Theologie des Neuen Testaments

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Das Judentum der Antike reflektiert sich selbst als eine religiös-ethnische Gruppierung, die immer wieder zur Selbstbehauptung gegenüber ihrer Umwelt herausgefordert ist. Diese Situation bringt auch innere Konkurrenzen, um die Frage hervor, wie sich das Judentum selbst versteht und in welchen Praktiken und Überzeugungen es am besten repräsentiert ist. Die variierenden und schillernden Selbst- und Fremdbezeichnungen wie Jude, Hebräer und Israelit spiegeln diese Situation ebenso wider, wie der Begriff Ioudaismos, der das aktive Eintreten für die Anliegen des Judentums bezeichnet.

2.3Gott

In der Antike ist die Vorstellung, dass Götter existieren und das Geschick der Menschen beeinflussen können, weit verbreitet. In Homers Ilias, dem eminenten Grundtext antiker Bildung, greifen die Götter unmittelbar in das weltliche Geschehen ein und beteiligen sich auf beiden Seiten an den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Trojanern und Griechen. Atheismus im Sinne der kognitiven Überzeugung, dass keine Götter existierten, ist außerordentlich selten und setzt im Grunde die spezifischen Bedingungen der europäischen Geistesentwicklung ab dem 16. Jh. voraus. Unter gr. a-theos (ἄθεος), „gottlos“, oder a-sebes (ἀσεβής), „unfromm“, versteht man in der Antike vielmehr jemanden, der sich der öffentlichen und gemeinschaftlichen kultischen Religionsausübung verweigert und deswegen als religiöser Frevler und zugleich als moralisch Asozialer gilt. Philo von Alexandrien erläutert das Wort atheos aus jüdischer Perspektive mit einem polemischen Akzent, indem er festhält, dass derjenige, der keine Götter verehrt, und derjenige, der viele Götter verehrt, in gleicher Weise in die Irre gehen (migr. Abr. 69). In den Psalmen ist der „Gottlose“ oder „Frevler“ ein Mensch, der die göttlichen Gebote missachtet und damit zum Ausdruck bringt, dass er keine Strafe durch Gott fürchtet. Ein solcher Mensch ist verloren, vergänglich, „wie Spreu, die der Wind verweht“ (Ps 1,4). Ihm gegenüber steht der „Fromme“ (gr. hosios; ὅσιος, z. B. Ps 4,4), der in seiner Verehrung Gottes auch die Befolgung des göttlichen Gesetzes miteinbezieht und somit auch ein „Gerechter“ (gr. dikaios; δίκαιος, z. B. Ps 1,6) ist. Diese Verschränkung des Gerechten mit dem Frommen, die die griechische Übersetzung der Bibel, die Septuaginta (lat. für siebzig), vertritt, entspricht dem griechisch-hellenistischen Tugendideal, nach dem der Mensch „fromm“ gegenüber Gott und den Göttern sein soll und zugleich „gerecht“ gegenüber seinen Mitmenschen. Bereits Platon (428–348 v. Chr.) spricht vom Ideal einer „frommen und gerechten“ Lebensführung.7

Das antike Judentum folgt diesen allgemeinen religiösen und moralischen Überzeugungen, zeichnet sich nun aber dadurch aus, dass es explizit monolatrisch und monotheistisch ausgerichtet ist. Seit der Zeit des Exils hat sich der Gedanke durchgesetzt, dass der Gott Israels nicht einer von vielen, sondern der eine und einzige Schöpfer und damit der eine und der einzige wahrhaft existierende Gott ist. Die Ablehnung der Verehrung anderer Götter verschärft sich zu einer grundsätzlichen Kritik dieser Götter als Götzen. Sie gelten als nichtig und die Nähe zu ihnen als Bruch des Gesetzes der Juden, d. h. ihrer väterlichen Überlieferungen. Die Schärfe, mit der andere Götter abgelehnt werden, ist innerhalb des Judentums unterschiedlich ausgeprägt.

