Die Höhle in den schwarzen Bergen

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Tashunka-witko

Gegen Abend ging Mattotaupa mit Harka noch einmal zu den Pferden, um mit dem Jungen allein zu sein. Die beiden standen erst einige Zeit schweigend beieinander. Es war ihnen, als ob sie die Stille der Steppenwildnis rings in sich hineintrinken müssten, nachdem sie den Winter in Städten verbracht hatten, in denen Lärm und Gerüche sie quälten. Unbehindert von menschlichen Bauwerken, auch unbehindert von Wäldern oder Bergen konnte jetzt ihr Blick über die Grassteppe und über die ganze Himmelskuppe schweifen, vom blaudunkelnden Osten über den zarten Goldhauch der Höhe bis in das rotglühende Feuer der sinkenden Sonne im Westen. Die spitz zulaufenden Zelte am Bach warfen lange Schatten, das Wasser glitt lautlos, matt schillernd über den Sand dahin. Die meisten Familien hatten sich schon in die Zelte zurückgezogen. Zu den Pferden kamen die beiden Wächter herbei, die die Herde nachts hüten sollten. Der Wind strich sanft über das Gras, zwischen dessen alten gelben Halmen grüne Spitzen keimten, und er streichelte das Haar der Menschen. Es versprach die erste Nacht ohne Frost zu werden.

Mattotaupa musterte die Anordnung der Zelte, die Ufer des Bachs, die Wiesen, die flachen Anhöhen in der Nähe und in der Ferne, die zahlreichen Fährten von Pferden und Menschen bei dem Zeltlager. Harka versuchte gleich dem Vater, sich alle Einzelheiten einzuprägen. Mit besonderer Aufmerksamkeit betrachteten beide immer wieder das Zelt, in dem das Dakotamädchen bis jetzt gelebt hatte; es war das dritte, von dem neuen Zelt Mattotaupas an gerechnet, das am Südende des Dorfes als letztes aufgestellt war. Da Vater und Sohn ihren gemeinsamen Gedankengang bis dahin auch ohne Worte errieten, sagte Mattotaupa jetzt: »Wenn noch einmal ein Kundschafter kommen sollte, so zu diesem dritten Zelt, in dem er das Mädchen vermutet. Es sei denn, dass sie ihm ein Zeichen gibt. Ich glaube zwar, dass ein Dakota, der schon einmal hier gewesen ist, sich nicht zum zweiten Mal einschleicht. Denn wenn er das Mädchen gesprochen hat, weiß er genug, und seine Brüder können sich danach richten. Ich denke weniger an einen zweiten Kundschaftergang, ich fürchte vielmehr einen Überfall.«

»Haben die Häuptlinge der Siksikau und der Dakota nicht vor drei Tagen die Friedenspfeife miteinander geraucht?«

»Häuptling Brennendes Wasser, in dessen Zelten wir zu Gast sind, hat mit dem Häuptling der Zelte, bei denen Dunkler Rauch gefangen war, nach dem Kampf die Friedenspfeife geraucht. Aber du weißt, dass es viele Stämme und Gruppen der Dakota gibt. Ein Mädchen aus dem Zeltlager Tashunka-witkos bleibt nicht freiwillig hier. Vielleicht wird Tolles Pferd mit seinen Kriegern kommen, um uns anzugreifen und die Tochter seines Stammes zurückzuholen.«

Aus dem neuen Zelt Mattotaupas kam eben das Mädchen, von dem er gesprochen hatte, noch einmal heraus und holte Wasser am Bach. Mattotaupa und Harka konnten sie auf ihrem Weg, hin und zurück, beobachten. Sie hielt sich nicht auf, warf nichts zur Erde, ließ nichts liegen. Sie füllte ein Gefäß mit Wasser und nahm es mit ins Zelt, das war alles. Sie hatte auf ihrem Weg nicht nach rechts und nicht nach links geschaut. Nun verschwand sie wieder.

Auf der Wiese östlich des Dorfes saßen zwei junge Krieger und spielten Flöte. Es war eine einfache Weise, und sie galt den Mädchen, die sie liebten und zu einem Stelldichein in der Nacht überreden wollten. Aber die Großmütter in den Zelten hatten wohl überall einen leisen Schlaf, auch in den Zelten der Siksikau, und es war nicht leicht, sie zu überlisten.

