durchsicht dieser Doktorarbeit auf sich nahmen, sowie an meine Familie und an alle Freunde, die mir mit praktischer Hilfe und ermutigenden Worten beistanden. Vergelt’s Gott!

Rom, im Frühling 2018

Lukasz Strzyz-Steinert OCD

Inhaltsverzeichnis

Abkürzungen

Einleitung

0.1 Fragestellung

0.2 Aufbau und Methode

1. Erich Przywara – der Denker und seine Welt

1.1 Welt der Brüche und Gegensätze

1.1.1 Gegensätzliche Geburtserde

1.1.2 Gesellschaft Jesu zwischen Kirche und Welt

1.1.3 Abgrund

1.2 Denkweg und Denkfiguren

1.2.1 Erich Przywaras eine Frage: Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Welt

1.2.2 Polarität

1.2.3 Analogie

1.2.4 Theologia crucis et tenebris

1.2.5 Denken zwischen Dialog und „ungerechter Klassifikatorik“

1.2.6 Exkurs: Perplexität

1.3 Das christlich-jüdische Verhältnis in Przywaras Welt und Denken

2. Religionsphilosophische und offenbarungstheologische Verortung des christlich-jüdischen Verhältnisses

2.1 Hinführung: Religiöser Wettstreit angesichts der Herausforderung der Weimarer Zeit

2.1.1 „Katholische Wende“ und Przywaras Auseinandersetzung mit dem Protestantismus

2.1.2 Die jüdische Religionsphilosophie zu Beginn des 20. Jahrhunderts

2.2 Religionsphilosophische Auseinandersetzung in Przywaras Artikel „Judentum und Christentum“ (1925) und in der anschließenden Debatte

2.2.1 Die Hauptthesen Przywaras

2.2.2 Jüdische Reaktionen

2.2.2.1 Oskar Wolfsberg

2.2.2.2 Max Dienemann

2.2.2.3 Aussprache in Frankfurt

2.2.3 Schlusswort (1929) und Weichenstellung

2.2.3.1 Polarität und das Rätsel der innerweltlichen Existenz Israels

2.2.3.2 Korrelation als jüdische und protestantische forma mentis im Gegensatz zur katholischen analogia entis

2.2.3.3 „Gläubiger“ und „ungläubiger“ Antisemitismus

2.2.4 Exkurs: Jüdisch-christliche Zeitschrift „Die Kreatur“

2.3 Zwischen Religionsphilosophie und Offenbarungstheologie: Przywaras Interpretation von Quellen und Tradition des nachchristlichen Judentums

