Licht über weißen Felsen

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Als Wakiya zum Haus zurückkam, war Margot Adlergeheimnis froh, dass das Kind richtig und ohne Verzögerung eingekauft hatte.

Die Familie aß am blanken Küchentisch. Da ein Unwetter drohte, wurden David und Byron nicht zu Bett gebracht, sondern lagen angekleidet auf einer Couch im Wohnzimmer unter einer Wolldecke. Auch Margot und Ed gingen nicht schlafen. Mäntel und Koffer wurden bereitgelegt. Der Radioapparat war eingeschaltet und brachte von Zeit zu Zeit Nachrichten über den Weg, den der Wirbelsturm nahm. Nun hofften alle, dass sein Zentrum an der Reservation vorbeigehen würde und man nur die Ausläufer zu fürchten habe.

In der Nacht brach das Unwetter mit unheimlicher Gewalt los. Der Sturm tobte gegen die Holzhäuser, die ihm lästig im Wege lagen, Bäume knickten zusammen; ihr wehrloses Ächzen erschreckte die Menschen. Das Haus zitterte; auf dem Dach splitterte und krachte es; niemand wusste, was da geschah. Mit Geklirr brach ein Fenster in die Stube herein; der Sturm hatte es mit einer Kiste eingeschlagen. Wer konnte sagen, woher er sie gebracht hatte? Die Sirenen der Feuerwehr wollten gegen das Brausen des Sturmes anheulen, aber sie klangen nur schwach und verweht, als ob die Töne fortgeschleppt würden von den Häusern der Menschen über die wilde Prärie. Durch das zersplitterte Fenster sah Wakiya draußen Feuerschein. Ein Haus brannte.

Margot Adlergeheimnis betete zu Gott und Wakantanka, zu allen Heiligen und allen guten Geistern um ihren Mann und um die Kinder. Sie betete laut, aber ihre Stimme mischte sich mit dem zischenden Fauchen, mit dem die Luft durch das gewaltsam geöffnete Fenster hereinschoss, und die Worte waren nicht zu hören. Wasser brach vom Himmel. Der Feuerschein erlosch. Es platschte, der Regen kam durch das Fenster und das halb abgedeckte Dach. Auf dem Boden schwamm das Wasser. David zog die Decke über den Kopf, aber schon sickerte es durch.

Da der Sturm etwas nachließ, schienen die Sirenen lauter zu heulen. Auf der Straße wurde geschrieen und gerufen. Margot versuchte, die Tür zu öffnen, aber dagegen stand die Macht des Sturmes noch zu stark. Sie schaute durch ein kleines Fenster: Die Straße war ein Bach geworden, das Gärtchen war verwüstet.

Noch einmal setzte der Sturm an. Das Haus bebte in seinen Fugen, die Möbel rückten sich selbst vom Platz. Das Radio war längst abgeschaltet, und kein Licht durfte brennen. Die vier Menschen drängten sich im Dunkel zusammen.

»Jesus, Maria und alle Geheimnisse, möge in dieser Nacht niemand draußen sein!«

Wakiya dachte an Inya-he-yukan. Das war ein Mann, der eine solche Nacht bestehen konnte.

Wakiya dachte auch an Mutter und Geschwister. Die Blockhütte war fester und lag besser geschützt als die bunten, leichten Geisterhäuser, und in der Blockhütte gab es keine Möbel, die wie Bälle herumrollen würden, außer dem eisernen Ofen, diesem Erzeugnis der Geisterwelt. Wakiya blieb ruhig; er fürchtete sich nicht.

Endlich ließen Sturm und Regen nach. Margot machte sich daran, das Wasser vom Boden zu wischen.

Schon meldeten sich auch die ersten Flüchtlinge aus Häusern, die zerstört oder deren Dach ganz abgedeckt war. An Schlafen konnte niemand denken.

Erst als der Morgen kam, wurde man sich recht bewusst, was alles geschehen war.

Der Schaden am Haus Crazy Eagle gehörte zu den geringsten. Nachbarn und Freunde kamen und halfen, die Löcher im Dach zunächst notdürftig zu decken. Für zwei Wochen war in der Siedlung genug Arbeit dieser Art. Von Familie zu Familie gingen die Nachrichten, ob die Menschen noch lebten und heil seien. Von dem Busausflug zu dem Laden sprach niemand mehr. Der Wagen Margots war samt der Garage beschädigt, und sie konnte Wakiya noch nicht heimfahren.

So blieb er zunächst im Haus Crazy Eagle und mit David zusammen.