»Gehe du jetzt schlafen«, sagte Mattotaupa zu Harka. »Ich begebe mich zu dem Häuptling und bleibe vorerst dort. Du kannst dem Mädchen Nordstern sagen, dass ich nichts mehr essen will, da ich vom Häuptling geladen sei und dort sehr lange bleiben würde. Sie soll sich schlafen legen. Gehe du auch schlafen und stelle dich so, als ob du sehr tief schliefest. Wenn Nordstern wirklich einen Kundschafter erwartet, werden er und sie die scheinbar günstige Gelegenheit nicht ungenutzt vorübergehen lassen. Ich aber bleibe nicht im Zelt des Häuptlings, sondern spähe nachts umher, ob sich ein Feind anzuschleichen versucht.«

»Welches ist unser Zeichen?«

»Ich bin ein Kojote, du bist ein Hund. Wenn wir einander warnen wollen, geben wir dreimal Laut. In Gefahr kläffen oder bellen wir wild.«

»Hau, Vater.«

»Unsere Feuerwaffen bringen wir in das Zelt des Häuptlings, damit sie nicht gestohlen werden, wenn sich ein Kundschafter in unser Zelt zu dem Mädchen einschleicht. Du allein könntest einem Feind doch nicht widerstehen. Du sollst nur das Mädchen belauschen.«

»Hau.«

Die beiden gingen zu ihrem neuen Zelt zurück. Der Sonnenball war schon unter den Horizont gesunken, und die Dunkelheit, in der die Gefahren für Mensch und Tier größer wurden, breitete sich über das Land. In vielen Zelten war das Feuer bereits gedeckt. Sie lagen, von außen her gesehen, ganz im Dunkeln. Bei einigen ließ sich an den Ritzen noch der Feuerschein im Innern erkennen; dazu gehörte auch das Zelt des Häuptlings. Dorthin begab sich Mattotaupa, und Harka brachte ihm alle Feuerwaffen dorthin. Dann lief er wieder zu dem Zelt am Südende.

Es war im Innern des Zeltes recht düster, denn Asche lag über der Glut. Das Mädchen saß still im Hintergrund. Sie hatte die Hände in den Schoß gelegt, da nichts mehr zu tun war, wenn der Herr des Zeltes nicht neue Befehle gab. Harka richtete aus, was Mattotaupa ihm aufgetragen hatte, und bezog dann seine angenehme Schlafstatt. Auch das Mädchen kleidete sich aus, legte sich hin und deckte sich zu. Harka schlief schnell ein. Er hatte beschlossen, die ersten Nachtstunden zu einem wirklich tiefen Schlaf zu nutzen. Wer wusste, was später geschehen würde! Um Mitternacht wollte er wieder wach werden. Er glaubte sich darauf verlassen zu können, dass sein Körper seinem Willen gehorchen würde.

Aber das war nicht ganz in dem Maße der Fall, in dem der Knabe es von sich gewohnt war. Nach einer ersten halben Stunde tiefen Schlafes begann er, unruhig von seiner jüngeren Schwester daheim zu träumen, die er sehr geliebt hatte. Er wurde auch einmal wach, öffnete aber die Augen nicht, sondern zwang sich, wieder einzuschlafen. Es quälten ihn von da ab richtiggehende Angstträume. Er sah in der Ferne seine Schwester stehen, die ihn um Hilfe rief; er konnte ihr aber nicht helfen, weil seine Füße fest an den Boden angezaubert waren.

Als er das zweite Mal erwachte, begann er darüber nachzudenken, warum er so schlecht träumte. Er richtete seine Aufmerksamkeit auf seine Umgebung. Erst lauschte er nur. Als er die gleichmäßigen Atemzüge des Mädchens vernahm, die die einer Schlafenden waren, machte er die Augen auf, gewöhnte sich an die Dunkelheit und konnte allmählich dies und jenes in Umrissen erkennen. Es war im Zelt durchaus nichts verändert. Wie lange er allerdings geschlafen hatte, war nur schwer zu sagen, da es weder eine Uhr noch das Signal eines Nachtwächters noch durch die Büffelhautplanen hindurch einen Ausblick auf die Sterne gab.