Flavius Josephus etwa legt den Dekalog für seine am Judentum interessierten griechischen Leser (Ant. 1,5) so aus, dass den Juden die Verehrung anderer Götter und die Verehrung von Bildnissen zwar untersagt sei, die Kulte anderer Völker aber nicht per se abzulehnen seien (Ant. 3,91). Auch Philo folgt dieser Linie, die dem nichtjüdischen Verständnis der Götter entgegenkommt, indem er bestimmte Ansichten positiv würdigt. Er unterscheidet zwischen den Nichtjuden, die einen Gott als den höchsten anerkennen, und solchen, die entweder viele Götter verehren oder gar Götterbildnisse tatsächlich für Götter halten. Schließlich nennt er als unterste und besonders verachtenswerte Stufe diejenigen, die Lebewesen, d. h. Tiere, als Götter verehren. Er öffnet sich zudem der hellenistischen Weltsicht dadurch, dass er die Verehrung eines einzigen Gottes als des höchsten und die Ablehnung der Vielgötterei als Folge vernünftiger Einsicht versteht, die auch Nichtjuden zugänglich sei (Philo Decal. 65).

Neben diesen eher versöhnlich-apologetischen Aussagen, die auf eine allzu scharfe Kritik nichtjüdischer Kulte verzichten und sich der Argumente antiker Religionsphilosophie bedienen, gibt es auch eine Traditionslinie im Judentum, die eine deutlich aggressivere Position vertritt. Von Deuterojesaja über die Weisheit Salomos bis zur Apokalypse Abrahams und zu Paulus wird das Bekenntnis zum Monotheismus mit der Abwertung der anderen Götter als Götzen und sogar mit der Strafforderung gegen Nichtjuden verbunden. In Jes 44, dem Grundlagentext für den Spott über heidnische Religionspraktiken, wird der Irrsinn derjenigen, die sich aus Holz Götter machen, dargestellt. Die Weisheit Salomos, die mit einiger Wahrscheinlichkeit in das 1. Jh. v. Chr. zu datieren ist, steigert diesen Spott noch durch feinsinnige Ergänzungen, etwa indem das Holz, aus dem die Götter gefertigt werden, nun als Abfallholz bezeichnet wird. Die im 1. Jh. n. Chr. entstandene Apokalypse Abrahams greift das Motiv der Abwendung Abrahams von seinem heidnischen Vater auf, der noch dazu als Götzenbildner dargestellt wird. Abraham verlässt das Vaterhaus, das in diesem Moment vor seinen Augen von Gott vernichtet wird (ApcAbr 8,5).

Jes 44,14 f.17 (Übers. Westermann): Er geht hinaus, sich Zedern zu fällen, nimmt eine Steineiche oder eine Eiche, er wählt sich unter den Bäumen des Waldes. Er pflanzt eine Fichte, der Regen lässt sie wachsen, (15) dass sie den Leuten zum Feuer diene, und er nimmt davon und wärmt sich. Teils zündet er’s an und backt Brot, teils macht er einen Gott und fällt nieder und bückt sich davor. […] (17) Und den Rest davon macht er zum Gott, zu seinen Götzen und kniet davor, wirft sich nieder und betet zu ihm, sagt: Rette mich, denn du bist mein Gott!

Weish 13,13 f.18 (Übers. Georgi): Ein Stück Abfall, das dann zu gar nichts mehr nütze ist, ein knorriges Holz mit Astlöchern durchsetzt, das nimmt er und schnitzt es in der Muße seiner Freizeit, formt daran während des Feierabends und gleicht es dem menschlichen Bilde an (14) oder er macht es einem armseligen Tier ähnlich […] (18) Um Leben bittet er das tote Ding.

Auch der Apostel Paulus steht in dieser Tradition der scharfen Kritik an der heidnischen Götterverehrung. Diejenigen, die statt Gott selbstgemachte Götzen verehren, sind ihmzufolge zum Tode verurteilt:

Röm 1,20.22 f.32: Das unsichtbare Wesen (Gottes) […] ist ja seit der Erschaffung der Welt, wenn man es in seinen Werken betrachtet, deutlich zu ersehen, damit sie (die Menschen) keine Entschuldigung haben. […] (22) Während sie vorgaben, weise zu sein, wurden sie zu Toren (23) und vertauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit der Gestalt des Abbildes von vergänglichen Menschen und Vögeln und vierfüßigen und kriechenden Tieren. (24) Darum hat Gott sie dahingegeben. […]. (32) Sie kennen den Richtspruch Gottes, dass nämlich diejenigen, die derartiges tun, des Todes würdig sind.

