Dr Crime und die Meister der bösen Träume

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Dr Crime und die Meister der bösen Träume
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… und wenn er in das Delirium geriet, das dem Schlafe vorherzugehen pflegt, so hatte er wieder das kleine holde Wesen in seinen Armen und fühlte heiße glühende Küsse auf seinen Lippen.

E. T. A. Hoffmann, Meister Floh, 1822

„Cnypher! Cnyper!“

Rooter, Hax’n’Sex Trax, 1999

Lucas Bahl

Dr Crıme und die Meister

der bösen Träume


Edition Roter Drache

DER AUTOR


Lucas Bahl (d.i. Achim Schnurrer), geb. 1951 in Bergisch-Gladbach; seit 1979 Schriftsteller, Journalist u. Ausstellungsmacher.

1984–1998 Initiator und Mitorganisator des Internationalen Comic-Salons Erlangen. 1985–2000 Chefredakteur, später auch Herausgeber und Verleger von U-COMIX und SCHWERMETALL, Alpha Comic Verlag / Edition Kunst der Comics. Autor von zahlreichen Krimis, Science Fiction, Historische Romane und Phantastik; unter andren "Abseits!" (Thriller), "Spielzeugstadt" (Krimi), "Das Amulett der Keltenfürstin" (Historischer Roman).

Mehr Infos zum Autor auf www.luc-bahl.de

1. Auflage September 2017

Copyright © 2017 by Edition Roter Drache.

Edtion Roter Drache, Holger Kliemannel, Haufeld 1, 07407 Remda-Teichel

edition@roterdrache.org; www.roterdrache.org

Umschlaggestaltung: Milan Retzlaff, www.man-at-media.de

Buchgestaltung: Sarah Bräunlich

Lektorat: Isa Theobald

Gesamtherstellung: MCP, Polen

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2018

Alle Rechte vorbehalten.

Kein Teil dieses Buches darf in irgendeiner Form (auch auszugsweise) ohne die schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert, vervielfältigt oder verbreitet werden.

ISBN 978-3-964260-16-1

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Prolog

Folge 1: Was bisher geschah

Folge 2: Was bisher geschah

Folge 3: Was bisher geschah

Folge 4: Was bisher geschah

Folge 5: Was bisher geschah

Folge 6: Was bisher geschah

Folge 7: Was bisher geschah

Folge 8: Was bisher geschah

Folge 9: Was bisher geschah

Folge 10: Was bisher geschah

Folge 11: Was bisher geschah

Folge 12: Was bisher geschah

Folge 13: Was bisher geschah

Folge 14: Was bisher geschah

Folge 15: Was bisher geschah

Folge 16: Was bisher geschah

Folge 17: Was bisher geschah

Folge 18: Was bisher geschah

Folge 19: Was bisher geschah

Folge 20: Was bisher geschah

Folge 21: Was bisher geschah

Folge 22: Was bisher geschah

Folge 23: Was bisher geschah

PROLOG

Die unbekannten Beobachterinnen (DUB):

In diesem Text ist alles geklaut.

Worte, Ideen, sogar die Satzzeichen.

Wer glaubt, Ansprüche geltend machen zu können, erhält die Möglichkeit, sein Eigentum gegen Zahlung eines angemessenen Lösegelds zurückzubekommen.

„Die rotglühenden Strahlen der aufgehenden Sonne berühren die Datenhalde.“

„Das ist kompletter Mist, meine Liebe.“

„Ich wollte doch nur etwas zu eurer ästhetischen Schulung beitragen.“

„Wenn du mich fragst, dann bevorzuge ich für meine Geschmacksbildung lieber noch ein Stück dieser vorzüglichen Eierlikör-Torte. Herr Ober! Kommen Sie mal her.“

FOLGE 1
WAS BISHER GESCHAH

Licht fällt auf die Datenhalde.

Ich bin Dr Crıme.

Grinsen Sie ruhig wegen des albernen Namens. Ihnen wird das Lachen schon noch im Hals stecken bleiben.

Damit ist normalerweise meine Begrüßungsformel beendet. Heute jedoch bin ich gezwungen, hinzuzufügen, dass selbst einem abgrundtief abgebrühten Charakter wie dem meinen angesichts der Geschichte, die ich Ihnen zu erzählen habe, das Lachen in der Kehle zu einem Katarakt klirrender Eiszapfen gefroren ist.