Da er schon einmal zuverlässig eingekauft hatte, schickte ihn Margot in den nächsten Tagen ein paarmal allein oder mit David zu dem Laden. Ihre Lebensmittelvorräte waren durch das Wasser verdorben.

Kunden des Supermarktes waren sowohl Geister als auch Menschen. Wakiya-knaskiya hegte nicht die Hoffnung, Inya-he-yukan dort noch einmal zu begegnen. Aber er lauschte aufmerksam auf alles, was bei der redseligen Kassiererin gesprochen wurde, und Margot Crazy Eagle wunderte sich zuweilen und wunderte sich doch nicht, dass er so lange ausblieb. Indianer waren immer reich an Zeit, und woran sie reich waren, das verschenkten sie auch großzügig.

Wakiya lernte bei seinen Kundschaftsgängen, auf englische Worte genau zu achten. Doch musste er David noch oft um Hilfe bitten, wenn er die Namen und den Zusammenhang der Sätze verstehen wollte.

»Was um Himmels willen wird aus Queenie Halkett geworden sein! Sie ist am Abend vor dem Sturm mit ihrem alten Ford hier durchgefahren. Sie kann nicht rechtzeitig zu Hause gewesen sein. Die Ranch liegt weit entfernt …«

»War denn das Mädchen allein?«

»Allein im Wagen! Es hätte sie doch einer von der Familie abholen können. Die Indianer sind oft zu leichtsinnig.«

»Aber die Halketts sind solide Rancher.«

»Sicher, sicher, aber …«

»Wo steckt denn Harold Booth?«

»Wo soll er stecken? War doch noch hier am Abend.«

»Eben. Aber die Ranch der Booths liegt auch nicht in der Nähe.«

»Ist nicht Joe King noch gesehen worden?«

»Dem kann nichts lieber sein als eine dunkle Nacht!«

»Die Booths und die Kings sind sich schon lange feind.«

»Haben Sie gehört? Der alte Halkett war da.«

»Lebt Queenie noch? Es wird ihr doch nichts zugestoßen sein?«

»Nichts passiert. Das Auto läuft auch schon wieder. Aber in der Prärie liegen Tote …!«

»Ein Haufen Toter …?«

»Nein … einer.«

»Nein, zwei sollen es sein. Runzelmann soll das erzählt haben.«

»Drei, hat Halkett gesagt!«

»Verunglückt?« Achselzucken.

»Was … nicht?«

»Doch nicht etwa ermordet?«

»Erschossen?«

»Erstochen?«

»Himmel und Hölle! Wozu haben sie den Burschen wieder freigelassen?«

»Wissen sie schon, wer die Toten sind?«

»Nein? – Keine Hiesigen? Wo kommt das Gesindel auf einmal her?«

Das alles fing Wakiya-knaskiya auf. Er hatte keine Eile, sich heimfahren zu lassen zur Mutter, obwohl der Wagen längst wieder in Ordnung war. Margot Crazy Eagle und David glaubten, dass Wakiya sich in ihrem ordentlichen Hause mit Wasserleitung und weißem Kinderbett wohler fühlte als daheim. Sie täuschten sich. Er hatte andere Gründe auszuharren.

Ed Crazy Eagle, der Vater, sagte nichts zu der Sache; stillschweigend gab er die Erlaubnis, dass Wakiya noch in der Siedlung blieb. Die Mutter, die zum Einkaufen in die Siedlung kam, widersprach nicht.

Wakiya kannte sich in seiner neuen Umgebung schon aus. Er wusste, in welchem Hause der Superintendent, der allmächtige Vater der Reservation, seinen Sitz hatte, wo die übrigen halbmächtigen Geister zwischen Stühlen und Schreibtischen zu finden waren, wo der Stammesrat tagte, wo das Gerichtshaus des Stammes und wo das kleine Gefängnis standen, in dem die Mutter hatte büßen sollen, dass Wakiya unentschuldigt von der Schule ferngeblieben war.

Wakiya war viel unterwegs, und wenn Ed Crazy Eagle, der Blinde, Zeit hatte, erlaubte er dem Kind, seine Fragen zu stellen. Die beiden saßen sich dann am Tisch im Wohnzimmer gegenüber. David hörte gespannt zu.

»Vater Ed Crazy Eagle! Sind Indianer dümmer als Geister?« Wakiya musste mit dem Blinden englisch sprechen, und er hatte sich schon daran gewöhnt, dass in dieser Straße Menschen »Indianer« und Geister »weiße Männer« hießen. Doch brachte er dies auch zuweilen noch durcheinander, nicht ganz ohne Absicht.