Der Gott Israels ist demnach mit exkludierenden Eigenschaften ausgestattet, die als „Eifer“ (gr. zelos; ζῆλος; hebr. qinah; קנאה) dieses Gottes und als Eifer der Seinen für diesen Gott und sein Gesetz bezeichnet werden. Die jeweiligen Ausprägungen des „Eifers“ können sehr unterschiedliche Formen annehmen. Zunächst richtet sich der Eifer nach innen gegen Juden, denen der Abfall von den väterlichen Gesetzen vorgeworfen wird, dann gegen Nichtjuden, die Juden zum Abfall verleiten oder die im Land Israel Götzendienst betreiben, und schließlich gegen alle nichtjüdischen Symbole wie z. B. Legionszeichen der Römer, wenn sie in die heilige Stadt Jerusalem, womöglich gar während eines Festtages, gebracht werden sollen.8

Die Exklusivität der Beziehung zwischen Israel und seinem Gott gilt als Gabe und Verpflichtung, als Bund (gr. diatheke; διαθήκη). Der Bund beruht auf der Entscheidung Gottes, Israel als sein Volk zu erwählen. Bund und Erwählung bilden die Klammer, aus der die Verpflichtung zur Einhaltung des Gesetzes Gottes erwächst. Sie gelten als Gabe eines Gottes, der seinem Volk Israel gegenüber gerecht und barmherzig ist. Die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk vollzieht sich in dieser Spannung: Der gerechte Gott, der durch sein Schöpferhandeln und durch die Erwählung dieses Volkes einen berechtigten Anspruch auf Gehorsam hat, verfolgt die Verfehlungen gegen seinen Rechtsanspruch mit als gerecht angesehener Strafe. Wenn die Verfehlungen allerdings ein solches Ausmaß annehmen, dass die Vernichtung seines Volkes die gerechte Folge wäre, tritt die Barmherzigkeit im Sinne der Strafverschonung an die Stelle der Gerechtigkeit. Israel bekennt sich daher zu seinem Gott und zu dessen Willen zur Strafverschonung, indem es in Ex 34,6; Ps 145,8 u. ö. auf seine herausragenden Eigenschaften verweist.9 Die sogenannte „Gnadenformel“ fasst diese Eigenschaften Gottes im Sinne einer „Wesensdefinition“ zusammen10: Gott ist barmherzig (hebr. rachum; רחום – gr. oiktirmon; οἰκτίρμων), liebevoll (hebr. chanun; חנון – gr. eleemon; ἐλεήμων), langsam im Zorn (hebr. äräch aphim; ארך אפים, – gr. makrothymos; μακρόθυμος), voll Gnade (hebr. rav chäsäd; רב-חסד – gr. polyeleos; πολυέλεος) und treu bzw. wahrhaftig (hebr. ämät; אמת – gr. alethinos; ἀληθινός).11 Dieser barmherzige Gott wird sein Volk um seiner Zusagen willen verschonen, vor seinen Feinden retten, aus Unheil und Unglück erlösen und von Fremdherrschaft befreien.

Dieser Gott, der sich durch diese Eigenschaften an sein Volk Israel gebunden weiß, hat einen Namen: das Tetragramm JHWH. Dieser Name ist heilig und darf nicht entheiligt (Lev 19,12; 20,7) oder gar gelästert (Lev 24,16) werden. Dieser Schutz des Gottesnamens wird ab dem 3. Jh. v. Chr. auf die Aussprache ausgeweitet. Bei der Übersetzung der hebräischen Schriften der Bibel ins Griechische wird Lev 24,16, das Verbot der Lästerung, so interpretiert, dass schon die Aussprache verboten und mit dem Tod bestraft werden soll. Die ältesten Handschriften der Septuaginta lassen für den Gottesnamen eine Lücke, um dort in hebräischen Schriftzeichen das Tetragramm einzutragen. Auch zahlreiche Qumranhandschriften heben den Gottesnamen hervor, indem sie im hebräischen Text von der assyrischen Quadratschrift zu paläohebräischen Schriftzeichen wechseln, wenn das Tetragramm zu schreiben ist (z. B. 11QPsa). Im Neuen Testament gilt das artikellose „Herr“ (gr. kyrios; κύριος) als Gottesname im Unterschied zu „Herr“ als Anrede eines Höhergestellten, wobei aber im Einzelfall die Besonderheiten des Artikelgebrauchs bei Eigennamen im Griechischen zu berücksichtigen sind. Dieser Gott Israels ist der eine und einzige, der Schöpfer und Erhalter der Welt, er gibt Leben und Nahrung, und er steht zu seinem Volk in einer unvergleichlichen Beziehung, die durch Erwählung, Bund und Tora geprägt ist.

