Eva langt zu

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»Was soll ich denn sonst wollen?«, sagte er. »Tangounterricht vielleicht?«



»Kannst du das nicht ein bisschen höflicher sagen?«, fragte ich. »Wo bleibt zum Beispiel das kleine Wörtchen bitte?«



»Meinst du, das hat mir schon mal mehr eingebracht als einen Trockenfurz?«, fragte er. Dann beugte er sich über meine flennende Ma, krallte sich in ihre Haare und brüllte: »Ich will mein Geld, du billiges Flittchen. BITTE.«



»Warum nicht gleich so?«, sagte ich, weil mir nichts anderes übrig blieb. Ich steckte die Hand in die Tasche. Ich musste die linke Hand nehmen, weil die andere streikte. Ich gab dem Mistkerl einen Packen Zwanziger.



»Der Rest ist für Sie, guter Mann«, sagte ich. Was sollte ich auch sonst sagen, platt wie eine Flunder? »Und beim nächsten Mal bringen Sie verflucht noch mal Ihre Manieren mit!«



Er zog ein Gesicht, das mir fast das schöne Geld wert war.



»Hä?«, sagte er.



»Verpiss dich«, sagte ich. »Und lass dich nie wieder hier blicken.«



»Hä?«, sagte Ma, der die Wimperntusche vom Kinn tropfte. Ihr Gesicht war auch nicht von schlechten Eltern.



»Oh-oh-oh«, sagte Milo. Besser hätte ich es auch nicht ausdrücken können. Wenn man ehrlich sein will, hatte ich verloren. Der Mieteintreiber hatte gewonnen, und ich hatte verloren. So einfach war das. Ohne dass ich ihm einen anständigen Kampf geliefert hätte. Ich sprang ihn an. Er briet mir eins über. Ich ging zu Boden. Ende vom Lied. Boing – rumms.



Das war mir noch nie passiert. Natürlich habe ich auch schon verloren. Im Ring bin ich die Böse, und die Bösen dürfen nicht immer gewinnen. Manchmal soll Blauäuglein die Böse besiegen. Blauäuglein soll den Teufel in Schwarz schlagen. Und manchmal hatte ich im Ring so jämmerliche Gegnerinnen, dass ich mich richtig anstrengen musste, um zu verlieren. Aber ich bin noch nie zu Boden gegangen, ohne selber ein paar ausgeteilt zu haben. Und zwar tüchtig. Hopp-boing-rumms, das kannte ich nicht. Das war mir noch nie passiert.



»Steh auf«, sagte Ma. »Steh auf und hilf mir.«



Als ich die Augen aufmachte, war der Mieteintreiber weg. Milo stand ganz schief und krumm vor mir, er zitterte und hatte den Schwanz zwischen die Beine geklemmt. Die Unterwäsche segelte durch die Lüfte, und Ma versuchte sie wieder einzufangen. Ich konnte es nicht mit ansehen.



»Steh auf, du faule Sau, und pack mit an«, sagte Ma. Aber ich konnte ihre Klamotten nicht anfassen. Ich rieb mir die Schulter. Sie war noch heil. Sie war erst taub gewesen, dann hatte sie wehgetan. Aber sie war heil geblieben.



»Jetzt komm endlich«, sagte Ma.



Aber ich konnte sie nicht ansehen.



Ich stand auf. Ich nahm Milo auf den Arm. Ich ging.



»He!«, sagte Ma. »Wo willst du hin?«



Aber ich war so fix und fertig, dass ich kein Wort rausbrachte. Mit Milo auf dem Arm ging ich davon.






5





Der Tierarzt sagte, Milo hätte sich den Oberschenkelknochen ausgerenkt. Milo schrie, als er ihn wieder einrenkte. Der Tierarzt sagte, Milo wäre jung und stark, er würde am nächsten Morgen nichts mehr davon spüren. Damit hatte er recht. Aber ich bin kein junger Hund mehr. Ich habe Erinnerungen und Gefühle, von denen ein junger Hund nichts weiß. Ich kann damit nicht einfach zum Tierarzt gehen, damit es mir am nächsten Tag wieder besser geht. Diese Sachen bleiben mir erhalten, und das tut weh.