2.4 Offenbarungstheologische Verortung von Juden und Heiden im Bund Gottes mit dem Menschen

2.4.1 Analogia entis und offenbarungstheologisches Denken

2.4.2 Admirabile commercium als Mitte des Christlichen

2.4.3 Admirabile commercium als Prozess

2.4.4 Juden und Heiden als die eine Menschheit im Bund mit Gott

2.4.5 Christentum als Verhältnis zwischen Gott und Welt im Verhältnis zwischen Juden und Heiden

2.5 Zwischenbilanz und Ausblick

3. Analogia fidei als Methode der Schriftauslegung von Altem und Neuem Bund

3.1 Hinführung: Krise der Theologie und Frage nach der Schriftauslegung

3.2 Hintergründe von Przywaras Schriftauslegung: Das Alte Testament als Herausforderung

3.2.1 Das Alte Testament zwischen Allegorese und Wortsinn bei den Kirchenvätern

3.2.2 Joachim von Fiore und die Concordia zwischen Altem und Neuem Testament

3.2.3 Das Alte Testament zwischen liberaler und dialektischer Theologie

3.2.4 Das Alte Testament und der nationalsozialistische Angriff

3.2.5 Franz von Hummelauer und das Alte Testament im Strudel des Modernismusstreites

3.2.6 John Henry Newman als Neuinterpret der patristischen Exegese

3.3 Der Zusammenhang von Altem und Neuem Bund als „je immer größere Unähnlichkeit“ in „noch so großer Ähnlichkeit“

3.3.1 Analogia fidei als altchristliche Praxis und aktuelle Kontroverse

3.3.2 Analogie zwischen Altem und Neuem Bund „gemäß Christus“

3.3.3 Alter und Neuer Bund als Verheißung und Erfüllung

3.3.4 Alter und Neuer Bund im Zueinander von Gesetz und Kreuz

3.4 Die unauflösliche Einheit von Altem und Neuem Testament als Richtmaß des Christlichen

3.4.1 Die Einheit der Erlösungsordnung von Altem und Neuem Bund als „Kanon“

3.4.2 Einheit der Schrift und Einheit zwischen Gott und Welt in Bild und Symbol

3.4.3 Einheit im Logos

3.4.4 Einheit im Mysterium der Trinität

3.5 Die Schriftauslegung und ihre Sprache

3.5.1 Die ‚Juden‘ in der Schrift

3.5.2 Übersetzung

3.6 Der Rhythmus des Alten und Neuen Bundes als letzter Beweg-Grund der Theologie

4. Kirche in Bezug auf Israel

4.1 Hinführung: Die Eckpfeiler von Przywaras ekklesiologischem Entwurf

4.2 Israel, Christus und Kirche zwischen Typus und Erfüllung

4.2.1 Kategorien der Verhältnisbestimmung

4.2.2 Israel und Kirche im Geheimnis des Todes und der Auferstehung Christi

4.2.3 Israel und Kirche als „Braut-Hure“ der einen Hochzeit

4.2.4 Israel und Kirche als Typus und Erfüllung im Kreuz

4.3 Israel und die inkarnatorische Logik der Kirche

4.3.1 Leibhafte Gestalt

4.3.2 Messias und messianisches Volk: Gefahr der Verwechselbarkeit

4.3.3 Israel und Kirche zwischen Geist und Fleisch

4.3.4 Israel und Kirche als Werkzeug und Repräsentation Christi

4.4 Israel und die Einheit der Kirche

4.4.1 Die Kirche des Ursprungs zwischen Einheit der Agape und Streit

4.4.2 Die jüdische Verwurzelung und die Katholizität der Kirche

4.4.3 Ur-Riss und eschatologische Einigung

4.4.4 Ökumene der Gegensätze

4.4.5 Die Kirche und der Dialog mit dem Judentum

4.5 Edith Stein und Simone Weil: Zwei Jüdinnen und Christinnen als Symbol der Kirche im Geheimnis Mariens

5. Geschichtstheologie – „das Mysterium zwischen Jude und Heide als das Geheimnis jedes Weltalters“

5.1 Hinführung: Geschichtliche Krise und Krise der Geschichtstheologie

5.2 Geschichte als medium divini im Lichte der Offenbarung

5.2.1 Die Frage nach der geschichtlichen Offenbarung im Streit zwischen Integralismus und Modernismus

5.2.2 Hegel und Kierkegaard auf der Suche nach dem Sinn der Geschichte

5.2.3 Baeck und Tillich: Offenbarung in der Geschichte als kairos, oikonomia oder toledot?

5.3 Die Analogie von Altem und Neuem Bund als Grundsatz der Geschichtsinterpretation

5.3.1 Die Auslegung der Schrift und die Frage nach Gestalt und Gestaltung der Geschichte

5.3.2 Geschichte der Menschwerdung in der Apokalyptik von Altem und Neuem Bund

5.3.3 Geschichtlicher Umbruch als relative Endzeit von Altem und Neuem Bund

5.3.4 Trinitarische Spuren in der realgeschichtlichen Versöhnung der Gegensätze als Überwindung der trinitarischen Geschichtsspekulation

5.3.5 Verlauf der Geschichte als sich steigernde Analogie

5.4 Geschichtstheologie als Reichstheologie

5.4.1 Hintergründe: „Wo ist das Reich?“

5.4.2 Die „Metaphysik“ des Reiches

5.4.3 Reich, Volk und die „deutsche Frage“ im Lichte Israels

5.4.4 Künftiges Europa aus der Tradition des Reiches als „Jerusalem, das Tor der Völker“

5.5 Symbol Israel als Theologie der Stunde?

6. Ertrag in kritischer Wertung

6.1 Israel und die Frage nach dem analogischen Einheitsverhältnis zwischen Gott und Welt

6.2 Das christlich-jüdische Verhältnis und der interreligiöse Dialog

6.3 Israel im Christentum und Christentum angesichts Israels

6.4 Die Analogie von Altem und Neuem Bund als Mitte des Christlichen

6.5 Israel und Christentum an der Schnittstelle zwischen Religion und Politik

6.6 Begegnung mit dem Urgeheimnis Gottes?

Epilog

Literaturverzeichnis

Personenverzeichnis

Abkürzungen

Die Abkürzungen – außer den folgenden – richten sich nach R. SCHWERTNER, Theologische Realenzyklopädie. Abkürzungsverzeichnis, Berlin – New York 1994.