 

Das Gottesverständnis des antiken Judentums ist durch eine spannungsvolle Diskursivität geprägt. Gott tritt zu seiner Schöpfung und zu seinem Volk Israel durch Bundesschluss und Erwählung in Beziehung. Daraus leitet er seinen Rechtsanspruch auf Anerkennung ab. Gleichzeitig ist er aber auch durch seine Fürsorge für die Schöpfung und seine Barmherzigkeit gegenüber seinem Volk gekennzeichnet. Im Mittelpunkt stehen die Eigenschaften Gottes, wie sie in der Gnadenformel als Wesensdefinition Gottes zusammengefasst sind: Gott ist barmherzig, liebevoll, langsam im Zorn, voll Gnade, treu und wahrhaftig.

2.4Schrift

Das antike Judentum hat ein umfangreiches Schrifttum hervorgebracht, das sich zudem in einer eindrücklichen inneren Vielfalt präsentiert. Auf Hebräisch und Aramäisch, aber auch auf Griechisch, der damaligen Weltsprache, thematisieren Autorinnen und Autoren ihre Weltsicht, ihr Gottesverständnis und ihr Selbstverständnis als Teil einer religiös-ethnischen Gemeinschaft. Im Mittelpunkt stehen die „heiligen Bücher“ (gr. hieroi grammatoi; ἱεροὶ γράμματοι) des Judentums, die heute aus christlicher Perspektive als Bücher des Alten Testaments bezeichnet werden. Es ist nicht ganz klar, zu welchem Zeitpunkt die Schriftensammlung der heiligen Bücher des Judentums als abgeschlossen galt. Es lassen sich aber einige Stufen des Kanonisierungsprozesses nennen. Der erste deutliche Hinweis auf eine Abgrenzung einer definierten Schriftengruppe aus der Gesamtheit des jüdischen Schrifttums findet sich bei Jesus Sirach. Der Übersetzer des um 180 v. Chr. hebräisch abgefassten Werkes stellt diesem ein Vorwort, einen Prolog, voran. Darin erläutert er, dass der Verfasser des Werkes, sein Großvater, das „Gesetz, die Propheten und andere väterliche Schriften“ studiert habe (Sir Prol. 24 f.). Jesus Sirach ist demnach der älteste Beleg für die Dreiteiligkeit des Kanons heiliger Schriften im antiken Judentum.12 Der Autor selbst blickt also auf eine Schriftensammlung zurück, die zwar schon recht konsolidiert wirkt, aber auch noch offen für Ergänzungen ist.

Genauere Informationen über die einzelnen Bücher, die diesem dreiteiligen Schriftenkorpus zugehörig sind, erhalten wir erst später. Während im Neuen Testament meist nur von „Gesetz und Propheten“ (z. B. Mt 7,12; Röm 3,21) die Rede ist, wenn die Gesamtheit der heiligen Schriften bezeichnet werden soll, wird im Lukasevangelium an einer Stelle auch die Dreiteilung der Bibel zum Ausdruck gebracht, wobei der dritte Teil, die Schriften, pars pro toto mit „Psalmen“ bezeichnet wird. In Lk 24,27 findet sich zunächst der klassische zweiteilige Ausdruck, allerdings mit der für Lukas typischen Betonung der Gesamtheit der Propheten durch das Adjektiv „alle“. Einige Verse später wird dann aber die Gesamtheit der heiligen Schriften des Judentums in der dreiteiligen Form zum Ausdruck gebracht:

Lk 24,27: Und er begann, angefangen von Moses und von allen Propheten, ihnen zu erklären, was in allen Schriften über ihn (zu finden ist).

Lk 24,44: […] es muss alles das erfüllt werden, was über mich geschrieben ist im Gesetz des Moses und bei den Propheten und in den Psalmen.

Die Gesamtzahl der biblischen Bücher wird zum ersten Mal von Josephus in seiner Schrift Contra Apionem, etwa in den ersten Jahren nach 100 n. Chr., festgehalten. Er spricht von 22 Schriften und untergliedert diese in die fünf Bücher Moses, dreizehn prophetische Bücher und vier Schriften (Jos. Ap. 1,38 f.). Die Bücher Moses und die Propheten gelten ihm als historische Berichte, die Schriften dienen seiner Meinung nach vor allem zu Gottesverehrung und Lehre. Etwa zeitgleich nennt das apokryphe und auf Lateinisch überlieferte vierte Buch Esra 24 Bücher, die von allen zu lesen sind, im Unterschied zu nicht näher bezeichneten 70 geheimen Schriften, die nur die Weisen einsehen dürfen (4Esr 14,45 f.). Es zeigt sich, dass im ersten nachchristlichen Jahrhundert der Kanon zwar noch nicht abgeschlossen war, aber doch als dreiteilige Sammlung der heiligen Bücher des Judentums aus Gesetz, Propheten und Schriften eine recht feste Gestalt angenommen hatte.