Falls Sie sich das absurde Bild meines Halsinneren tatsächlich vorstellen wollen, dann kommt dem ein Kameraschwenk durch eine arktische Gletscherhöhle ziemlich nahe. Auf das, was an verrottenden Fleischfetzen und erstarrten Blutlachen zwischen den Stalagmiten und Stalaktiten zu sehen ist, gehe ich nicht näher ein. Das zweite Buch von Rabelais verrät mehr.

Damit gestehe ich zweierlei: Erstens, ich liebe solche vertrackten literarischen Irrwege. Zweitens, dummerweise teile ich diese Leidenschaft – auch wenn es da nur eine kleine Schnittmenge gibt – mit dem verachtenswerten Leon Walter.

Was also Rabelais anbelangt, verweise ich auf das 32. Kapitel, das in Pantagruels Mund spielt.

Und da wir gerade beim Spielen sind, sei der Hinweis erlaubt, dass ich selbst in den zu schildernden Ereignissen nur eine beschämend-bescheidene Nebenrolle gebe. Der so genannte Held, dem die Hauptrolle gänzlich unverdient in den Schoß fiel, ist besagter Leon Walter. Mir gelang es, seine vollständigen Aufzeichnungen auf eine Weise an mich zu bringen, die ich vorerst nicht näher erläutern will. Und ob ich mich im weiteren Verlauf meiner Schilderung dazu entschließen werde, auf diesen Punkt ausführlicher zu sprechen zu kommen, behalte ich mir vor. In dieser Erzählung werden die Details zu meiner Arbeit nicht das einzige unmöglich zu entschlüsselnde Geheimnis bleiben. Falls Sie Lektüren gewohnt sind, die eine vollständige Aufklärung aller in ihr behandelten Fragen und Sachverhalte bietet, muss ich Sie enttäuschen. Seien Sie stark! Das Leben funktioniert ohnehin meistens ganz anders. Eine beantwortete Frage, vorausgesetzt es war eine gute Frage und eine kluge Antwort, zieht in der Regel mindestens ein halbes Dutzend neuer Fragen nach sich.

Allerdings kann ich meine kleine bescheidene Rolle in diesem Spiel nicht völlig vernachlässigen. Immerhin wirkten einige meiner Anstöße, ohne dass ich das gewollt hätte, in einer Weise auf das Geschehen, die man als richtungsentscheidend, um nicht zu sagen richtungsändernd bezeichnen könnte. Sie wissen schon: der kleine Stein und die große Lawine.

Wie mein Alias bereits andeutet, treibe ich mich in den dunklen Ecken unserer Gesellschaft herum; dort, wo die Fassade der bürgerlichen Existenz und des legalen Geschäftslebens so dünn und fadenscheinig ist, dass es einem Spezialisten wie mir problemlos gelingt, unerkannt von einer Seite auf die andere zu diffundieren, wie man diesen Prozess der Osmose so schön nennt. Schlichtere Gemüter sehen in mir einfach einen netten, älteren Herrn, der seinen Ruhestand genießt, gerne reist und – vielleicht bemerkenswert für einen Knacker meines Jahrgangs – Ahnung von Computer- und Internettechnologien hat. Zu meinem letzten Auftrag namens Leon Walter kam ich – wie ich vermutete – aus genau diesen Gründen. Im Grunde sollte es einfach nur eine etwas erweiterte Form der Überwachung sein. Ein Job, den jeder Privatdetektiv mit der entsprechenden Ausrüstung auch hätte erledigen können. Aber man wollte mich, weil ich in bestimmten Kreisen dafür bekannt bin, Aufträge auch dann erfolgreich abzuschließen, wenn die Grenzen der Legalität längst überschritten sind. Außerdem war es eines dieser berühmten Angebote, die man nicht ablehnen kann.

 

Bei Leon Walters Aufzeichnungen handelt es sich nicht um sein ohnehin halb oder ganz öffentliches Gesülze, das er via Twitter, Facebook oder WhatsApp abgesondert hat. Dieses unerträgliche Gelalle werde ich nur im Notfall heranziehen, wenn seine privaten Notizen Lücken aufweisen, über die dieser Mensch erstaunlicherweise neben seinen öffentlichen Posts auch verfügt. Glauben Sie mir, allein diese vertraulichen Aufzeichnungen sind Zumutung genug.