Ich höre Sie schon sagen: »Was soll’s? Du bist reich, Eva. Du hast es gut. Nimm dir ein paar von deinen nagelneuen Scheinchen und reib dich damit ein. So kurieren die Reichen ihre Wehwehchen.« Das zeigt mal wieder, was für eine tolle Hilfe Sie sind. Es zeigt, wie herzlos die Leute sein können, wenn sie wissen, dass man viel Kohle hat. Auf Ihren Rat kann ich verzichten.



Ich würde Harsh fragen. Harsh war der Mensch, den ich jetzt brauchte. Harsh weiß alles. Harsh weiß auf alles eine Antwort.



Er ist ein Gott und ein spitzenmäßiger Catcher. Aber das kann man nur beurteilen, wenn man selber was auf dem Kasten hat, so wie ich. Man muss sich im Ring auskennen, um einen Catcher wie Harsh richtig beurteilen zu können. Er ist eine ehrliche Haut, er verbiegt sich nicht. Außerdem hat er was im Oberstübchen, was man von den meisten Holzköpfen, die ich kenne, nicht behaupten kann.



Aber ich hatte Harsh schon länger nicht mehr gesehen. Und zwar deshalb nicht, weil er in dem Studio trainiert, wo ich Hausverbot habe. Wo mich Mr. Deeds rausgeschmissen hat. Harsh gehört noch zu der Welt, die ich verloren hatte, und ich wollte ihn nicht sehen, weil er mich immer daran erinnerte, was ich nicht mehr haben konnte.



Ich hatte auch keine Lust, mich im Studio von den Schwergewichtlern Gruff und Pete blöd anquatschen zu lassen. »Da kommt das Wrack.« Solche Sprüche würden sie bestimmt ablassen. Gruff und Pete sind die schlimmsten Furzköppe der Welt. Mit Tiefschlägen kennen sie sich aus, und ihre Devise heißt: Immer feste druff. Das macht ihnen Spaß. Ich wollte ihnen nicht begegnen.



Also wartete ich draußen im Nieselregen. Ich wartete auf Harsh. Ich stellte mich auf der anderen Straßenseite im Eingang eines Tabakwarenladens unter, von wo ich den Eingang des Studios im Auge behalten konnte. Als mich der Ladenbesitzer vertrieb, hockte ich mich neben ein mit Brettern vernageltes leerstehendes Geschäft. Ob Sie es glauben oder nicht, nach zwanzig Minuten schenkte mir ein altes Muttchen zehn Pence. Das war echt die Härte. Sie muss wohl geglaubt haben, ich wäre obdachlos oder so. Im Vorbeigehen warf sie das Geldstück vor mir auf die Erde, als ob ich ein Bettler wäre. Ich hätte ihr den Marsch blasen können. Ich hätte sagen können: »He, du alte Träne. Hast wohl noch nie eine Squillionärin gesehen, was?« Ich hätte ihr ihre jämmerlichen zehn Pence zurückgeben müssen. Hätte ich, hab ich aber nicht. Ich war sauer, aber andererseits fand ich es auch komisch.



Als ich nichts hatte, hat mir keiner was geschenkt. Kaum habe ich selber Geld, können es mir die Leute gar nicht schnell genug hinterherschmeißen. Geld zieht Geld an.



Sehen Sie, was ich meine? Deshalb hatte ich so ein gutes Gefühl wegen meinem Lottoschein. Ich konnte den Samstag kaum erwarten, um zu erfahren, wie viel ich gewonnen hatte. So wie mir das Glück an den Fingern klebte, war es unmöglich, dass ich nichts gewann. Also hob ich die zehn Pence auf und steckte sie ein.



Genau in dem Moment kam Harsh aus dem Studio. Ich war echt froh, dass er nicht gesehen hatte, wie ich das Geld eingesackt hatte, so sauber und schön, wie er mal wieder aussah. Er hat den idealen Körper, kräftig und muskulös, aber nicht übertrieben. Alles an ihm erfüllt einen Zweck. Nichts ist Show.