Die Mischna (um 200 n. Chr.) überliefert eine Diskussion über die Heiligkeit dieser Schriften. Da die Berührung der heiligen Schriften die Hände verunreinige, ist mit der Zuweisung einer Schrift zum Kanon der heiligen Schriften auch eine bestimme rituelle Praxis, die Fragen der Reinheitstora zu beachten hat, verbunden. Im nachfolgend abgedruckten Abschnitt des Mischna-Traktats Jadajim („Hände“) wird demnach diskutiert, ob die Bücher Hoheslied und Kohelet die Hände verunreinigen, d. h. ob sie als heilige Schrift zu betrachten seien:

mJad 3,5 (Übers. Lisowsky): Alle heiligen Schriften machen die Hände unrein, auch das Hohelied und Kohelet machen die Hände unrein. R. Jehuda sagt, das Hohelied mache die Hände unrein, über Kohelet dagegen (bestehe) ein Streit. R. Jose sagt, Kohelet mache die Hände nicht unrein, und über das Hohelied (bestehe) ein Streit. R. Schim‘on sagt, Kohelet (gehöre) zu den Erleichterungen der Schule Schammais und zu den Erschwerungen der Schule Hillels. R. Schim‘on ben Azzai sprach: Mir wurde als Ausspruch der zweiundsiebzig Alten am Tage, da sie R. El‘asza ben Azarja (zum Vorsteher) einsetzten, überliefert, daß sowohl das Hohelied wie auch Kohelet die Hände unrein machten. R. Akiba sprach: Nein, behüte! Kein Mensch in Israel streitet dem Hohelied ab, daß es die Hände unrein mache; denn nie war die ganze Welt würdiger als der Tag, da das Hohelied Israel gegeben wurde, denn sind alle Schriften heilig, so ist das Hohelied hochheilig; besteht aber ein Streit, so geht er lediglich um Kohelet. Da sagte Johanan ben Schammua, der Sohn des Schwiegervaters R. Akibas: (Es ist,) wie Ben Azzai gesagt hat. So stritten sie und so entschieden sie.

Im Babylonischen Talmud (Endredaktion 6. Jh. n. Chr.) finden sich abschließende Aussagen zum Umfang des Kanons und der Reihenfolge der Bücher der Hebräischen Bibel.

bBB 14b (Übers. Goldschmidt): Die Rabban lehrten: Die Reihenfolge der Propheten (hebr. nebiim) ist folgende: Jehosua, Richter, Semuel, Könige, Jirmeja, Jehezqel, Jesaja und die zwölf. […] Die Reihenfolge der Hagiographen (hebr. ketubim) ist folgende: Ruth, Psalmen, Ijob, Sprüche, Qohelet, Lied der Lieder, Klagelieder, Daniel, die Esterrolle, Ezra und die Chronik.

Die Sonderstellung der heiligen Schriften drückt sich nicht zuletzt darin aus, dass sie in ihrem Wortlaut als so wertvoll erachtet werden, dass sie nicht durch neue Bücher ersetzt, sondern kommentiert und ausgelegt werden. Die ältesten überlieferten Schriftauslegungen, etwa durch Philo, befassen sich nur mit den fünf Büchern Mose, der Tora, und unterstreichen damit deren hervorgehobene Stellung unter den heiligen Büchern. Diese enthalten nach allgemeiner Auffassung die grundlegenden Gesetze, ja wie Josephus immer wieder hervorhebt, die Verfassung (gr. politeia; πολιτεία) des jüdischen Volkes (Jos. Ant. 4,196–301). Daneben werden insbesondere die prophetischen Bücher und die Psalmen einer intensiveren Interpretation unterzogen. Deren Rezeption war noch nicht einer festen Auslegungstradition unterworfen, sodass sich hier mehr Möglichkeiten für abweichende Auffassungen boten. In den Qumrantexten finden sich die ersten Pescharim, d. h. Auslegungen:

4QFlor I 14 (Übers. Lohse): Eine Auslegung (hebr. midrasch) von: Wohl dem Manne, der nicht wandelt im Rat der Gottlosen (Ps. 1,1). Die Deutung (hebr. pescher) des Wortes bezieht sich auf diejenigen, die abgewichen sind vom Wege […]

Die Pescharim legen den geschriebenen Text zugrunde. Sie nennen Einzelverse der „Schrift“ und legen sie mit dem einleitenden Hinweis „die Deutung dieses Wortes“ (hebr. pescher hadabar ascher) aus (z. B. 4QpJesb bzw. 4Q162 I,2). In den Pescharim aus Qumran werden die Schriftworte dann auf die Gegenwart der religiösen Gemeinschaft bezogen.