1. DIE HÄUFIG ZITIERTEN WERKE VON ERICH PRZYWARA


ANBAlter und Neuer Bund. Theologie der Stunde, Wien – München 1956.
AugAugustinisch. Ur-Haltung des Geistes, Freiburg im Breisgau 22000.
CExChristliche Existenz, Leipzig 1934.
ChrJohChristentum gemäß Johannes, Nürnberg 1954.
CMCrucis Mysterium. Das christliche Heute, Paderborn 1939.
DSM I-IIIDeus semper maior. Theologie der Exerzitien, 3 Bde., Freiburg im Breisgau 1938–1940.
HHumanitas. Der Mensch gestern und morgen, Nürnberg 1952.
HerHeroisch, Paderborn 1936.
IEIdee Europa, Nürnberg 1956.
IuGIn und Gegen. Stellungnahmen zur Zeit, Nürnberg 1955.
KiGKirche in Gegensätzen, Düsseldorf 1962.
KKKatholische Krise, Hrsg. und mit Nachwort versehen von B. GERTZ, Düsseldorf 1967.
LLogos. Logos – Abendland – Reich – Commercium, Düsseldorf 1964.
MMensch. Typologische Anthropologie 1, Nürnberg 1959.
RdG I-IIRingen der Gegenwart. Gesammelte Aufsätze 1922–1927, 2 Bde., Augsburg 1929.
S IFrühe Religiöse Schriften, Erich Przywara Schriften I, Einsiedeln 1962.
S IIReligionsphilosophische Schriften, Erich Przywara Schriften II, Einsiedeln 1962.
S IIIAnalogia Entis. Metaphysik. Ur-Struktur und All-Rhythmus, Erich Przywara Schriften III, Freiburg im Breisgau 31996.
SumWas ist Gott? Summula, Nürnberg 1947.

2. SONSTIGE


ArchDPSJArchiv der Deutschen Provinz der Jesuiten in München.
DHH. Denzinger, Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Verbessert, erweitert, ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von H. HOPING herausgegeben von P. HÜNERMANN, Freiburg im Breisgau 422009.
JHMTh/ZNThGZeitschrift für Neuere Theologiegeschichte/Journal for the History of Modern Theology.
ZfOZeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.

Einleitung

Zum symbolischen Ausgangspunkt nimmt meine Doktorarbeit die weit verbreitete mittelalterliche Darstellung von Kirche und Synagoge, wie sie z.B. am Südportal des Straßburger Münsters zu sehen ist. Juden und Christen sind dort als zwei weibliche Gestalten versinnbildlicht worden. Auf diese Weise drückt diese Skulptur die christliche Überzeugung aus, dass Kirche und Synagoge unzertrennbar aneinander gebunden sind. Zumindest für die Kirche gilt, dass sie sich nur im Spiegel der Wirklichkeit Israels selbst begreifen kann. Das Bild der beiden Frauengestalten verdeutlicht aber nicht nur das christliche Bewusstsein von ihrer unlösbaren Gemeinschaft. Auch ein anderer Aspekt der christlichen Theologie und Praxis in Bezug auf Israel wurde auf diese Weise illustriert.

Die Attribute, mit denen die Künstler Synagoge und Kirche auszustatten pflegten, lassen erahnen, dass es sich hier um ein einerseits schwesterliches, aber andererseits dramatisches Verhältnis handelt. Die beiden Frauen stehen im Duell, dessen Ergebnis jedoch längst und endgültig entschieden ist. Das Haupt der gedemütigten Synagoge ist gesenkt, der Blick wird ihr durch eine Augenbinde verwehrt, ihre Lanze ist zerbrochen und die steinernen Gesetzestafeln drohen aus ihrer Hand zu fallen. Auf manchen Darstellungen wird ihre anmutende und Würde ausstrahlende Gestalt in ein gelbes Gewand gehüllt, ein Zeichen der ausgegrenzten Prostituierten. Da sie Jesus nicht erkannte, verlor sie ihre Auserwählung und wurde von Gott verstoßen – so die gängige Deutung. Ihre Erwählung wurde der anderen Frau, der Kirche, zuteil. Deren Haupt ist nicht nur erhoben, sondern sogar bekrönt. In der Hand hält sie als Zeichen des Triumphs die Kreuzesfahne. Der Synagoge gilt der siegesbewusste, vielleicht sogar herablassende Blick der Kirche.