Deshalb wäre ich beinahe doch nicht zu ihm rübergegangen. Weil er genau so aussah, wie ich eigentlich auch aussehen müsste. Denn plötzlich wurde mir klar, dass diese neugierige Kuh, die Feindin, recht hatte – ich war tatsächlich ein bisschen aus dem Leim gegangen. Ich hatte mich gehenlassen. Deswegen konnte mich der Mieteintreiber mit einem Schlag umhauen. Natürlich war es auch Mas Schuld, wegen ihr war ich aus dem Gleichgewicht geraten, wegen ihr und ihrer nuttigen Unterwäsche. Das Schlimmste war noch nicht mal, dass mich der Kerl umgehauen hatte, nein, das Schlimmste war, dass er mir ansah, dass er es wagen konnte. Vor einem Jahr hätte ein Blick genügt und er hätte sich gesagt: »Hoppla, die macht Ärger, von der lass ich lieber die Finger.« Dieses Jahr dachte er bei sich: »Ha, eine leichte Beute. Der zeig ich, wo’s langgeht.« Was er dann ja auch gemacht hat.



Der saubere, schöne Harsh sollte mich nicht auch so sehen, wie mich der Mieteintreiber gesehen hatte.



Aber ich hatte keine andere Wahl, ich ging über die Straße.



Zum Glück hatte er wenigstens nicht mitgekriegt, dass ich die zehn Pence von dem alten Muttchen aufgehoben hatte. Ich drückte den Rücken durch.



»Harsh!«, rief ich.



Er wirbelte auf den Fußballen herum, leichtfüßig und elegant. »Eva«, sagte er. »Na, na, na.«



»Harsh«, sagte ich. »Du musst mir helfen.«



»Muss ich?«, fragte er.



Es war mir falsch rausgerutscht. Warum muss es immer falsch rausrutschen?



»Der Kerl gestern«, sagte ich.



»Wie bitte?«, sagte Harsh.



»Ja. Der wusste, dass er mich umhauen kann.«



»Eva«, sagte Harsh. »Rück mir nicht so auf den Leib. Lass meine Jacke los.«



»Und da hat er mich umgehauen. Echt wahr. Aber nur, weil er wusste, dass er es mit mir aufnehmen konnte.«



»Eva«, sagte Harsh. »Dies mag sehr viel Bedeutung für dich haben, aber mir sagt es sehr wenig. Lass mich los und drück dich klarer aus.«



»Ich muss wieder zurück.«



»Wohin?«



»Wo ich war«, sagte ich. »Ich muss wieder fit werden. Und hart.«



»Aha«, sagte Harsh. »Jetzt verstehe ich, was du möchtest.«



Harsh verstand mich. Ich hätte mir am liebsten die Augen aus dem Kopf geheult.



»Ich kann dich bezahlen«, sagte ich, weil ich nicht losheulen wollte.



»Woher hast du das viele Geld?«, fragte Harsh. »Und wedele damit nicht so vor allen Leuten herum.«



Ich stopfte mir die Kohle wieder in die Taschen. Ich sagte: »Ich wollte es dir nur zeigen, damit du mir glaubst.«



»Ich glaube dir«, sagte Harsh. »Du brauchst nicht damit herumzufuchteln. Woher hast du es?«



»Es gehört mir«, sagte ich.



»Ist ja gut, schrei nicht so.«



»Ich bezahle dich«, sagte ich. »Und du bringst mich wieder in Form.«



»Du wirst mich nicht bezahlen«, sagte Harsh. »Du brauchst kein Geld, um in Form zu kommen. Du brauchst den Willen, um die Zähne zusammenzubeißen und hart an dir zu arbeiten. Du brauchst den Willen, mit dem Trinken aufzuhören.«



»Ich trinke nicht mehr.«

 



»Ich kann es riechen.«



»Ich habe aufgehört.«



»Dann musst du eine Zahnbürste benutzen. Wie viel Geld würde dich das kosten?«



»Was faselst du denn da?«, schrie ich. Ich war so enttäuscht. »Bist du blind oder was? Ich will wieder die Londoner Killerqueen sein. Ich kann zahlen. Und du quatschst hier was von Zahnbürsten?«



»Es ist eine Reise«, sagte Harsh. »Und in deinem Fall sollte die Zahnbürste am Anfang stehen.«



Er drehte sich um und ging. Ist das die Möglichkeit? Als ich die Augen wieder aufmachte, war er weg. Verschwunden. Er ließ mich mit meinem vielen Geld einfach stehen. Mich!