Eine weitere Möglichkeit abweichenden Meinungen Nachdruck zu verleihen, bestand darin, neue bzw. weitere Schriften mit autoritativem Anspruch zu verfassen. Die Henochliteratur, das Jubiläenbuch und viele andere Schriften verstehen sich nicht nur als Ergänzung der heiligen Schriften, sondern als Korrektur, Erweiterung, Erneuerung, oder sogar als Neuschreibung der grundlegenden Schriften („Rewritten Bible“). Der Eingangsteil des Jubiläenbuches macht deutlich, mit welchem hohen Anspruch diese Schrift neben die Tora tritt: Das Jubiläenbuch stellt sich als umittelbar niedergeschriebene Rede Gottes dar:

Jub 1,5 (Übers. Berger): Und er sagte zu ihm: „Richte dein Herz auf jede Rede, die ich zu dir reden werde auf diesem Berg, und schreibe sie in ein Buch, damit ihre Nachkommen sehen, dass ich sie nicht verlassen habe wegen allem Bösen, das sie getan haben, indem sie ihre Ordnung auflösten, die ich heute verordnet habe zwischen mir und dir für ihre Geschlechter auf dem Berge Sinai.“

Daneben ist schließlich auch noch zu erwähnen, dass biblische Gattungen weitergeführt wurden. In 11QPsa XXVII, 4 f. (David-Komposition) wird erwähnt, dass David 3600 Psalmen (hebr. tehilim, תהלים) und 450 Lieder (hebr. sir, שיר) für den Tempeldienst geschrieben habe.13 Diese sind nicht mehr erhalten, aber die Qumranhandschriften belegen immerhin 200 Psalmen über die dort ebenfalls belegten 150 kanonischen Psalmen hinaus.14 Schließlich nehmen die Midraschim eine Mittelstellung zwischen Neuschreibung und Kommentierung ein, indem sie auf der Basis biblischer Texte durch Erweiterungen, Ergänzungen und Ausschmückungen besonders die narrative Gestalt der Vorlage umgestalten.15

Die Vielfalt des Schriftgebrauchs im antiken Judentum reicht demnach von der Sphäre des Rechts, der Politik bis zum Kult. Zudem wurden die heiligen Bücher ausgelegt und für Sondermeinungen in Anspruch genommen sowie durch weitere Literatur ergänzt. Schließlich galten die heiligen Schriften auch als autoritative historische Berichte von der Geschichte des jüdischen Volkes.

Die unbestrittene Mitte der heiligen Schriften des antiken Judentums sind die fünf Bücher Mose, der Pentateuch, die zusammenfassend als Tora oder Gesetz bezeichnet werden. Daneben stehen die prophetischen Bücher, deren Anzahl ebenfalls als weitgehend abgeschlossen gilt. Die Schriften als dritter Teil der jüdischen Bibel haben geringere Geltung und auch ihr Umfang ist noch umstritten. Neben diesem Kernbereich der Überlieferung existiert eine lebendige Produktion von religiösen Schriften, Fortschreibungen biblischer Texte und Gattungen („Rewritten Bible“) und zunehmend auch Auslegungen, die die Auseinandersetzung um die heiligen Schriften und deren Aussagen lebendig erhalten.

2.5Geschichte

Geschichte kann verstanden werden als eine Abfolge von vergangenen Ereignissen in Raum und Zeit, die durch das Subjekt des Geschehens, den Raum, in dem es sich vollzieht, und durch andere Kausalitäten einen Zusammenhang bilden. Geschichtsschreibung besteht nur darin, diesen Zusammenhang zu erfassen und ihm eine narrative Gestalt zu geben. Sie beruht demnach einerseits auf den Informationen über diese Ereignisse und andererseits auf der Art ihrer Darstellung, über die die Geschichtsschreiber entscheiden. Diese bringen als Einzelpersonen oder Repräsentanten von Gruppen in der Geschichtsschreibung auch ihr gegenwärtiges Selbstverständnis zum Ausdruck. Es geht im Folgenden demnach um das Geschichtsverständnis des antiken Judentums und um die Konstruktion der Geschichte des jüdischen Volkes als Teil seines Selbstverständnisses und nicht um eine kritische Rekonstruktion der tatsächlichen Ereignisse.