Der Vater war jedenfalls noch nicht ins Zelt zurückgekommen. Harka hatte keine Lust, ein drittes Mal einzuschlafen. Er begann von neuem zu grübeln. In der Stille der Nacht und im tiefen Dunkel war es am leichtesten, seinen Gedanken nachzuhängen. Er glaubte wieder diesen Namen zu hören: Tashunka-witko. Es gab sehr wenige Geheimnismänner und Häuptlinge bei den Dakota, deren Namen und Einfluss über das eigene Zeltdorf oder eine Gruppe solcher Verbände hinausreichten. Zu diesen wenigen rechneten Tatanka-yotanka, der Zaubermann, und Tashunka-witko, der Häuptling: Sie gehörten beide zu den Dakotastämmen, die die westlichen Prärien bewohnten, und es gab keinen Zweifel, dass sie sich persönlich kannten. Tatanka-yotanka hatte der Ratsversammlung der Bärenbande beigewohnt, die Mattotaupa schuldig gesprochen und verbannt hatte. Diese Tatsache hatte Mattotaupa dem Zauberer der Schwarzfüße nicht mitgeteilt. Aber es war so gewesen. Tatanka-yotanka wusste von Mattotaupa und von Harka, und daher wusste aller Wahrscheinlichkeit nach auch Tashunka-witko von den beiden. Vielleicht hatte auch das Mädchen, das hier im Zelt schlief, schon von Mattotaupa und Harka erfahren, ehe sie in Gefangenschaft geriet. Vielleicht hatte sie sogar dem Dakotakundschafter, der bei ihr gewesen sein sollte, etwas davon gesagt, dass Mattotaupa und Harka hier in den Zelten weilten. Das Mädchen rührte sich in seinen Decken, aber mit den typischen Bewegungen einer Schlafenden.

Harka dachte auch über die Vermutungen nach, die der Vater ausgesprochen hatte. Es war wirklich unwahrscheinlich, dass ein so gewagter Kundschaftergang, der mitten in die Zelte der Siksikau führte, ein zweites Mal unternommen wurde, wenn er das erste Mal geglückt war. Viel eher war mit einem Überfall zu rechnen, oder wenn nicht das, so vielleicht mit einem Versuch, das Mädchen zu befreien.

Nordstern fing offenbar an zu träumen. Sie bewegte sich lebhaft und stieß sogar Laute aus. Harka lauschte angestrengt, um zu verstehen, was sie im Traum sagen wollte. Sie lallte aber nur. Doch jetzt – war das nicht ein Name gewesen? Aber Tashunka-witko hatte sie nicht gesagt. Vielleicht liebte sie irgendeinen jungen Dakotakrieger, der sie in sein Zelt hatte holen wollen, ehe sie die Gefangene der Siksikau wurde. Ihr Traum schien beendet zu sein. Sie atmete sehr tief und lag dann ruhig. Ihre Atemzüge wurden wieder ganz regelmäßig.

Harka ärgerte sich über sich selbst. Dieses Mädchen konnte schlafen, er aber, ein Junge, war zu aufgeregt dazu! Eine Schande war das. Aber ehe er sich nochmals einzuschlafen zwang, musste er sich vergewissern, welche Stunde es war. Er stand nicht auf, ging nicht zum Zeltausgang, weil er das Mädchen nicht wecken wollte. Leise legte er die Decken beiseite, kroch zur Zeltwand, lockerte vorsichtig einen Pflock und schob den Kopf unter der Plane hinaus. Er wollte nach den Sternen lugen. Aber dazu kam er nicht mehr.

 

Eine Hand packte ihn am Hals und würgte ihn, so dass er nicht den geringsten Laut von sich geben konnte. Er griff nach den Fingern der feindlichen Hand, um sie einzeln aufzubiegen, versuchte auch, sich mit den Füßen einzustemmen, aber die Zeltplane, unter der er den Kopf durchgesteckt hatte, war ihm sehr hinderlich. Schon waren auch seine Füße gepackt, und trotz seiner heftigen Gegenstöße wurde ihm eine Fessel um die Fußgelenke gebunden. Die Finger an seiner Gurgel ließen sich nicht wegreißen. Der Mann, der ihn gepackt hatte, war stark. Harka spürte die entsetzliche Angst des Erstickenden, und seine Glieder wurden allmählich schlaff. Es verging eine Zeit, in der er nichts mehr von sich wusste. Er hätte auch nicht sagen können, wie lange er bewusstlos gewesen war, als seine Sinne langsam wiederkehrten.