So viel vorab: Leon ist ein reichlich unbedarfter junger Mann mit – man muss es so unverblümt sagen – ständig dicken Eiern, dessen Hauptbestreben Tag für Tag in erster Linie dem Triebabbau der stets geschwollenen Testikel gewidmet ist. Dabei scheint es ihm herzlich egal zu sein, wer ihm Befriedigung verspricht. Hauptsache, er kommt zum Schuss, wie man ebenso unschön wie chauvinistisch eine derartige Fixierung auf das Sexuelle in den längst vergangenen Jahren meiner eigenen Jugend bezeichnet hat. In seinem Fall sind die abgegriffenen Phrasen er hüpft von Loch zu Loch oder er rammelt wie ein Karnickel alles, was bei drei nicht auf den Bäumen ist trotz ihrer unerträglichen Banalität die zutreffendsten Beschreibungen seines Charakters. Und nur die Tatsache, dass ihm dabei bisher lediglich Vertreter der eigenen Spezies vors Rohr kamen (Rohr! Sie sehen, die mangelnde geistige Reife dieses Menschen ist ansteckend), heißt nicht, dass er sich nicht irgendwann einmal in seiner Not auch an Schafen oder Hühnern vergreifen wird.

„How auch ever“, wie Leon in seiner profund-pubertär-infantilen Art sagen würde. Der junge Mann liebt schlichte Scherze über alles: So vertauscht er gerne mal Vor- und Nachnamen und nennt sich Walter Leon, was er – wie nicht eigens betont werden muss – ungemein witzig findet.

Ich jedenfalls, als ich unter anderem sein Smartphone gekapert hatte und dann notgedrungen den Müll an SMS, Bildchen und Videos durchforsten musste, nannte ihn seinerzeit Leon, den Unprofessionellen. Nicht zuletzt deshalb, weil ich im Datenwust auch einige Spuren nachlässig gelöschter kleinkrimineller Neigungen gefunden habe, die für den Nachwuchs meiner Zunft, will man Leons Beispiel verallgemeinern, keine besonders rosige Zukunft erahnen lässt.

Leon:

Der Job ist ideal.

Träumen! Und zwar im Dienst der Wissenschaft.

Ich werde Versuchskaninchen und verdiene mein Geld im Schlaf. Ich denke, sehr viel bessere Jobs gibt’s nicht. Selbst die Arbeitszeiten sind äußerst flexibel. Wenn ich tagsüber mal ein Nickerchen halten will, um fit für die anstehende Nacht zu sein, bin ich im Institut ebenso willkommen wie nach einem anstrengenden Ausflug auf die Piste früh um halb fünf.

Ich hatte tierisches Glück, …

Dr Crıme:

Da würde ich eher von Unglück oder, wenn schon, dann von teuflischem Glück reden, wobei das Wort Glück zur überdeutlichen Akzentuierung auch noch mit Gänsefüßchen umrahmt werden müsste.)

Leon:

… dass ich genommen wurde. Laut Mensa-Aushang suchte die Prof lediglich drei neue Schläfer für ihre Versuchsreihe.

Ich klingele also das Institut an und diese weibliche Stimme am anderen Ende – man soll sich niemals NUR auf den Klang einer Stimme verlassen, ich weiß das und falle trotzdem immer wieder darauf rein – also die betörend verführerisch klingende Stimme fragt, ob ich sofort kommen könne.

„Sofort?“ In dir?, fügte ich in Gedanken hinzu.

„Sofort.“

„Kein Problem. Ich räum‘ nur noch das Tablett weg.“

Schließlich will ich bei meinen Kommis, insbesondere den weiblichen, die auf so was Wert legen, nicht den Eindruck eines unverbesserlichen Messies hinterlassen.

Wie bereits angedeutet, war das Gesicht zur Stimme eine Enttäuschung, aber dafür stimmten die Bedingungen des Jobs. Ich hatte ja keine Ahnung, dass man als Dauer-Doktorand, noch dazu eingeschrieben an der geisteswissenschaftlichen Hungerkünstler-Fakultät der SFU, derart fürstlich entlohnt werden kann.