»Sie sind nicht dümmer, Kind.«

»Warum haben uns die Geister besiegt?«

»Weil wir unseren klugen Kopf noch nicht richtig gebraucht haben. Es nützt nichts, wenn einer ein Pferd hat. Er muss es auch reiten können.«

»Wie können wir lernen, unseren Kopf richtig zu reiten?«

»In der Schule.«

Wakiya war mit dieser Antwort nicht zufrieden. »Dort lerne ich aber nicht alles, was ich wissen möchte.«

»Was möchtest du wissen, Wakiya?«

»Alles über Tashunka-witko, unseren Häuptling.«

»Der Große Vater in Washington hat ihn den größten Reiterführer aller Zeiten genannt.«

»Ist Tashunka-witko in die Geisterschule gegangen?«

»Nein.«

»Hat er seinen Kopf nicht richtig gebraucht?«

»Er hat nicht gewusst, wie groß die Zahl der weißen Männer ist. Weil er nicht in die Schule gegangen ist.«

»Aber hat er gewusst, was recht ist und was unrecht ist?«

»Das wusste er, Byron Bighorn.«

»Wissen die weißen Männer immer, was recht und was unrecht ist?«

»Sie haben dicke Gesetzbücher, darin steht das geschrieben.«

»Steht darin geschrieben, dass unser Land ihnen gehört?«

»Ja, auch das.«

»Ist das recht oder ist es unrecht?«

»Eure Väter haben viele Männer des Absaroka-Stammes getötet und ihnen Prärie und Büffel weggenommen. War das recht oder war es unrecht, Byron Bighorn?«

Wakiya überlegte lange. »Sie haben aber mit gleichen Waffen gekämpft, darum ist es nicht schändlich gewesen.«

»Du könntest ein Rechtsanwalt werden, Byron Bighorn!«

Des Nachts, als alle schon in ihren Betten lagen, sagte Ed leise zu Margot, und er bemerkte nicht, dass Wakiya noch nicht schlief: »Wakiya ist unglaublich begabt und aufgeweckt. Wenn ich nur wüsste, was man für ihn tun könnte.«

»Er ist epileptisch, Ed.«

»Ich weiß. Das ist schlimmer als blind, weil man die Anfälle nie berechnen kann.«

Wakiya lag in dem weißbezogenen Kinderbett, und als er die anderen endlich schlafend atmen hörte, ließ er die Tränen in seine geöffneten Augen treten.

 

Am nächsten Morgen spähte er aus einem versteckten Winkel, den er sich ausgesucht hatte, wieder einmal über die Agenturstraße. Der Gefangenenwagen der Polizei fuhr vor das Gerichtsgebäude. Der große und der kleine Polizist, die Wakiya schon kannte, stiegen aus, öffneten und schafften Joe King in Handschellen in das Gebäude.

Wakiya-knaskiya hatte genug gesehen. Er lief zurück in das Haus Crazy Eagle, suchte in Davids Bilderbüchern herum, ohne David, der dabeisaß, zu beachten, und blieb mit seiner Aufmerksamkeit an einem Kinderbuch hängen. »Two Feet« hieß es. »Zweifuß« war ein Indianerjunge, der einem Mustang half, und dieser half wiederum dem Jungen.

Wakiya las das ganze Buch sich selbst laut vor. Es waren viele Bilder darin und wenige Wörter in großen Buchstaben; damit kam er schon zurecht. Margot hörte zu, störte Wakiya nicht, war aber besonders freundlich zu ihm, weil sie glaubte, dass er lernen wollte. Er zielte aber nur darauf, an diesem Tag Lob zu ernten, damit Vater Ed Crazy Eagle am Abend freundlich gestimmt wäre.

Das erreichte er allerdings nicht so vollständig, wie er es sich gewünscht hatte, denn Ed kam sehr ernst und sehr müde nach Hause.

Um ihn aufzumuntern, erzählte Margot, wie eifrig sich Byron im Lesen geübt habe.

»So wirst du jetzt doch Englisch lernen und keinen Menschen töten!«

Ed Crazy Eagle hatte die merkwürdige und erschreckende Antwort Wakiyas aus einem früheren Gespräch offenbar noch im Gedächtnis.

Was aber während seines Arbeitstages dem blinden Richter die neue Anknüpfung an solche Gedanken gegeben hatte, konnte Wakiya nicht wissen. Das Kind benutzte jedoch die Bemerkung des Erwachsenen, um zu seinen eigenen Fragen überzuleiten.