Zuallererst versuchte er tief Luft zu holen, aber das gelang ihm nicht. Er empfand einen quälenden Brechreiz. Dadurch kam ihm zu Bewusstsein, dass er geknebelt war. Er vermochte kaum zu atmen. Nur wenn er langsam und ruhig Luft durch die Nase einzog, ließ der erstickende Brechreiz nach, und er konnte leben. Er versuchte sich zu rühren, aber die Hände waren ihm auf den Rücken gebunden und die Füße zusammengefesselt. Er war ein Gefangener und befand sich in einer erbärmlich hilflosen Lage. Das Einzige, was er noch zu tun vermochte, war, die Vorgänge um sich herum zu beobachten.

Von fern her erschallte wütendes Geschrei. Das war Kriegsgeschrei! Der Kriegsruf der Dakota gellte von Süden her; wie gut kannte ihn Harka von daheim. »Hi-jip-jip-jip-hi-jaah!« Wie oft hatte der Vater als Kriegshäuptling der Bärenbande diesen Ruf als Erster ausgestoßen. Jetzt waren die, die ihn erhoben, zu Harkas Feinden geworden, und er horchte lieber auf das Rufen und Brüllen der Siksikau, die mit den Dakota auf der Prärie draußen in Kampf geraten sein mussten. Harka war wieder ganz in das Zelt hineingezogen worden. Er sah den Schatten eines schlanken Mannes, und neben ihm sah er das Mädchen, das sich erhoben und angekleidet hatte. Der Mann hatte zu sprechen begonnen: »Uinonah, Tochter der Dakota! Du bist frei und wirst zu uns zurückkehren. Roter Pfeil, der dich liebt, kämpft draußen in der Prärie mit unseren Kriegern zusammen gegen die räudigen Siksikau. Alle Krieger aus den Zelten der Siksikau sind draußen im Kampf. Wir haben diese Stinktiere hier überlistet. Unsere Krieger griffen von Süden an; ich aber kam im Bogen von Norden, um dich zu holen. Du hattest mir recht berichtet. Mattotaupa ist hier, und er hat unsere Krieger aufgespürt und das Dorf gewarnt, so dass wir unvermutet früh auf diese schmutzfüßigen Kojoten stießen: Doch werden wir siegen, und Mattotaupa stirbt durch meine eigene Hand. Hörst du unseren Kriegsruf?«

»Hi-jip-jip-jip-hi-jaah!«, gellte es wieder von der Prärie her, und dawider schallten die Kampfrufe der Siksikau: »Hai-jah-jiep!«

»Komm, Uinonah! Diesen Knaben in Fesseln nehmen wir mit. Er ist ein Kind der Dakota. Er gehört uns. Hau!«

Der Mann kam mit zwei schnellen Schritten zu Harka herbei, wickelte ihn in eine Büffelhautdecke, warf ihn über die Schultern wie eine Jagdbeute und eilte mit dem Mädchen zusammen aus dem Zelt hinaus. Harka konnte nichts mehr sehen, da die Decke auch über seinen Kopf geschlagen war. Während er schwer nach Luft rang, vernahm er noch etwas von dem Kriegsgeschrei, aber es schien, dass Tashunka-witko, der den Knaben erbeutet und das Mädchen befreit hatte, nicht zu dem Kampfgebiet hineilte, sondern in eine andere Richtung, in der er unbeobachtet blieb.

Harka litt allmählich derart an Atemnot, dass er nichts anderes mehr denken, wahrnehmen oder empfinden konnte als: Luft! Luft! Er wusste nicht mehr, wohin er getragen wurde oder wie lange er so fortgetragen wurde, aber da er sich dem Erstickungstod nahe glaubte, schien es ihm unendlich lange.