Zur Terminabstimmung hätten sie mich eigentlich gar nicht gebraucht, denn nach Eingabe meiner Matrikel-Nummer hatte die umwerfende Stimme zum ernüchternden Äußeren sofort sämtliche Seminare und Vorlesungen auf dem Schirm – einschließlich all jener Veranstaltungen, die ich im Verlauf meiner akademischen Karriere geschwänzt hatte. Problemlos konnte sie meine künftigen Arbeitszeiten im Institut drum herum legen. Drumrum liegen, dumm herumliegen. Das ist für einen halb gebackenen Literaturwissenschaftler wie mich erstaunlich unelegant formuliert, aber (tä tä!) es passt, wie die berühmte Faust ins blaue Äugelein oder mein kleiner Walter in die Muschi einer willigen Schnalle. Denn man muss ja von berufsbedingten Schlafphasen sprechen.

Das mit der Flexibilisierung der Arbeitszeit kam erst etwas später.

„Sie werden Traumprotokolle führen müssen“, sagte die Stimme, „aber das wird Ihnen Professor Meltendonck noch genauer erläutern. Jedenfalls gehören die Protokolle mit zur Arbeitsbeschreibung. Sehen Sie, das steht hier in Ihrem Arbeitsvertrag.“

Sie zeigte auf eine Passage Kleingedrucktes, die ich ähnlich zur Kenntnis nahm, wie das Anklicken der AGBs bei Online-Versendern.

„Muss ich mit meinem Blut unterschreiben?“, fragte ich.

Der dünnlippige blasse Mund zur umwerfenden Stimme lächelte gequält. Ich überlegte: Sollte ich je in die Verlegenheit kommen, eine Retrocompany zu gründen, die Telefonsex für Audiophile anbietet, würde ich sie abwerben.

Die Assistentin oder Sekretärin oder was auch immer ihre genaue Funktion war, wollte mir ihren Kuli reichen. Doch ich zückte schwungvoll den erst gestern geklauten schwarz-silbernen Diabolo-Griffel von Cartier und setzte meinen Leo unter den Vertrag.

Der Diebstahl des sündteuren Schreibgeräts mit dem zu solcher Unverfrorenheit passenden Namen versetzte mich immer noch in Hochstimmung. Jetzt brauchte ich das Ding so schnell nicht für zwei, drei lächerliche Hunnis weit unter Wert verticken. Neu kostet das Teil im Fachhandel immerhin stilvolle 666 Euronen …

Dr Crıme:

Statt der Traumprotokolle hat Leon Walter pünktlich zum Einstieg im Institut mit klassischen Tagebuchaufzeichnungen begonnen. Allerdings nur in den seltensten Fällen handschriftlich mit dem geklauten Edelschreibgerät namens Diabolo notiert, sondern in ein stinknormales Word-Dokument in sein Notebook getippt.

Nb.: Die Tatsache, dass Leon zu den Nutzern von Windows, kurz den Windioten zählt, sagt eigentlich schon alles …

Leon:

Ich will ja nicht mäkeln. „Glück ist selten vollkommen. Und wenn es uns vollkommen erscheint, dann hat sich meist ein dichter Schleier vor unsere Augen gelegt. Die Vernebelungstaktik endogener Drogen.

Dopamin-, Serotonin- oder Endorphin-Räusche führen zu wahrhaft paradoxen Erscheinungen. Sie fokussieren unsere Wahrnehmung passenderweise auf das, was wir sehen wollen und als gut und schön empfinden und blenden alle (unter normalen Bedingungen offensichtlichen) Mängel großzügig aus.“

Na? Wie war das?

Ich denke, mit meinem schlauen Gelaber könnte ich auch im gut verkäuflichen Glücksbuchratgeber-Segment eine erfolgreiche Karriere starten. Aber natürlich nur unter Pseudonym, selbstredend einem weiblichen. Ein Face-Double sollte nicht schwer zu finden sein. Wie wär’s mit Waltraud Leoni? Oder gibt’s die etwa schon?

Wo war ich stehen geblieben?

Ach ja, die Unvollkommenheit. Als ich tags darauf neben der stimmlich überwältigenden, aber visuell eher bescheidenen Sekretärin auch die hochberühmte Frau Professor Dr. Lucia Meltendonck höchst persönlich kennenlernte, drehte sich die ganze Angelegenheit um 180 Grad. Frau Professors Stimme war – um es freundlich auszudrücken – in ihrer kaum beherrschbar-durchdringenden Art nur eingeschränkt erträglich, während sie stattdessen für ihre reifen Jahre (ich schätze sie auf Mitte, Ende vierzig) schlicht umwerfend aussah. Die Stimme der einen im Körper der anderen und das eingangs beschworene Glück wäre perfekt!