 

Die Vertreter des antiken Judentums waren stolz auf die geschichtlichen Überlieferungen des Judentums. Sie waren der Ansicht, dass ihnen im Pentateuch und in den prophetischen Schriften eine vernünftige und glaubwürdige Geschichte ihres Volkes überliefert sei, ja dass diese Bücher, die mit der Erschaffung der Welt beginnen, auch eine Geschichte allen Seins enthielten. So hebt Josephus die Zuverlässigkeit und Klarheit der heiligen Bücher des Judentums hervor:

Jos. Ap. 1,38 f.: […] nicht Tausende von unstimmigen und einander widerstreitenden Büchern existieren bei uns, sondern 22 Bücher enthalten die Niederschrift der gesamten Zeit, die auch zu Recht anerkannt sind. Von diesen sind fünf die des Moses, sie enthalten die Gesetze und die Überlieferung von der Menschenerschaffung bis zum Tod des Gesetzgebers Moses.

Immer wieder wird von jüdischen Autoren der Antike behauptet, dass die heiligen Schriften des Judentums auch die hervorragenden Vertreter des Griechentums beeinflusst hätten. Für Philo gilt es als sicher, dass Platon für seine Schrift Timäus, in der die Entstehung der Welt erörtert wird, „Moses“, genauer das Buch Genesis genutzt, habe.16 Er deutet zudem den Namen des Volkes Israel mit „das Volk derjenigen, die Gott sehen“ und schließt daraus, dass die Griechen zwar einen wahren Philosophen (Sokrates bzw. Platon) hätten, Israel aber ein Volk von Philosophen sei.17 Die heiligen Schriften des Judentums sind nach Philo allen anderen philosophisch überlegen und auch in ihren historischen Inhalten zuverlässiger. Die fünf Bücher Mose und die Bücher der vorderen Propheten (Josua, Richter, Samuel und Könige; Luther: „Geschichtsbücher“) lassen sich wie eine Geschichtserzählung lesen. Sie berichten eine in sich geschlossene Folge von Ereignissen, die zunächst von der Schöpfung über Sintflut, Völkergeschichte bis zu den Erzeltern reicht, um dann, ausgehend von den zwölf Söhnen Jakobs, die Geschichte Israels von der Gefangenschaft in Ägypten bis zum babylonischen Exil und dessen Ende durch das Kyrosedikt zu erzählen.

Freedman hat für diesen Erzählzusammenhang, dieses Narrativ, den Begriff der „primary history“, d. h. der erstanfänglichen und grundlegenden Geschichtserzählung, geprägt.18 Sie ist die identitätsbildende Fassung der Geschichte Israels, die im antiken Judentum als grundlegendes Geschichtsbild vertraut war. Diese Geschichte trägt in sich ein Deutungsprinzip, das nach Josephus auf folgendem Gedanken beruht: Die heiligen Schriften enthalten „tausende Dinge“, vor allem aber mahnen sie, dass Gott das Befolgen des Gesetzes belohne und Übertretungen des Gesetzes bestrafe (Ant. 1,13 f.). Josephus folgt in seinem Werk über die „Jüdischen Altertümer“ (Antiquitates Judaicae) dieser biblischen Grunderzählung, gibt ihr aber für die von ihm intendierte Leserschaft und die von ihm angestrebten Zwecke eine eigene Prägung. Sterling denkt besonders an Josephus, wenn er die Geschichtsschreibung des antiken Judentums näher charakterisiert. Es seien zwei besondere Momente, die die jüdische von der römischen und griechischen Geschichtsschreibung unterscheide:

„Erstens, sie (die jüdische Geschichtsschreiber; LB) schrieben die Geschichte eines Volkes. Das gemeinsame Element war, dass das jüdische Volk der grundlegende Gegenstand ihrer Erzählungen war. […] Zweitens, sie waren überzeugt, dass Gott die Geschichte des jüdischen Volkes bestimmt.“19