Da Vater Ed mit seiner Frage die Erinnerung an Theodore Teacock und an Joe King aufrührte, sprang Wakiya sofort und in gutem Englisch darauf an.

»Ist es wirklich wahr, Vater Crazy Eagle, dass Joe King im Gefängnis die schöne Sprache unserer Welt gelernt hat?«

»Wie kommst du denn auf solche Worte, Byron! Bist du schon ein Redner geworden?«

»Mr Teacock hat es so gesagt.«

»Ah – damals – und daher die wohlgesetzte Floskel. Schöne Sprache unserer Welt! Ja, Joe King hat wahrhaftig Englisch gelernt, nicht einmal das schlechteste. Wer weiß, wem er im Gefängnis begegnet ist.«

Wakiya-knaskiya, dem es gelungen war, Vater Ed Crazy Eagle auf das gewünschte Thema zu bringen, raffte allen Mut zusammen. Er wollte nicht so feige sein, seinen Freund zu verleugnen, auch wenn es hier schwer war, von ihm zu sprechen.

»Was macht ihr nun mit Inya-he-yukan?«

»Wen meinst du?«

»Joe King.«

Ed Crazy Eagle, der Blinde, horchte auf den Ton in Wakiyas Worten. Da gärte mehr als Neugier. Wie sollte er sich nun dem Kind gegenüber verhalten? Das beste war wohl, ihm zu antworten, wie er auch einem Erwachsenen auf diese Frage geantwortet hätte. Margot strich ihrem Mann warnend über die Hand, aber Ed ließ sich nicht abhalten.

»Joe King ist wieder frei. Die erschossenen und erstochenen Banditen, die Vater Halkett gefunden hat, gehen uns nichts an. Sie sind als üble Gangster identifiziert. Kämpfe der Gangster untereinander. Das ist eine Welt für sich und keine schöne. Wir forschen nicht weiter nach. Was aus Harold Booth geworden ist, wissen wir nicht. Er ist verschwunden. Aber es gibt keine Beweise dafür, dass Joe ihn getötet hätte. Joe King wird übrigens Queenie Halkett heiraten.«

»Was?!« Margots braune Antilopenaugen weiteten sich erstaunt und entsetzt.

Ed lächelte kummervoll. »Unser schönstes und tüchtigstes Mädchen hier. Sie hat ein ausgezeichnetes Zeugnis über den Abschluss der elften Klasse der Kunstschule für Indianer. Aber gegen die Liebe ist kein Kraut gewachsen.«

»Hat Joe denn Arbeit?«

»Damit wird es schwer. Die Angelhakenfabrik will ihn nicht haben. Vater Halkett nimmt einen Joe King nicht bei sich auf. Das junge Paar wird wohl auf die Ranch zu dem alten King ziehen müssen.«

»Zu dem Trinker? Schrecklich!« Ein neuer Seufzer von Margot über die böse Welt klang in den Worten mit.

Ed zuckte die Achseln. »Was willst du machen?«

Bis zum nächsten Morgen war Wakiya-knaskiya auch alles aus diesem Gespräch klar, was er zunächst nicht genau verstanden hatte. Er bat darum, dass er wieder heimgehen dürfe zur Mutter, und Margot verstand diesen Wunsch und brachte das Kind mit dem Wagen so weit, dass es das letzte Stück des Heimwegs laufen konnte, ohne dass sie sich Sorgen darum zu machen brauchte.

Wakiya-knaskiya rannte die verbleibende Strecke zu der kleinen Blockhütte in der freien Prärie. Er fiel der Mutter um den Hals, und Eliza Bighorn weinte und lachte, weil ihr ältester Junge wieder bei ihr bleiben wollte. Die Geschwister zogen an ihm mit Händen und Fragen; er sollte ihnen erzählen, was er bei den Geistern erlebt hatte.

Und er erzählte.

Aber nicht von Inya-he-yukan.

Das Bild dieses Mannes, das sein Denken und Träumen im Wachen und Schlafen bestimmte, kam erst einige Wochen später und auf unvermutete Weise mit Wakiyas Wirklichkeit in Berührung.

Bis dahin verlebte, verspielte und durchdachte Wakiya seine Ferienwochen auf eine ihm selbst ungewohnte Weise. Er war zwar noch ein Kind, ein Kind mit einem sehr schlechten Zeugnis, ein krankes Kind, ein Kind armer Leute, Kind eines besiegten und unterworfenen Volkes und vaterlos. Aber er hatte die Augen, die er suchte, wiedergefunden. Inya-he-yukan hatte mit ihm wie mit einem Bruder gesprochen, und Ed Adlergeheimnis hatte ihm geantwortet, wie man einem Mann Antwort gibt.