Als er zu Boden geworfen wurde, fiel er nicht hart. In seiner Qual versuchte er, die Decke, die ihm das Atmen noch mehr erschwerte, von seinem Gesicht wegzustreifen oder sich daraus hinauszuschieben. Er krümmte und streckte sich wie ein Wurm, ohne zu erreichen, was er wollte, und die Anstrengung erschöpfte ihn vollends. Aber da wurde ihm die Lederdecke auch vom Gesicht genommen, und nicht nur vom Gesicht, nein, sie wurde ganz aufgeschlagen, und die kühle Nachtluft strich über seine Haut, die von Angstschweiß nass war. Er machte die Augen auf und versuchte wieder ruhig Luft zu gewinnen, nur ruhig, ganz ruhig, das war die einzige Möglichkeit. Er sah den Sternenhimmel und neben sich die schlanke Gestalt Tashunka-witkos, der ihn weggeschleppt hatte, und er sah auch die Mädchengestalt, alles dunkel, im Nachtschatten zerfließend, denn der Mond schien nicht, und die Sterne flimmerten mit schwachem Licht. Die Geräusche des Kampfes, heisere Schreie waren aus größerer Entfernung noch zu hören. Es fielen aber keine Schüsse: Mattotaupa war wohl ohne seine Feuerwaffen auf Kundschaft gewesen, und nun lagen diese noch im Häuptlingszelt. Die Schwarzfüße mussten die angreifenden Dakota aber ein gutes Stück nach Süden zurückgedrängt haben. Harka dachte an den Vater. Sicher befand er sich bei den kämpfenden Kriegern, und er wusste nicht, wohin sein Sohn unterdessen geschleppt wurde. Harka konnte ihm auch kein Zeichen geben.

Tashunka-witko sagte etwas zu dem Mädchen. Er flüsterte, aber Harka hatte gute Ohren, und bei allem, was jetzt geschah, ging es um sein ganzes Leben. Es ging nicht um seinen Tod, das hatte er schon begriffen, aber um sein ganzes Leben ging es. Er sollte nicht mehr der Sohn Mattotaupas sein; er sollte der jüngere Bruder Tashunka-witkos werden. Das wollte er nicht, und darum lauschte er auf die Worte, die der Dakota zu dem Mädchen sprach, wie auf die Worte eines Todfeindes.

»Diese schmutzfüßigen Hunde drängen die Männer der Dakota zurück. Ich muss meine Krieger unterstützen und kann nicht mehr für dich da sein, Uinonah. Flieh! Du weißt, wohin du zu laufen hast und wo du unsere Zelte findest. Laufe! Lauf!«

Das Mädchen zögerte keinen Augenblick, Tashunka zu gehorchen. Geschwind wie ein Reh floh sie südwärts in die Prärie hinaus. Sie hatte nichts bei sich als das Messer. Die Zelte der Ihren konnten nicht nahe sein. Für das Mädchen war das ein Weg auf Leben und Tod. Aber sie hatte ihn sofort gewählt.

Tashunka-witko bückte sich und nahm Harka den Knebel aus dem Mund. Der Knabe keuchte nach Luft und füllte seine Lunge. Dann schrie er laut auf, und er glaubte, dass Tashunka-witko ihn dafür sofort erstechen oder ihn wieder knebeln würde. Aber der Dakotahäuptling kümmerte sich gar nicht darum, dass der Knabe schrie. Das begriff Harka nicht. Er konnte darüber auch nicht nachdenken. Er musste dem Vater ein Zeichen geben, wo er sich befand. Das war nicht einmal das Wichtigste. Er musste den Vater wissen lassen, wo er Tashunka-witko finden konnte. Darum begann der gefesselte Knabe laut und wütend zu bellen wie ein Hund. Als er eine Pause machte, um Atem zu schöpfen, hörte er, dass Tashunka-witko auflachte und sagte: »Gut!«

Harka war verblüfft. Wenn das, was er tat, dem Feind nützte, handelte er sicher falsch. Was wollte der Dakota damit erreichen, dass er den Knaben schreien und Zeichen geben ließ? Blitzartig wurde Harka das einzig mögliche Motiv klar: Tashunka-witko wollte Mattotaupa und vielleicht noch einige Schwarzfußkrieger aus dem Kampf abziehen und dadurch seinen eigenen Männern Erleichterung verschaffen. Harka verstummte daher, aber es war schon zu spät.