0.1 Fragestellung

Es drängt sich die Frage auf, ob diese künstlerisch versteinerte Unerlöstheit des Miteinanders von Kirche und Synagoge im Letzten das bleibend Gültige des Verhältnisses von Juden und Christen ist. Müsste diese Darstellung theologisch vielleicht umgemeißelt werden? Ist der Triumph der Kirche über die Synagoge ein Beweis des Triumphes Gottes in der Geschichte oder dessen Scheiterns? Diese Fragen können nicht ohne den Kontext der Geschichte des 20. Jahrhunderts erwägt werden, deren Ereignisse eine lange Tradition der christlichen Deutung des Verhältnisses zu Israel auf eine beispiellose Weise hinterfragt haben. Wie der israelische Historiker und Forscher der jüdisch-christlichen Beziehungen I.J. Yuval prägnant formuliert, wurde die antijüdische Polemik aus christlicher Sicht die ganze Zeit unter zwei Voraussetzungen geführt: „Zum einen galt die physische Existenz der Juden innerhalb der christlichen Gesellschaft als gewährleistet; zum anderen wurde das Exil des jüdischen Volkes und die Zerstörung seines religiösen und politischen Zentrums im Land Israel als Strafe für die Kreuzigung Jesu begriffen“. Binnen eines Jahrzehnts sind diese Prämissen zusammengebrochen. „Seit 1945 ist die christliche Welt mit Schrecken und Ausmaß der ‚Endlösung‘ konfrontiert worden, und im Jahre 1948 wurde der Staat Israel gegründet“1.

Vor allem der Schreck über die Schoah bewirkte, dass die traditionelle antijüdische Position der Kirche als verwerflich, da für das geschehene Grauen indirekt mitverantwortlich, empfunden wurde. Was seit Jahrhunderten als fester Bestandteil der christlichen Deutung des Heilsgeschehens gegolten hatte, ist untragbar geworden. Die neu erwachte Sensibilität bewirkte, dass am 28. Oktober 1965 auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil die Erklärung Nostra Aetate verabschiedet wurde, in deren viertem Artikel das christliche Verhältnis zum Judentum neu ausgerichtet wurde. Ein neues Zeitalter schien eingeleitet, in dem nicht Verwerfung und Polemik, sondern Wertschätzung und Zusammenarbeit den Ton angaben. Auf diesen Neuanfang folgten andere Dokumente und Gesten, die als Hauptintention die Verbesserung des christlich-jüdischen Verhältnisses bestätigten und konsolidierten2. Allerdings verdeutlichen die immer wieder ausbrechenden Kontroversen um Themen wie Judenmission, Karfreitagsliturgie oder Antisemitismus die Komplexität der Lage, zu der unterschiedliche Befindlichkeiten und Sprachgewohnheiten, Vorurteile und Missverständnisse beitragen. Zudem sind viele Fragen zwischen Juden und Christen nach wie vor eine theologische Herausforderung3. Die vom Vertrauen geprägte Partnerschaft zwischen Kirche und Israel ist kein festes Gut, sondern muss dauernd intensiviert werden. Fünfzig Jahre nach Nostra Aetate fragt man sich jedoch, ob auf dieser neuen Grundlage nicht nun auch die sensiblen Punkte und radikalen Differenzen zwischen Kirche und Synagoge auf ihren Offenbarungsgehalt examiniert werden können und sollen.