Eine Squillionärin.



Am liebsten wäre ich hinter ihm her gerannt und hätte ihn erwürgt.



»Zahnbürste«, sagte ich. »Dir werde ich schon noch zeigen, was ’ne Zahnbürste ist, spätestens wenn sie bei dir am anderen Ende wieder rauskommt.«



Ist doch wahr. Ich redete von Bizepsen, Trizepsen, Quadrizepsen, Delta- und Trapezmuskeln. Und er kommt mir mit Zahnbürsten! Dumm ist gar kein Ausdruck dafür. Ich dachte, Harsh würde mich verstehen, ich dachte, er hätte was auf dem Kasten, aber er hatte mir nicht geholfen, er hatte mich wie eine Kaulquappe behandelt.



Auf einmal kamen zwei Kerle auf mich zu, und einer von ihnen schlug mir auf die Schulter. Ich fuhr herum.



»He«, sagte der schwarzhaarige Typ. »O, Eva, tu mir nichts.« Es war Flying Phil.



Ich sagte: »Was hast du denn mit deinen Haaren gemacht?« Früher hatte er blonde Strähnchen. Jetzt hatte er eine blauschwarze, struppige Matte.



»Hast du es noch nicht gehört?«, fragte er. »Mein Dad hat aufgehört. Ich trete nicht mehr im Team auf, ich mache jetzt eine Solokarriere. Ich heiße inzwischen Firefly Phil, der Riesentöter. Was schreist du hier in der Gegend rum? Mr. Deeds dreht durch, wenn er dich sieht. Er hat dir doch gesagt, was er mit dir macht, wenn er dich auch nur in der Nähe des Studios erwischt.«



»Ich scheiß auf Mr. Deeds«, sagte ich. »Und ich scheiß auf dich.« Ich war noch viel zu geknickt wegen Harsh, um mich mit einem Schwachkopf wie Phil zu unterhalten.



»Weißt du, an wen du mich erinnerst?«, sagte Phil. »An eine Pennerin.«



»Verpiss dich.«



»Doch, demnächst schiebst du einen Einkaufswagen vor dir her und sammelst Plastiktüten. Fremden Leuten hinterherzubrüllen hast du ja schon gelernt.«



»Von wegen«, sagte ich. »Ich habe mit Harsh geredet. Er bringt mich wieder zurück in den Ring.«



»Harsh?«, sagte Phil. »Dass ich nicht lache. Der hört doch auch bald auf.«



»Was?«



»Ja, Eva. Du bist echt nicht mehr auf dem Laufenden. Er hat jetzt sein Diplom oder wie das heißt und geht zurück nach Hause, in irgend so ein Kanakenland.«



»Das glaubst du doch selber nicht«, sagte ich. Dabei wusste ich, dass Harsh irgendwas studiert hatte. Er ist ja auch so ein kluger Kopf. Aber deswegen würde er doch nie das Catchen aufgeben. Er würde mich nicht einfach im Stich lassen, wo ich gerade mein Comeback vorbereitete.



»Nie im Leben«, sagte ich. »Er wird mein Privattrainer.«



»Träum weiter«, sagte Phil. »Er wird persönlicher Berater von irgendeinem Wirtschaftsboss im Kanakenland.«



»Was weißt denn du?«, sagte ich.



»Jedenfalls mehr als du«, sagte Phil. »Dass Harsh aufhört, zum Beispiel, und dass er von dir nichts wissen will. Und ich weiß, was eine Schnapsidee ist.«



»Du hast echt einen Gehirnschaden«, sagte ich.



»Und du bist und bleibst eine Nulpe, Eva.« Phil wandte sich seinem Kumpel zu, den ich nicht kannte, und sagte: »Sie war schon immer heiß auf Harsh. Für sie ist er so was wie ein Zen-Meister.«



»Als Mittelgewicht ist er nicht übel«, sagte der andere, weswegen ich ihn mir ein bisschen genauer ansah. Ganz so behämmert wie Phil konnte er nicht sein, wenn er Harsh lobte.