Von Süden her schwirrten bereits die ersten Pfeile gegen den Dakotahäuptling, der aufrecht stehen blieb und mit einem Hohngelächter antwortete, als die gefiederten Geschosse zu kurz gingen und im Grasboden steckenblieben. Aber Harka hörte auch schon schnelle Füße; Schatten tauchten auf, und dann schrillte der Kriegsruf der Dakota, ausgestoßen von einer einzigen kräftigen Stimme: »Hi-jip-jip-jip …«

Das war die Stimme Mattotaupas. In der übermäßigen Erregung des Kampfes hatte er den altgewohnten Kampfruf angestimmt. Aber mitten im Ruf schnürte sich ihm die Kehle zusammen. Er sprang heran, mit Sätzen wie ein Berglöwe, und Tashunka-witko erwartete ihn, das Messer in der Faust. Keiner der beiden dachte mehr daran, Schuss- und Wurfwaffen zu gebrauchen. Harka lag auf dem Rücken am Boden. Aber da das Gelände eben war, konnte er übersehen, was geschah. Tashunka-witko wartete; er hatte die Knie leicht gebeugt. In dem Augenblick, in dem Mattotaupa zum letzten Sprung ansetzte, sprang auch er. Die beiden prallten in der Luft zusammen und stürzten, aber es gelang dabei keinem, den anderen auf den Rücken zu werfen. Sie fielen, von Harka aus gesehen, nach links, so dass Tashunka-witko den rechten, Mattotaupa nur den linken Arm frei behielt. Tashunka wollte mit dem Messer einen tödlichen Stoß führen, aber Mattotaupa fing den Arm seines Gegners ab, und es entwickelte sich ein erbittertes Ringen, dessen Bewegungen zu schnell waren, als dass Harka sie im Dunkeln hätte verfolgen können. Der Junge hatte sich aufgesetzt; daran hinderten ihn die Fesseln nicht. Er spreizte die Knie, krümmte seinen biegsamen Körper zusammen und nagte an seinen Fußfesseln. Wie er dabei feststellte, waren ihm die Füße nur mit einem Gürtel zusammengebunden, und er machte sich daran, mit den Zähnen die Knoten zu lockern.

Der Kampf Tashunka-witkos mit Mattotaupa ging weiter. Die beiden hatten sich voneinander losgerissen und Abstand genommen. Fünf Schwarzfußkrieger waren noch herbeigeeilt, aber Mattotaupa schrie ihnen zu: »Lasst ab! Er ist mein!« Die Siksikau konnten die Worte nicht verstehen, doch die Haltung der beiden Dakota war so, dass sie der Stellung in einem Zweikampf glich, und die Schwarzfüße zögerten einzugreifen. Mattotaupa schleuderte das Wurfbeil, den Tomahawk mit Stahlschneide, aber es gelang Tashunka auszuweichen, und er sprang dabei vor und holte mit der elastischen Keule aus, um Mattotaupas Schädel zu treffen. Mattotaupa ließ sich blitzschnell zur Erde fallen und packte Tashunkas Fuß, um ihn aus dem Stand zu reißen. Das Manöver gelang. Tashunka stürzte, und Mattotaupa saß sofort auf ihm, doch Tashunka zog die Knie an, bäumte sich und schnellte sich weg. Er floh jedoch nicht. Er war schon wieder auf den Füßen und ging mit dem langen spitzen zweischneidigen Dolch auf seinen verhassten Gegner los. Mattotaupa gab sich den Anschein, als ob er fliehe, und Tashunka schleuderte das Messer, um seinen Feind in den Rücken zu treffen. Damit musste Mattotaupa gerechnet haben, denn er machte eben in diesem Augenblick einen Satz zur Seite, so dass das Messer ins Gras flog. Tashunka, der diese Waffe nicht verlieren wollte, sprang danach; dabei kam ihm Mattotaupa in den Rücken und schlang die Arme um ihn, presste ihm Oberarme und Rippen mit seiner gewaltigen Kraft zusammen.

Harka jauchzte auf, denn er erinnerte sich in diesem Augenblick daran, wie der Vater einst einen Bären bezwungen hatte. Jetzt gehörte der Sieg Mattotaupa, dessen war sich der Knabe gewiss. Aber die Schwarzfußkrieger, die herbeigeeilt waren, dachten nicht nur an den Triumph Mattotaupas, sondern daran, dass dieser Zweikampf schon lange währte und schnell beendet werden musste. Im Süden rief die Kriegspfeife des Schwarzfußhäuptlings. So sprangen die fünf herbei. Fast schien es noch in diesem Augenblick, dass Tashunka-witko mit seinem glatt geölten Körper sich der gefährlichen Umarmung Mattotaupas noch einmal entziehen könnte. Er trat Mattotaupa gegen die Knie, ohne ihn aber zu werfen. Da griffen die fünf Siksikau ein. Im Nu war der Kampf abgeschlossen, und Tashunka-witko lag gefesselt am Boden. Soeben war es Harka gelungen, seine Fußfesseln mit den Zähnen zu lösen. Er sprang auf. Die Schwarzfußkrieger folgten dem Ruf ihres Häuptlings und rannten nach Süden. Seitdem diese fünf mit Mattotaupa zusammen von den Ihren weg zu der Stelle gelaufen waren, von der aus Harka gerufen hatte, waren im Süden die Dakota wieder im Vorteil, und alle Schwarzfußkrieger wurden dort dringend gebraucht.