Wakiya saß jetzt oft mit seinen Geschwistern zusammen, und da er seinem kleineren Bruder, der im Herbst in die Schule aufgenommen wurde, vieles zu erklären hatte, merkte er, dass auf Schritt und Tritt immer neue Rätsel auf seinem Weg lagen.

Wer war Ed Adlergeheimnis? Er war als ein Mensch geboren aus dem Stamm der Cheyenne. Aber er hatte auf der hohen Schule die Tücken und Schliche der Geister gelernt, so hatte die Mutter Wakiya erzählt, und die Mutter log nicht. Ed Crazy Eagle war Inya-he-yukans Feind; Inya-he-yukan hatte ausgespuckt, als er den Namen hörte. Ed Crazy Eagle glaubte, dass Inya-he-yukan ein Dieb und Mörder sei, aber das war eine Lüge. Vielleicht hatte Inya-he-yukan Feinde getötet, vielleicht hatte er im Kampf diese bösen Feinde besiegt und getötet, die erstochen und erschossen in der Prärie lagen. Aber Inya-he-yukan stahl und mordete nicht.

Wakiya hatte mit Ed Crazy Eagle gesprochen, wie man mit einem Feind verhandelt. Ed mochte ein tapferer und achtbarer Feind sein, doch musste man immer aufmerksam bleiben und sich vor ihm hüten. Aber was war dieser Feind in Wahrheit? Als Mensch geboren und ein Geist geworden! Menschen konnten also Geister werden. Das hatte Wakiya bis dahin noch nicht gewusst. Vermochten aber auch Geister Menschen zu werden?

Wakiya fragte die Mutter, und die Geschwister hörten zu.

»Ich habe noch keinen Geist gesehen, der ein Mensch wurde. Aber euer Leben ist länger als meines. Schaut euch um, und wenn ihr einen gefunden habt, so sagt es mir.«

Wakiya-knaskiya wollte sich umsehen.

Das hatte Zeit.

Er dachte noch nicht an das Ende der Ferien. Er lebte in der Prärie, lag im engen Blockhaus auf einem harten Bett, lief barfuß über Büschelgras und Kakteen und saß oft stundenlang in seinem Versteck, um nachzudenken. Morgens und abends aß er die schlechte Kost, die die Mutter für das Wohlfahrtsgeld kaufen konnte. Wakiya kannte jetzt schon die dicke blonde Frau, bei der die Mutter das Geld holte. Sie hatte mit Wakiya Spaß gemacht und ihm einen roten Radiergummi geschenkt, weil er ihm gefallen hatte. Von seiner Krankheit spürte Wakiya in dieser Zeit nichts. Er konnte mit dem jüngeren Bruder um die Wette laufen und ihn ins Gras werfen.

Dann kam der Tag, an dem sich das Überraschende und Überwältigende ereignete.

Es war in aller Frühe, und Wakiya hatte eine alte, kurze Leinenhose an. Sie war schmutzig und längst zu klein geworden, aber um die Lenden reichte sie eben noch. Die Sonne kam zur Prärie kaum vier Stunden nach der Mitte der Nacht. Der Himmel wurde glühend rot, golden und blau. Wakiya und seine Geschwister aßen Schwarzbrot und tranken Wasser, aber nicht zuviel, denn der Rest im Eimer sollte noch bis zum nächsten Tage reichen. Waschen konnten sie sich heute nicht. Sie huschten umher und spähten. Heimlich fragten sie sich, ob sie nicht einmal einen Fasan fangen konnten. Seit der Vater gestorben war, hatten sie keinen Fasan mehr gegessen. Das Jagdgewehr hing unbenutzt an der Wand, aber die Mutter reinigte es noch immer von Zeit zu Zeit.

Wakiya war mit seinen Geschwistern auf einen Hügel gelaufen; alle drei lagen auf dem Bauch und hielten Ausschau.

Sie entdeckten keinen Fasan, aber sie entdeckten einen Jungen und ein Mädchen, die Hand in Hand näher kamen. Wakiya erkannte David Adlergeheimnis und Susanne Wirbelwind.

Beide steckten in Feiertagskleidern, in besseren Kleidern noch, als sie sie in der Schule zu tragen pflegten. David hatte sogar einen Cowboyhut auf. Das passte zu ihm, da er ja den Namen eines jungen Cowboys erhalten hatte, der einen Riesen mit einem einzigen Stein getötet hatte. Susanne Wirbelwind trug ein schneeweißes Kleid, zart wie die weiße Rose, die jetzt auf der Prärie blühte. Susanne war zierlich gewachsen, hatte eine dunkelbraune Haut und langes Haar.