»Langweilig«, sagte Phil. »Mit Zen-Catchen kriegst du keine Halle voll.«



»Aber irgendwer muss es machen«, sagte der Fremde. Er hatte kräuselige Haare und karamellbraune Haut. Für mich sah er wie ein Schwergewichtler aus. Normalerweise sind die Schwergewichtler meine natürlichen Feinde. Gruff und Pete zum Beispiel. Aber dieser Typ schien ein bisschen mehr im Oberstübchen zu haben als Hühnerkacke. Also sagte ich:



»Wie heißt du, wenn man fragen darf?«



»Keif«, sagte er. »Und du?«



»Das ist Eva, der dicke, fette Käfer«, sagte Phil. »Lass dich lieber nicht vom Boss dabei erwischen, dass du mit ihr redest. Sie ist irre.«



»Du redest doch auch mit ihr.«



»Ich bin ja auch ein Star. Ich bin nicht mehr auf Probezeit wie du.«



»Der Boss kann mich mal«, sagte Keif. »Bei der Arbeit hat er mir was zu sagen. Er kann auch bestimmen, wann und wo ich auftreten soll. Aber er kann mir nicht vorschreiben, mit wem ich mich auf einer öffentlichen Straße unterhalten darf. Er ist schließlich nicht der liebe Gott.«



»Das glaubt er aber«, sagte Phil. »Und deshalb kommt es auf dasselbe raus. Hör auf mich. Sie macht bloß Ärger. Wer hat dir schließlich den ganzen letzten Monat gezeigt, wo es langgeht?«



»Du.«



»Also?«



»Also was?«, sagte Keif.



»Also hast du dir von einem Affen den Zoo zeigen lassen«, sagte ich.



»Du und ein Privattrainer«, höhnte Phil. »Du könntest dir doch noch nicht mal einen privaten Pisspott leisten.«



»Du hast ja keine Ahnung«, sagte ich. »In der letzten Zeit habe ich nicht schlecht verdient.«



»Siehst du?«, sagte Phil zu Keif. »Die spinnt doch. Alles Einbildung. Die hat noch nie Kohle gehabt. Harsh würde es nie schaffen, sie wieder auf Vordermann zu bringen. Dafür braucht man einen Presslufthammer. Du hättest sie mal sehen müssen, als sie noch in Form war. Neben ihr sah Godzilla wie Miss World aus.«



»Ja?«, sagte ich.



»Ja.«



»Siehst du?«, sagte ich zu Keif. »Manche von uns tun mehr, als sich die Haare zu färben, um im Ring Erfolg zu haben.«



Damit ließ ich sie stehen und trabte locker los. Ich hatte es ihnen gezeigt. Ich hatte das letzte Wort gehabt. Man beleidigt Eva Wylie nicht ungestraft.



Meine Puste reichte nur bis zur nächsten Ecke. Ich verfluchte Harsh.



»Scheiß Zahnbürste«, sagte ich. Was für eine Enttäuschung. Aber wie als Beweis dafür, dass mich das Glück doch noch nicht verlassen hatte, stand plötzlich ein verbeulter weißer Ford vor mir. Die Fahrertür war so verzogen, dass das Schloss fast von selber aufging. Er hatte nur auf mich gewartet. Hätte ich mir die Chance etwa entgehen lassen sollen?



Als ich zu Hause war, genehmigte ich mir eine kleine Stärkung. Stimmt, ich hatte Harsh gesagt, dass ich mit dem Trinken aufgehört hatte. Sie können sich also Ihre schlauen Bemerkungen sparen. Aber es war der letzte Rest in der Flasche. Den durfte ich nicht umkommen lassen. Ich spülte mit ein paar Dosen Bier nach. Aber Bier zählt eigentlich nicht richtig als Alkohol, finde ich zumindest. Bier haut nicht stärker rein als Mückenpisse. Deshalb zählt es nicht. Ist doch so.