Die Geschichte Israels ist demnach einem Grundprinzip unterworfen, nach dem Gott die Geschichte seines Volkes bestimmt. Freedman stellt nun noch heraus, dass das sinnbildende Zentrum dieser Geschichtserzählung die Sinaiereignisse darstellten, die die Begegnung zwischen Gott und seinem Volk, den Bundesschluss und die Verpflichtung des Volkes auf den Bund umfassten. Am Sinai werde das Deutungsprinzip der Geschichte Israels verankert, nach dem das Wohlergehen des Volkes von seinem Gehorsam gegenüber den am Sinai eingegangen Verpflichtungen bestimmt sei:

„Das übergeordnete Thema (der biblischen Geschichtserzählung; LB) ist, dass genau wie Israel von Gott geschaffen wurde, es auch von ihm zerstört werden könnte und tatsächlich auch zerstört wurde (durch die Eroberung Jerusalems im Jahr 587 v. Chr.; LB). […] Die kontinuierliche Existenz der Nation, noch mehr aber sein Erfolg, seine Sicherheit und sein Wohlstand, würden von seinem Verhalten abhängen. Insbesondere hinge dies von der Einhaltung eines Verhaltenskodex ab […]. Diese Regeln und Vorschriften seien wiederum im Dekalog oder den Zehn Geboten zusammengefasst, die jeder Israelit kennen müsste.“20

Das geschichtstheologische Grundprinzip der uranfänglichen Geschichte Israels ist damit deutlich herausgestellt: Es ist eine Geschichte des Volkes im Gegenüber zu seinem Gott. Die Hervorhebung des Dekalogs durch Freedman hingegen überzeugt nicht, da der Dekalog zwar als wichtige Orientierung gelten kann, aber eben doch nur eine recht reduzierte Zusammenstellung von Überzeugungen und Verhaltensweisen ist. Der Dekalog erwähnt z. B. weder Kult noch Opfer, weder Beschneidung noch Speisegebote. Freedman stellt etwas einseitig den Monotheismus und die ethische Orientierung in den Mittelpunkt.

Eine andere Interpretation des Geschichtsverständnisses Israels hat Neusner auf der Basis der rabbinischen Texte vorgeschlagen. Er bezeichnet die Erstgeschichte Israels in Anknüpfung an und in Differenz zu Freedman als „standard history“, die das rabbinische Judentum als „paradigmatisch“ verstehe. Was meint Neusner damit? Für die Rabbinen gelte: „Israel lebt in Beziehung zu einem dauerhaften Paradigma, das weder Vergangenheit noch Gegenwart oder Zukunft kennt.“21 Israel definiere sich über bestimmte Handlungen, die in Übereinstimmung mit einem zeitlosen Paradigma beurteilt würden. Nicht die geschichtlichen Ereignisse als solche seien relevant, sondern deren Beziehung zu dem einen Kriterium, das zählt, nämlich die Tora.

Es stehen sich demnach zwei idealtypische Zugangsweisen zur Geschichte Israels gegenüber. Die eine versteht die Geschichtserzählungen als eine Abfolge dramatischer und teilweise tragischer Ereignisse in der Spannung zwischen Gehorsamsforderung und Übertretung, zwischen Fürsorge und Strafe. In der geschichtlichen Beziehung zwischen Gott und seinem Volk Israel wiederholt sich ein Drama, das nach Erlösung drängt. Dieses Verständnis einer dramatisch-tragischen Geschichte bringt folgerichtig Figuren hervor, die diese Tragik beenden, etwa die Idealgestalt eines Königs wie David, die dann als Messias die Erwartungen nach ewigem Heil für Israel befriedigt. Dieses Narrativ scheint in der biblischen Geschichtserzählung angelegt zu sein und bildet die Basis für eine Interpretation, die für die christliche Theologie wichtig geworden ist: Die tragische Beziehung des biblischen Gottes zu seinem Volk bedarf der Erlösung.

Demgegenüber hebt Neusner darauf ab, dass es in der rabbinischen Tradition nicht diese innere tragische Gestalt sei, die die Kontinuität der biblischen Geschichtserzählung ausmache. Es gebe vielmehr ein Kriterium außerhalb der geschichtlichen Erzählung, die jedes Ereignis der zeitlosen Frage unterwerfe, in welcher Beziehung es zu den Geboten der Tora stehe. Israel als das Volk der Tora und die Tora als die zeitlose ewige Weisung Gottes werden so zu einer Mitte, die durch die historischen Ereignisse nicht wirklich berührt würden.