Wakiya-knaskiya wurde es warm ums Herz vor Bewunderung. Er floh sofort, weil Susanne seine alte Leinenhose nicht sehen sollte. Die Geschwister rannten hinter ihm her. In der Hütte stieß Wakiya nur zwei Worte hervor, um die Mutter von dem bevorstehenden Besuch zu unterrichten, und fuhr dann in die neue Hose, die – zu seinem Leidwesen musste er es sich selbst eingestehen – immer noch zu weit war. David und Susanne kamen etwas später an, ernsthaft und sehr schüchtern.

Die Mutter begrüßte die beiden Kinder in der Hütte, ohne sich ihr Erstaunen anmerken zu lassen.

David trug vor, was die beiden ausrichten sollten. Er hatte auch einen Zettel dabei, auf dem Mutter Margot vorsorglich einiges aufgeschrieben hatte, aber Eliza Bighorn konnte das doch nicht lesen, und David war zu stolz, die Hilfe zu benutzen; er wusste alles auswendig.

»Mein Vater Ed Adlergeheimnis und meine Mutter Margot Adlergeheimnis und Vater und Mutter Wirbelwind …«

Pause.

» … bitten dich, Mutter Eliza Bighorn, deinem Sohn Wakiya-knaskiya zu erlauben …«

Pause.

» … deinem Sohn zu erlauben …«

Pause.

» … heute mit uns nach New City zu fahren.«

»Was sagst du da, Wakiya nach New City?«

»Ja. In New City findet ein Rodeo statt.«

»Ein Rodeo?«

»Ja. Wir glauben, dass einer von unserem Stamm einen Preis gewinnen kann, und deshalb fahren wir alle hin, und Sie, Mutter Eliza Bighorn, sollen auch mitkommen.«

Pause.

David schaute nun doch auf seinen Zettel. Eliza Bighorn hatte ihn aus dem Konzept gebracht.

»Wenn Sie aber nicht mitkommen möchten, Mutter Bighorn, so bitten wir Sie, doch zu erlauben, dass wir Wakiya-knaskiya mitnehmen.«

»Es geht dem Jungen jetzt gut. Er könnte mitfahren. Aber er kann doch nicht mitfahren, denn seine Hose ist nicht gut genug.«

David seufzte. Darauf fand er auf dem Zettel keine Antwort.

Pause.

David raffte sich auf.

»Es könnte aber sein, dass einer aus unserem Stamm einen Preis gewinnt. Deshalb fahren wir alle hin.«

»Wie soll denn einer aus unserem Stamm einen Preis gewinnen! Die Geister haben die besseren Pferde und das bessere Essen, so dass sie stärker werden als wir, und sie haben das Geld, und das Rodeo ist für die Cowboys teuer. Wer von unseren jungen Männern soll sich denn wohl für ein Rodeo geübt haben und das Geld einzahlen können und einen Preis gewinnen!«

»Joe King.«

Das stand auf dem Zettel. Wakiya ließ es sich zeigen.

»Mutter – darf ich?«

»Ja, dann geh eben mit. Willst du nicht deine Schuhe anziehen?«

Wakiya schüttelte den Kopf.

Die drei Kinder rannten miteinander los. Der Weg bis zur Straße und zum Auto war weit genug. Margot Crazy Eagle wartete mit ihrem Wagen. In den feinen Falten um ihre Augen lächelte es, als sie Wakiya-knaskiya mitkommen sah. Den Jungen einzuladen, war der Gedanke ihres Mannes gewesen. Ed Crazy Eagle selbst kam nicht mit, weil er blind war.

Margot traf mit ihrem Wagen in der Agentursiedlung die Familie Whirlwind, die mit dem eigenen fuhr. Da aber Susanne nun einmal bei David saß, blieb sie auch dort. Wakiya hatte den Platz neben Margot, die steuerte; den zweiten Wagen steuerte Vater Whirlwind, ein gesetzter, verbissen wirkender Mann mit brauner Haut. Die Straße war schon belebt. Viele wollten das Rodeo besuchen und der Wochenendlangeweile auf diese Weise entgehen. Wakiya, der die Augen offen hielt, entdeckte die dicke Wohlfahrtsfrau, die ihm den roten Radiergummi geschenkt hatte. Sie fuhr einen großen Wagen, in dem sich eine Menge anderer Geister befanden. Der Privatwagen des Superintendenten und seiner zarten Frau zog ohne Mühe vorbei. Ein alter Ford kam angerattert und hielt tapfer das Tempo der Übrigen.