Andererseits … und derart ehrliche Äußerungen, wie ich sie jetzt in die Tastatur hämmere, darf ich in meinen privaten Aufzeichnungen, die nicht zu meinem Arbeitsauftrag gehören, problemlos machen – es erfährt ohnehin niemand was davon, da ich nicht vorhabe, das hier zu posten (lol) … Also andererseits sagt mir meine Erfahrung, dass eine Frau mit ihrem Mund und ihren Lippen und ihrer Zunge außer Quasseln auch noch ganz andere Sachen machen kann … Oink, oink!

Dr Crıme:

Hatte ich Ihnen gegenüber schon erwähnt, dass unser Held ein unerträglicher Klugscheißer im Gewand eines Sprüche-Plattklopfers ist? Spätestens jetzt haben Sie es schwarz auf weiß. Und nicht nur das. Seine oberflächliche Einstellung gegenüber Frauen ist, angesichts der Tatsache, dass es sich bei Leon Walter um einen Endzwanziger handelt, skandalös vorgestrig. Ich gebe ja gerne zu, dass ich selbst keineswegs vor gewissen Chauvinismen gefeit bin. Political correctness geht mir am Arsch vorbei.

Aber ich behandle alle gleich – und zwar gleich schlecht.

Wenn es unumgänglich ist, stanze ich einer Frau ebenso ein Loch in den Schädel wie einem Mann. Bei solchen Fragen zählen nur die Umstände und nicht das Geschlecht.

Und um durch Leons Aufzeichnungen keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen: Ich habe Frau Professor Meltendonck, nachdem meine Zusammenarbeit mit dem Meister begann, ebenfalls kennengelernt und kann Ihnen versichern, ihre Stimme ist keineswegs so schrill und schrecklich, wie dieser Trottel meint. – Gut, sie kann laut werden, auch über längere Zeit, ohne einen Anflug von Heiserkeit, aber das ist im Rahmen ihres Lehrauftrags wohl eher von Vorteil. Ansonsten stimmt Leons Beschreibung, sie ist keinesfalls unattraktiv, im Gegenteil. Was jedoch das Gelaber wegen ihres angeblich „reifen Alters“ anbelangt – sie ist gerade fünfzig geworden –, so muss man das als jugendlichen Stuss abhaken. Das Bürschchen sieht sich selbst altersmäßig noch eher in der erweiterten Kindergartengruppe denn als Mitglied der Welt der sogenannten Erwachsenen.

Sein Job im Institut für angewandte Traumforschung an der renommierten SFU unserer hübschen mittelfränkischen Stadt sollte sich letztlich als bedeutend, um nicht zu sagen als Glücksfall herausstellen, wenn auch nicht unbedingt für ihn.

Damit Sie sich ein Bild von ihm machen können, das über die bereits gründlich entlarvenden Statements hinausgeht, die er ohne Not von sich preisgegeben hat, werde ich der Einfachheit halber einen Vergleich bemühen: Er ist groß – ich schätze mal einiges über einsneunzig – und er sieht aus wie die jugendliche Version des Schauspielers Rowan Atkinson, sattsam bekannt als Mr. Bean. Wenngleich ihm jedoch die schauspielerischen Fähigkeiten dieses Mimen völlig abgehen. Entgleisen Leon die Gesichtszüge, ist das selten komisch, sondern im Gegenteil fast immer tragisch. Selbstbeherrschung ist für Menschen wie ihn ein Fremdwort und so verrät er einem halbwegs erfahrenen Gegenüber, ohne ein Wort sagen zu müssen, alles, was der von ihm wissen will.

Ähnlich wie Atkinson scheint er eine Leidenschaft für unvernünftig schnelle und schicke Autos zu haben, ohne sich diese freilich leisten zu können. So gut wurde sein Job dann doch nicht bezahlt.

Leon:

Morgen Nachmittag geht’s los. Dann wird die Kohle im Schlaf verdient.

Um das zu feiern, geht es heute Nacht noch mal auf die Piste. Meine bisher so unnahbare Mondgöttin Eva – also Eva aus der Mondstraße in Fürth – hat mir erlaubt, sie in die Margarinefabrik zu begleiten. Dafür habe ich mich extra in meine schwarze True Religion Designer-Jeans im Rocco-Leather-Look gezwängt, die ich Anfang des Jahres in dieser Erlanger Nobel-Boutique geklaut habe.