Aber ich konnte meine Zahnbürste nicht finden. Ich suchte sie überall, aber sie war weg. Ich stellte den ganzen Hänger auf den Kopf, bis es mir zu blöd wurde. Bevor ich ins Bett ging, konnte ich mir einen ganzen Zentner Zahnbürsten kaufen, wenn ich wollte, oder jemand anheuern, der mir die Zähne putzte. Ich konnte sagen: »He, du, Diener Nummer vier, putz mir die Zähne, aber ein bisschen plötzlich. Ich erwarte Harsh zu Besuch, wir wollen auf der Veranda Cocktails schlürfen, und du weißt ja, dass er was gegen dreckige Beißerchen hat. Er ist nämlich Mr. Vornehm vom Planeten Nobel.« Was so ein Geldsack eben sagen würde. Sie glauben doch wohl nicht, dass die Reichen sich die Zähne selber putzen? Im Leben nicht.






6





Es war Abend, kurz nach sechs. Auf dem Schrottplatz kehrte Ruhe ein, und es wurde Zeit, das Tor abzusperren und die Hunde aus dem Zwinger zu lassen. Es regnete, der schneidende Wind ging mir bis auf die Knochen. Normalerweise hätte ich meine wattierte Jacke angezogen, aber ich konnte sie nicht finden.



Während ich mit dem Tor zugange war, fiel mir ein kleiner Renault Clio auf, der auf der anderen Straßenseite am Bordstein stand. Ich achtete nicht besonders darauf, weil ich nass und durchgefroren war und möglichst schnell wieder ins Warme wollte. Aber das Vorhängeschloss wollte nicht, und die Kette muckte auch auf.



Als die leise Stimme aus dem Dunkeln sagte: »Eva, bist du es wirklich?«, fielen mir zum x-ten Mal die Schlüssel aus der Hand, und ich sagte: »Verpiss dich. Ich habe zu tun.«



Komische Reaktion, den einzigen Mensch auf der ganzen weiten Welt abzuwimmeln, den ich wirklich sehen wollte.



Ich sagte: »Verpiss dich, ich habe zu tun«, und sie sagte: »Entschuldigung, ich wollte nicht stören.« Sie hatte einen schicken, langen Regenmantel an und ein kleines Schirmchen in der Hand, damit ihre Frisur nicht nass wurde. Im Licht der Laterne, das von hinten auf sie fiel, schien es, als ob es Diamanten auf sie regnete. Und sie sah mich an, als ob sie schon lange gewartet hatte. Auf mich.



Sie sagte: »Bist du es wirklich?«



Und ich sagte: »Wer?« Und dann setzte ich mich in eine Pfütze, weil ich plötzlich Pudding in den Beinen hatte. Im Magen war es mir auch ganz schwummerig geworden, weil ich wusste, wer sie war.



Ich sagte: »Simone.« Ich machte die Augen zu und kniff sie ganz fest zusammen. Denn ich wusste, wenn ich sie wieder aufmachte, würde sie verschwunden sein. Es konnte nur am Schnaps liegen, dass ich sie sah. Früher hatte ich jahrelang davon geträumt, dass sie eines Nachts zu mir zurückkommen würde. Manchmal träumte ich, dass sie, als ich Ma in ihrer Räuberhöhle besuchte, im Wohnzimmer auf dem Sofa saß. Ich träumte, dass sie hinter der nächsten Straßenecke vor einem Schaufenster stand und ich sie erwischen würde, wenn ich nur schnell genug lief. Ich träumte, dass sie in einem Auto an mir vorbeifuhr und ich ihr Gesicht durch die spiegelnde Scheibe nicht genau erkennen konnte.



Aber etwas war diesmal anders. Wenn ich davon träumte, dass sie zurückkam, sah sie immer noch so aus wie früher. Als sie zwölf war und ich elf. Ich weiß nicht, warum. Mir ist klar, dass sie auch älter geworden sein muss, genau wie ich. Aber ich sah sie immer nur als hübsches Mädchen. Nie als erwachsene Frau in einem schicken, langen Regenmantel.