 

»Halketts!«

Inya-he-yukan war nicht zu entdecken, auch nicht seine junge Frau Queenie, die zu sehen Wakiya zugleich wünschte und fürchtete. Als Teilnehmer des Rodeos war Joe King vielleicht schon einen Tag früher nach New City gefahren.

Oder geritten?

In Wakiya summte und surrte es wie in einem aufgestörten Bienenstock. Was würde er erleben? Zum ersten Mal fuhr er aus der Reservation hinaus.

Er fuhr durch Prärie, und an nichts war die Grenze der Reservation zu erkennen.

Er fuhr durch Prärie, durch einsames, leeres Land. Einmal sah er Vieh, das sich an einem halb ausgetrockneten Bach zusammengefunden hatte. Einmal sah er ein Zelt, in dem keine Menschen wohnten, und eine Bretterwand. Margot Crazy Eagle erklärte, dass diese Bretterwand ein Fort darstellen sollte, das Zelt aber das Tipi des Crazy Horse. Einige Geister standen an dem Kassenhäuschen, und der Name Crazy Horse war groß angeschrieben. Crazy Horse nannten die Geister den ermordeten Häuptling Tashunka-witko, weil sie nicht wussten, dass ein »Mustang-Geheimnis« nicht ein »verrückter Mustang« war. Sie wussten auch nicht, wo der Häuptling begraben lag. Die Geister wussten vieles nicht, doch gaben sie stets vor, alles zu wissen. Darum hatte es keinen Zweck, dass die Menschen ihnen etwas zu erklären versuchten. Die Geister wollten nicht von den Menschen lernen. Das hatte der Vater gesagt.

In der Ferne tauchte die Stadt auf, die erste Stadt, die Wakiya in seinem Leben sah. Als sie hineinfuhren, erschien sie ihm nicht verwunderlich. Die Holzhäuser mit ihren Vorgärtchen sahen aus wie die in der Agentursiedlung, einige waren schlechter, einige ganz verfallen; es gab aber viel mehr davon. Dann kamen auch große Häuser in Sicht mit Aufschriften, die Wakiya so schnell nicht lesen konnte. Er hörte aber, wie David Susanne vorlas: »Postamt«–»Bank«–»Rathaus«–»Schule«. Diese Häuser waren aus Stein und höher als die anderen.

Auf der Straße liefen die meisten Geister mit Cowboyhüten herum, und einige waren ganz und gar als Cowboys angezogen. Wakiya fragte sich, ob einer von ihnen einen Riesen mit einem einzigen Stein hätte töten können. Über die Mädchen mit Cowgirlhüten und Cowgirlblusen musste er lachen.

Die Wagen erreichten das Rodeogelände. Jeder Fahrer suchte einen guten Parkplatz, und die Leute stiegen aus.

Das Zuschauergelände auf grünem Rasen senkte sich hinunter zu der Arena, in der die Wettkämpfe stattfinden sollten.

David und Susanne liefen zusammen zu dem weißgestrichenen, mannshohen Zaun, der die Arena umgrenzte. Vielleicht glaubten sie, dass Wakiya hinter ihnen herkäme, vielleicht dachten sie in diesem Augenblick auch nicht an ihn.

Er blieb stumm stehen.

Margot Crazy Eagle legte ihm die Hand auf die Schulter.

»Komm, wir gehen zu der Bude, dort kannst du dir Würstchen oder Eis kaufen.«

Wakiya schüttelte den Kopf, machte sich unversehens los und lief weg.

Er hatte einen Baum entdeckt, in dessen Zweigen bis jetzt nur ein einziger Junge saß. Der Baum versprach aber einen guten Überblick.

Wakiya lief dorthin. Er kletterte geschickt, das hatte er schon mit zwei Jahren gelernt. Der andere Junge hatte sich nicht einmal den besten Platz ausgesucht; er war größer als Wakiya und zu schwer. Wakiya nistete sich in der Gabelung eines Astes ein, der ihn eben noch tragen konnte, und da hockte er, mager, schmächtig, in der zu weiten Hose, barfuß. Seine Augen schauten fragend umher. Er wollte sich nicht betrügen lassen. Er wollte wissen, was hier wirklich geschah, und wollte durch die Geister und durch die Menschen hindurchschauen.