Es muss im Auge behalten werden, dass die Thematik um das Verhältnis zum Judentum auch innerkirchlich zur Debatte führt. Das Judentum liegt einerseits außerhalb der sichtbaren Gemeinschaft der Kirche, andererseits gehört das Jüdische zur Kirche fundamental hinzu. Es ist ein Bestandteil ihrer Identität, ihre bleibende Wurzel. Damit enthüllt sich die Dualität des kirchlichen Dialogs mit Israel, wie es Johannes Paul II. während seiner Begegnung mit Vertretern der Jüdischen Gemeinde am 17. November 1980 in Mainz zum Ausdruck gebracht hat. Noch bevor die heutigen Christen dem heutigen Volk Israel begegnen, stoßen sie auf die „erste Dimension dieses Dialogs, nämlich die Begegnung zwischen dem Gottesvolk des von Gott nie gekündigten Alten Bundes“, der „zugleich ein Dialog innerhalb unserer Kirche, gleichsam zwischen dem ersten und zweiten Teil ihrer Bibel“ ist4.

Nun ist aber auch die erste Dimension des Dialogs, und somit die Frage der bleibenden Verwurzelung der Kirche im Jüdischen, nicht unumstritten innerhalb der Christenheit. Der markionische Gedanke, ein endgültiger Bruch mit dem Alten Testament und seinem Gottesbild täte der Kirche gut und verhälfe der befreienden Botschaft des Evangeliums zu ihrem vollen Glanz, findet immer wieder neue Anhänger. Abgesehen von den einseitigen bis extremen Ansätzen bleibt das Problem einer christlichen Auslegung des Alten Testaments und der inneren Einheit und Verschiedenheit der beiden Testamente grundsätzlich ein großes, spannendes und spannungsreiches Thema, bei dem schon die traditionelle Terminologie Altes und Neues Testament zur Diskussion gestellt wird. Hinter der Idee, auf das Alte Testament und die jüdischen Bezüge zu verzichten, steht jedoch nicht immer ein offener oder verdeckter Anti-Judaismus, sondern der Gedanke, man könnte auf diese Weise die Kontroversen zwischen Judentum und Christentum beseitigen und somit zur friedlichen Koexistenz der beiden Religionen beitragen5. So stellt sich die Frage, ob die Neuausrichtung der Beziehung zum Judentum auch für das Selbstverständnis der Kirche eine Rolle spielt. Bleibt es bei der Justierung eines politisch heiklen, aber theologisch peripheren Themas, oder muss die neue Ausrichtung des christlich-jüdischen Verhältnisses ihre Wirkung noch ad intra entwickeln und angefangen bei der Schriftauslegung die ganze Theologie und Praxis der Kirche in ein neues Licht rücken?

Man darf diesen Fragen, mögen sie noch so belastet und schwierig sein, aus falschem Irenismus nicht ausweichen. Andernfalls riskiert die Theologie, ins Belanglose und Irreale abzusinken. Das Thema Israel und Kirche lässt sich nicht auf ein punktuelles, und schon gar nicht auf ein konventionell interreligiöses Problem begrenzen. Wir merken, dass die bereits gestellten Einzelfragen in ihrer Dynamik an den Fundamenten des Christlichen rühren. Sie verweisen uns auf die grundlegende Frage nach Gott und seiner Gegenwart in der Geschichte. Das verstrickte Verhältnis zwischen Juden und Christen führt in das Herz des Geheimnisses einer in dieser Welt faktisch ergangenen und wahrnehmbar-gegenwärtigen Offenbarung Gottes ein. Deswegen geziemt ihm der letzte eschatologische Ernst, den ihm der hl. Paulus beigemessen hat. Und im gleichen Zug betrifft die Frage nach dem Miteinander von Israel und Kirche das Hier und Jetzt. Dieses Miteinander lässt sich nicht im Diffusen und Spekulativen auflösen. Wir begegnen Israel in den Urkunden unseres Glaubens. Wir begegnen dem dort bezeugten Volk Israel in unserer Welt. Das Phänomen der Existenz Israels ist einmalig und lässt sich in keine Kategorien einordnen; allen Völkern und Religionen ähnlich und doch anders, da es sich weder in religiöse noch ethnische Kategorien einschließen lässt. Auf den Wogen der Geschichte behält es seine einmalige Identität. „Die Großmächte von damals sind alle untergegangen. Es gibt weder die alten Ägypter noch die Babylonier oder Assyrer. Israel bleibt – und zeigt uns etwas von der Beständigkeit, ja vom Geheimnis Gottes“6.