Wir tanzen nun schon seit Stunden inmitten tausender Partywütiger zu Techno und House aus den 90ern. Wahrscheinlich gibt es einen Grund dafür. Vielleicht feiern Scooter Goldene Hochzeit. Mir läuft der Schweiß in Strömen herab und meine Socken sind derart feuchtigkeitsdurchtränkt, dass jeder Step ein quietschend-matschiges Geräusch verursacht. Zum Glück sind die Beats derart knallend, dass selbst ich das nur vermuten, aber nicht wirklich hören kann.

Auch Eva glänzt, aber bei ihr sieht das einfach nur derart geil aus, dass mich allein der Gedanke, diesen Schweißfilm abzulecken, zu Höchstleistungen anspornt. Mädels mögen gute Tänzer, denn sie hoffen ja, dass man sich beim Laken-Zweikampf genauso geschickt bewegt. Die vielen bunten Smarties, die wir eingeworfen haben, tun das ihre, um uns quietschlebendig zu halten.

 

Vorhin – das muss schon eine Weilchen her sein – als mal eine halbe Minute lang nur die Bass-Drum aus den Boxen knallte, schrie sie in mein Ohr: „Wenn du mein Prinz bist und wacker durchhältst, gibt es später noch Dessert!“ Dabei zog sie das ohnehin tief ausgeschnittene, klatschnasse Shirt ein Stück nach vorne und ließ mich die runde weiße Pracht ihrer Äpfelchen bewundern. Genau in diesem Moment setzte wieder die volle Dröhnung ein und seitdem bekomme ich den bescheuerten Refrain nicht mehr aus dem Kopf: „Bass-Drum, Bass-Drum, los, gib uns den Takt an! Bass-Drum, Bass-Drum, los, gib uns den Takt an!“

Später werde ich wohl in einem unbeobachteten Moment auch noch eine von den blauen „Davon kriegst du garantiert einen Hammerharten, Mann, das versprech‘ ich dir“-Drops einschmeißen. Nicht, dass ich die Dinger wirklich nötig hätte, aber nach all dem Speed und Ecstasy werd‘ ich kein Risiko eingehen. Schließlich erwartet meine Mondgöttin ein Rundum-Glücklich-Paket und ich habe einen Ruf zu verlieren.

Mittlerweile grölt dieser nervige Kerl zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit in meinem Ohr: „Bass-Drum, Bass-Drum, los, gib uns den Takt an!“

Es klingt, als sitze der Schwachmat direkt vor dem Trommelfell, schreit seinen Text und schlägt mit seinem Knüppel – naja, worauf wohl …

Dann zieht mich die Mondgöttin quer durch das Gewimmelmeer zuckender, sich verrenkender, von Stroboskopblitzen zerhackter Körper, bis wir schließlich hinter der DJ-Bühne vor dieser wuchtigen Stahltür stehen. Ich erkenne sie sofort wieder. Heute Abend, als wir von der U-Bahn-Station in ihrer Nähe aufbrachen, sind wir unten am eklig gefliesten Bahnsteig schon mal an einer vorbeigekommen, die genauso aussah. Eine riesige Neun prangte dort auf dem Stahl.

Number nine, number nine.

Verdammt, woher kenne ich das?

Richtig, auf dieser kleinen Plastikkarte, die wir am Eingang der Margarinefabrik in die Hand gedrückt bekamen, prangte auch eine große Neun und sonst nix. Ich spür‘ das Ding in meiner Hosentasche. Es ist doppelt so dick wie ’ne normale Kreditkarte und genauso lang, nur schmäler. Und ansonsten auf beiden Seiten schwarz wie die Nacht.

„Für eure Freigetränke“, hatte der Kerl beim Einlass gesagt.

Hier also schon wieder die Neun und wie in der U-Bahn auf einem Stahltor. Muss das Motto der Nacht sein. Ich zieh‘ die Karte aus der Hosentasche, aber meine stroboskopgeschädigten Glotzer können die Neun auf der Plaste nicht erkennen. Da ist nur tiefste Schwärze zwischen meinen Fingern. Ich steck das Ding wieder ein, denn in diesem Augenblick öffnet Eva die Tür und wir schlüpfen hindurch …

Was erwartet Eva und Leon hinter Tür Nr. 9?

Wird die nächste Folge diese Frage beantworten?