Der erste, an dem sein Blick haftenblieb, war Harold Booth. Das war er doch, der Breitschultrige, der auf der anderen Straßenseite gestanden hatte und dann verschwunden war. Inya-he-yukan hatte ihn nicht getötet. Der Breite ging mit einer Geisterfrau zusammen, die so dick war, wie Wakiya noch nie eine Frau gesehen hatte. Er wollte die beiden nicht weiter beachten. Sie missfielen ihm.

Aber zu den Halketts kam eine junge Indianerin in türkisfarbenem Kleid, um den Hals eine silberne Kette, wie nur Indianerhände sie anfertigten. Diese junge Indianerin war schlank und von schöner Gestalt. So schön konnte Susanne Wirbelwind niemals werden. Queenie musste das sein, die Königin, Inya-he-yukans Frau. Wakiya erschauerte; er fürchtete sich und wusste nicht, warum.

Drunten in der Arena, am Eingang der Teilnehmer an den Wettkämpfen, bei den Verschlägen der Mustangs, tauchte Joe King auf. Er trug den schwarzen Cowboyhut; alles war dunkel an ihm, auch die schwarzen Stulpenstiefel. Nur das Halstuch leuchtete gelb wie die Mittagssonne. Dieser und jener ging zu Joe und sprach mit ihm.

Wakiya starrte hinüber.

War das Joe King? War das Inya-he-yukan? War das ein Geist?

War das ein Mensch?

War das sein Bruder? War das ein Fremder?

War das Joe King?

War das Inya-he-yukan?

War das ein Mörder?

War das ein Dieb?

War das ein Häuptling?

War das ein Cowboy?

Der Vater hatte nie einen Cowboyhut getragen. Der Vater hatte gesagt, die Häuptlinge im Grabe würden sich ihrer Söhne schämen, wenn sie einen Cowboyhut auf ihre schwarzen Haare setzten.

Wer war das, der dort stand? Hatte Wakiya-knaskiya beim Wasserholen damals nur geträumt, wie er mit dem Vater zusammen am hellen Mittag geträumt hatte?

Waren die Augen gefunden?

Waren sie wieder verloren?

Joe King hätte Wakiya-knaskiya im Baume sitzen sehen können, so wie dieser ihn in der Arena stehen sah. Aber er schaute nicht herüber.

Vielleicht dachte er nur an den Preis, den er gewinnen wollte, einen Preis der Geister.

Vielleicht dachte er an Queenie, die so schön war, wie Susanne Wirbelwind niemals werden konnte. Aber an Wakiya und die Geheimnisse dachte er gewiss nicht.

Unter dem Baum, in dessen Geäst Wakiya saß, rührte sich etwas. Wakiya schaute unwillkürlich hinunter. Er schaute in ein Gewirr blonder Locken hinein. Daneben aber war ein Kopf mit kurzem, schwarzem Haar zu sehen, wie eine verbrannte Wiese, dachte Wakiya.

Das Lockengewirr und das Brandfeld krönten zwei Männer, zwei große, schlanke Männer, Cowboygestalten; der Nacken unterhalb der Locken war hell, der unter dem kurzen schwarzen Haupthaar braun.

Die Kopfhaltung der beiden Männer verriet, dass sie genau auf den Punkt starrten, zu dem auch Wakiya unentwegt hinschaute: auf Joe King in der Arena.

Das Brandfeld und der Lockenkopf sprachen nicht miteinander.

Als sie langsam zu der Arena hingingen, fort von dem Baum, schauten sie sich noch ein paarmal um, und Wakiya konnte ihnen ins Gesicht sehen.

Der Mann mit der braunen Haut und den kurzgeschnittenen borstigen Haaren auf dem Kopf war kein guter Mann. Das Gesicht des Mannes mit den Locken war das eines bösen Zaubergeistes.

Wakiya-knaskiya schloss einen Moment die Lider, aber da wurde die Fratze im Dunkeln noch grässlicher für ihn.

Ein Feind ging um, ein böser Geist, und der hatte seinen bösen Blick auf Joe King gerichtet.

Auf …

Inya-he-yukan, bist du unter die Geister gegangen, nur um ihren erbärmlichen Preis zu gewinnen? Einen Mann wie dich werden sie nicht unter sich dulden, sie werden dich verderben.

Wakiya dachte an die Toten in der Prärie. Sie hatten Inya-he-yukan verfolgt, und er hatte sie getötet. Anders war es nicht. Aber da unten auf der Wiese stand ein Anführer der Feinde. Inya-he-yukan, warum bist du unter die Geister gegangen? Mit ihrem Preis haben sie dich gelockt und du bist verloren.