Noch etwas war anders. Wenn ich von ihr träumte, war sie ein kleines Mädchen und ich war die Londoner Killerqueen. Ich sonnte mich in meinem Erfolg. Ich war berühmt. Stark. Beliebt. Ich saß nicht in einer öligen Pfütze auf dem Hintern. Das gehörte nicht zu meinem Traum. Weiß Gott nicht.



Also machte ich die Augen wieder auf. Auf der anderen Seite des Tors standen zwei kleine Stöckelschuhe. Und darin stand Simone, auf die es Diamanten regnete. Ich sagte: »Bist du es wirklich?«



Ich schloss ihr das Tor auf. Ich vergaß, die Hunde aus dem Zwinger zu lassen. Zum ersten Mal in meinem Leben vergaß ich die Hunde.



In meinen Träumen hatte Simone auch immer gesagt: »Eva, bist du es wirklich?« Deshalb wusste ich, dass sie es war.



Aber der Hänger war die reinste Müllkippe. Es fiel mir erst auf, als sie reinging. Das war in meinen Träumen auch nicht so gewesen. Im Traum war alles tipptopp aufgeräumt, damit sie gleich sehen konnte, wie gut es mir ging.



»Ich konnte meine Zahnbürste nicht finden«, sagte ich.



»Macht nichts«, sagte sie. »Lass dich einmal ansehen.« Also beguckten wir uns erst mal gründlich. Wir hatten nicht viel Licht, nur von der Taschenlampe und meiner Petroleumlampe. Ich habe nämlich etwas gegen Stromrechnungen. Also musste ich ganz genau hinsehen. Je mehr Zeit ich mir nahm, desto mehr erinnerte sie mich an die alte Simone. Aber es war komisch – als würde sich die erwachsene Frau vor meine alte Simone drängen. Ich hätte diese Frau am liebsten weggeschubst. »Verzieh dich«, wollte ich zu ihr sagen. »Du stehst vor meiner Schwester.«



Sie reichte mir kaum bis zum Kinn. Kein Wunder eigentlich, sie war schon immer kleiner gewesen als ich, obwohl sie ein Jahr älter war. Aber vom Gesicht her hatte sie sich verändert. Früher hatte sie ein Elfengesicht gehabt, große blaue Augen, die unter seidigem Haar hervorblickten. Die Augen waren das Erste, was einem an ihr auffiel, weil sie so dunkel waren, vor allem im Vergleich zu ihrer blassen Haut und den silbrigen Haaren. Sie hatte ein kleines Gesichtchen. Als Kind schien ihr Gesicht mich immer um Hilfe zu bitten. Und ich hatte ihr geholfen. Ich habe auf sie aufgepasst und sie mitgenommen, wenn ich mal wieder ausgerückt bin.



Aber jetzt hatte sie viel zu viel Farbe im Gesicht. Die blassen Backen waren rosa geschminkt, der helle Mund knallrot.

 



Augenlider und Wimpern waren schwarz angemalt, die Haare golden gefärbt. Meine Simone war zwar immer noch da, aber sie trug eine Erwachsenenmaske, und ich konnte nicht mehr erkennen, was ihr Gesicht mir sagen wollte. »Eva«, sagte sie. »Du bist so groß und stark geworden.«



»Ja.« Ich drehte mich weg. Ich wusste einfach nicht, was sie nach all den Jahren in mir sehen wollte. Womöglich gefiel ihr nicht, was sie sah. Schon früher hatten sie uns die Schöne und das Biest gerufen. Und an diesem Abend war ich nicht besonders gut drauf. Ich wollte mich von meiner besten Seite zeigen, so wie im Traum bei unserer ersten Begegnung, aber ich konnte meine Zahnbürste nicht finden.



Ich konnte auch nicht still stehen. Mein Herz hüpfte wie Spucke auf einer heißen Herdplatte. Ich wollte ihr so viel sagen, aber es verhedderte sich in mir. Es wollte nicht heraus.



Bevor ich daran erstickte, sagte ich: »Wie hast du mich gefunden?«



»Durch Mutter«, sagte sie.



»Durch wen?«, sagte ich.



»Unsere Mutter«, sagte sie.



»Ma?« Ich verstand nicht, dass sie das Wort »Mutter« für unsere Ma benutzte.