Die Rezeption der Neuausrichtung des christlich-jüdischen Verhältnisses ist also noch nicht abgeschlossen. Lasst uns noch einmal fragen: Welche Bedeutung hat also das ‚Phänomen Israel‘ für die Kirche? Wo und wie zeigt sich in der Theologie und kirchlichen Praxis die Gebundenheit an das Geheimnis seiner Erwählung und Identität? Kann Israel als ein besonderer locus theologicus verstanden werden? Wie soll der – religionsgeschichtlich einmalige – christlich-jüdische Dialog so geführt werden, dass sowohl den grundlegenden Gemeinsamkeiten als auch den grundlegenden Unterschieden Rechnung getragen wird? Welche heilsgeschichtliche Bedeutung hat das Verhältnis von Judentum und Christentum?

Meine Arbeit will diese vielschichtige Frage nach Israel an den so bedeutenden wie vergessenen Religionsphilosophen und Theologen Erich Przywara SJ (1889–1972) herantragen. Sein Werk, das aufgrund seiner systematischen Schärfe, der Vielfalt der behandelten Themen und Autoren sowie seines Tiefgangs und seiner bohrenden Fragestellungen ihresgleichen sucht, entstand in intensiver Beschäftigung mit den wichtigsten philosophischen, theologischen, aber auch politischen Herausforderungen seiner Zeit. Vor allem im Hinblick auf den deutschsprachigen Kulturraum ist es sowohl die Zeit der Blüte des jüdischen Lebens als auch die Zeit seiner Vernichtung. Es ist die Zeit vor dem vollzogenen Paradigmenwechsel der christlichen Beziehung zum Judentum und zugleich die Zeit, die dazu geführt hat.

Gemessen am Umfang Przywaras Werkes ist seine Erforschung eher bescheiden. Die meisten Arbeiten widmen sich zudem seinem metaphysischen Denken, das seine Mitte im Begriff der analogia entis fand. Die Stimmen zu seiner Sicht des christlich-jüdischen Verhältnisses sind fragmentarisch und nicht selten widersprüchlich. Die facettenreichen Ansätze und Ansichten Przywaras suchen nach Interpretation.

Es ist bezeichnend, dass ein US-Amerikanischer Autor, der dem Leser die Welt von Przywara erklären will, seine Beziehungen zu den jüdischen Denkern in der Periode zwischen den beiden Weltkriegen als etwas Ungewöhnliches und Pionierhaftes sieht. Nachdem die zahlreichen Kontakte des deutschen Jesuiten zu protestantischen Theologen erwähnt werden, schreibt M.A. Fahey:

„More surprising to readers who have stereotypical perceptions of German Catholics‘ attitudes to Jews in the period between the two World Wars, is Przywara’s close contacts with Jewish thinkers. Despite the fact that Berlin was a more favorable setting for exchange between Christian and Jews than Munich, he carried on respectful dialogue. For him a Jewish philosopher was not automatically a Bolshevist Jew“7.

Vor allem Przywaras Kontakte zu Leo Baeck (1873–1956), einem der bedeutendsten Gestalten des europäischen Judentums des letzten Jahrhunderts, werden erwähnt. So behauptet auch Baecks Schüler und ausgewiesener Kenner seines Denkens A.H. Friedlander, dass Przywara, auch mit jüdischen Autoren verglichen, seinerzeit das größte Verständnis für die Bedeutung von Baecks Theologie aufwies und sie aus diesem Grund auch der schärfsten Kritik unterzogen hat8. Allgemein bekannt ist auch, dass Przywara der wohl bekanntesten jüdischen Konvertitin dieser Zeit Edith Stein (1891–1942) als philosophisch-theologischer Berater zur Seite stand. Die Breite und die Vielfältigkeit seiner Kontakte zur jüdischen Welt sowie das Niveau, auf dem sie stattfanden, scheinen somit vielversprechend.

Auch Przywaras Ansätze zur Neudefinierung des christlich-jüdischen Verhältnisses werden gelegentlich ins Gespräch gebracht, und das nicht nur im strikten akademischen Bereich. So berief sich darauf der Vorsitzende des Päpstlichen Rates zur Förderung der Einheit der Christen Kard. K. Koch am „Tag des Judentums“ am 17. Januar 2014. Er betonte, es sei angemessen, einen solchen Tag direkt vor der Woche des Gebetes um die Einheit der Christen zu halten, da „der große katholische Theologe Erich Przywara […] die erste Trennung im Christentum“ als jene „zwischen Synagoge und Kirche“ betrachtete. „Deshalb gehört die Versöhnung zwischen Christen und Juden mit zu den ökumenischen Bemühungen der katholischen Kirche“9.