»Ja«, sagte sie. »Ich habe mich eine Zeitlang im Ausland aufgehalten, und als ich zurückkam, wollte ich mich mit dir in Verbindung setzen. Meine andere Mutter wusste, wo unsere Ma wohnte. Sie hat ihr manchmal Fotos von mir geschickt.« Noch ein riesiges Gesprächsthema. Damit kam ich überhaupt nicht klar. Ihre andere Mutter. Warum hatte sie sich adoptieren lassen? Früher war sie für mich eine Verräterin gewesen, weil sie sich hatte adoptieren lassen. Dabei war sie noch ein Kind gewesen und hatte wahrscheinlich gar keine andere Wahl gehabt. Ich verzieh ihr. Fast. Ich durfte nur nicht daran denken.



»Ich bin Catcherin«, sagte ich.



»Catcherin?«, sagte sie. Ich konnte nicht erkennen, ob das Gesicht hinter der Maske »Spitze« oder »Scheiße« sagte.



»Hat Ma dir das nicht erzählt?«



»Ich habe ihr nur mit Mühe und Not deine Adresse abschwatzen können«, sagte sie. »Sie ist nicht sehr hilfsbereit, hm?«



»Hilfsbereit!« In meiner Brust machte es peng, und dann saß ich schon wieder auf dem Hintern. »Ich beknie sie seit Jahren«, sagte ich. »Seit Jahren. Seit Ewigkeiten. Ich war immer überzeugt, dass sie wusste, wo du wohnst. Aber meinst du, sie hätte es mir gesagt? Sie hätte sich lieber eine hungrige Ratte in den Schlüpfer gesteckt. Nenn das Weib nicht Mutter. Sie ist keine Mutter.«



»Ach, Eva«, sagte sie. »Nimm’s nicht so schwer.« Sie gab mir ein Taschentuch. »Jetzt sind wir doch wieder zusammen.«



Zusammen hatte sie gesagt. Das hätte mir fast den Rest gegeben. Ich putzte mir die Nase.



»Wir wollen uns das Wiedersehen nicht durch Ma verderben lassen«, sagte sie. »Komm, gehen wir etwas trinken. Gehen wir feiern.«



Der richtige Satz zur rechten Zeit. Ich konnte es kaum erwarten, vom Schrottplatz zu kommen. Seit Simone da war, kam es mir wirklich so vor, als ob ich auf einer Müllhalde wohnte. Außerdem hatte ich Durst, und ich brauchte eine kleine Stärkung.



Sie fand meine wattierte Jacke. Das machte mich irgendwie traurig. Ich hatte mir immer vorgestellt, wenn wir uns eines Tages wiederfänden, würde ich ihr helfen und nicht umgekehrt. Außerdem hätte ich es lieber gesehen, wenn es meine schöne Lederjacke gewesen wäre, die Motorradjacke mit den vielen Fransen und Schnallen, die ich irgendwo verloren hatte. In der Jacke machte ich etwas her, darin sah ich nicht so aus wie »Made in Taiwan«.



Weil die Regentropfen wie Pistolenkugeln vom Himmel prasselten, zogen wir den Kopf ein und rannten die Mandala Street hoch bis zum Fir Tree Pub. Erst als wir ankamen, fiel mir wieder ein, dass Simone ein Auto hatte. Aber sie schüttelte bloß die Tropfen aus den Haaren und lachte. »Das habe ich vor lauter Aufregung ganz vergessen«, sagte sie. »Weißt du noch, dass ich mich als Kind vor Gewittern gefürchtet habe? Wir haben uns immer unter dem Bett versteckt. Dabei hattest du gar keine Angst.«



»Nein«, sagte ich. »Ich kann Blitz und Donner gut leiden.« Das stimmt. Das war schon immer so. Ich mag es, wenn es rumst und kracht. Früher mochte ich es sogar noch mehr. Wenn das Wetter echt beschissen war, konnte Ma keine Kerle anschleppen, und wenn wir aufwachten, torkelten keine besoffenen Penner im Netzunterhemd und mit der Kippe im Mundwinkel durch die Woh