Im Hinblick auf das Problem des Zueinanders von Altem und Neuem Bund, von Israel und Kirche, macht L.J. Narvaja in der Einführung zur italienischen Übersetzung Przywaras Idee Europa den Leser darauf aufmerksam, dass sich im Denken von Przywara die Überwindung des Substitutionsmodells, die als durch das II. Vatikanische Konzil bewirkter Paradigmenwechsel des jüdisch-christlichen Dialogs gefeiert wird, schon einige Jahrzehnte vor dem Konzil abzeichnet: „Tale orizzonte, da un lato, viene sviluppato più ampiamente dal Concilio per l`intenzione conciliare di trattare la relazione direttamente tra la Chiesa e il popolo ebraico”10. Przywara wird hier aber nicht nur als ein Vorläufer des Konzils gesehen, den die wenigen Sätze, die das Dokument Nostra Aetate dem Problem gewidmet haben, eingeholt und schließlich auch überholt haben. Seine Ansätze seien vom Konzil nicht gänzlich ausgeschöpft worden und in einigen Punkten sei er dem Konzil voraus – das scheint L.J. Narvaja zu meinen, wenn er schreibt:

„Dall’altro lato si può osservare come la riflessione di Przywara – malgrado non possieda una strumentazione esegetica affinata sul problema – è più avanti della iniziale riflessione della Nostra Aetate. Egli, affermando che la Chiesa è il luogo dello scambio e in virtù di questo incontro e scambio tra diversi è luogo dell`unità tra ebrei e gentili, mostra che il paradigma della sostituzione non è solo una questione esegetica o teoretica, ma è piuttosto un problema che ha conseguenze profonde sulle strutture del cristianesimo, dell`ecclesiologia e delle correlative teologie politiche“11.

Der letzte Satz ist insofern richtungsweisend, da hier eine Möglichkeit signalisiert wird, eine globale Sicht auf das Verhältnis Israel und Kirche, in dem das Jüdische als Gesamtphänomen gesehen wird, gewinnen zu können.

Die in der neueren Literatur erwähnten Ansätze wurden jedoch in der Theologie kaum rezipiert und nur spärlich erforscht. Auch wenn J. Ratzinger 1958 im Hinblick auf das Alterswerk von Przywara davon sprach, dass die Theorie von der analogen Einheit des Alten und Neuen Bundes von Przywara „meisterlich dargelegt“ wurde, so dass es „in der neueren katholischen Literatur […] zu diesem Thema kaum Ausführungen von gleichem Rang geben“12 dürfte, so fand dieses Werk doch ein eher verhaltenes Echo. Auch die uns interessierende Thematik wurde bis jetzt kaum beachtet. Lediglich in einigen Arbeiten über Przywara wurden Aspekte der Israel-Problematik vereinzelt beleuchtet.

Hier ist an erster Stelle die herausragende Arbeit von B. Gertz über Przywaras Analogie-Lehre zu nennen13. Der Autor untersucht den Denkweg, der Przywara von der Polarität über die analogia entis zur analogia fidei führt, und analysiert dann eingehend die letzte Kategorie als Prinzip seiner theologischen Methodik. Im Zuge seiner Analyse werden viele Aspekte des Zueinanders von Altem und Neuem Bund berücksichtigt. Dieses Zueinander an sich wird jedoch nicht eigens problematisiert. Auf jeden Fall bietet diese Arbeit einen sehr guten Ausgangspunkt für eine fokussierte Untersuchung des Verhältnisses zwischen den beiden Testamenten sowie dessen weiterer theologischer Konsequenzen in Przywaras Werk.

Die Grundsätze von Przywaras Schriftauslegung im Zeichen der analogia fidei zwischen Altem und Neuem Bund werden in A. Stocks Untersuchung der hermeneutischen Grundpositionen zur Einheit des Neuen Testamentes ansatzweise besprochen14. Stock würdigt die innovative Methode Przywaras, die dadurch heraussticht, dass sie die Einheit des Neuen Testaments nur im Zusammenhang der umfassenderen Einheit von Altem und Neuem Testament denken lässt.

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671 S. 3 Illustrationen
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9783429064075
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