Mattotaupa zerschnitt Harkas Handfesseln und gab ihm Messer und Keule Tashunka-witkos. Dann schien er zu überlegen, ob auch er sofort wieder in den Kampf eilen oder sich um den wertvollen Gefangenen kümmern solle. Er entschloss sich zu dem letzteren, warf den Gefesselten über die Schulter und trug ihn eilends zu den Zelten, von denen man hier nicht weit entfernt war. Er brachte ihn in das Häuptlingszelt und warf ihn dort zu Boden, während die staunende Frau das Feuer ein wenig anfachte, so dass das Zeltinnere erleuchtet wurde.

»Bleib hier und wache!«, sagte Mattotaupa hastig zu Harka. »Ruft euch noch einen alten Mann in dieses Zelt, damit ihr nicht nur Kinder und Frauen seid.« Damit eilte er auch schon wieder hinaus, um weiter mitzukämpfen.

 

Außer Harka und dem Gefangenen hatte niemand im Zelt die Worte Mattotaupas verstehen können. Die Dolmetscherin fehlte jetzt. So machte Harka sich auf den Weg, um einen der Alten zu holen. Er hatte schon beobachtet, dass im Nachbarzelt ein Greis wohnte. In den Zelten waren alle wach und angekleidet, auch hatte jeder eine Waffe zur Hand, um sich zu verteidigen, wenn Feinde in das Dorf eindringen wollten. Als Harka in das Nachbarzelt eintrat, zeigte sich auf seinen bittenden Wink hin der alte Mann sofort bereit mitzukommen. Harka führte ihn in die Behausung des Häuptlings.

Als der Greis eintrat, überraschte ihn sicher der Anblick des Gefangenen, aber er zuckte mit keiner Miene und ließ sich ohne ein Wort in der Nähe des Zelteingangs nieder. Den Gefesselten beobachtete er unaufdringlich, aber auch unentwegt. Sein Beil lag griffbereit.

Harka überlegte sich, dass auch er zur Abwehr stets bereit sein müsse. Er entschloss sich, die beste seiner Waffen zur Verteidigung bereitzuhalten, das war seine doppelläufige Büchse. Er hatte auch den uneingestandenen Wunsch, dem Gefangenen zu zeigen, dass er, der Knabe, diese bei den Stämmen der westlichen Dakota und den Schwarzfüßen noch seltene Geheimniswaffe besaß.

Der Gefesselte lag nahe der Feuerstelle, so dass er beleuchtet war. Die Frau und das Mädchen saßen im Hintergrund. Der Sohn des Schwarzfußhäuptlings hatte sich neben den Gefangenen gehockt und redete auf ihn ein. Harka konnte die Worte nicht verstehen. Er hatte die Absicht, sich auch zu dem Gefangenen zu setzen, den er nach Anweisung seines Vaters bewachen sollte. Aber als er eben hinzutrat, stand der Schwarzfußknabe auf und stieß den Gefesselten verächtlich mit dem Fuß an. Der Gefangene tat, als bemerke er das gar nicht, und schaute mit gespielter Gleichgültigkeit vor sich hin auf den Boden.

In Harka kämpften widerstreitende Gefühle. Es war für ihn nicht leicht, diesen gefangenen Dakota in Schutz zu nehmen, aber als der Schwarzfußknabe dem Gefesselten einen Fußtritt gab, bäumte sich alles in ihm auf. Er stellte sich vor den Schwarzfußjungen hin, stützte sich auf den Lauf seiner Büchse, musterte den anderen mit einem Blick, der durch seine Entschlossenheit überlegen war, und sagte: »Es ist eine schlechte Sitte, tapfere Männer in Fesseln von Knaben verspotten zu lassen!«

Der andere Junge verstand diese Worte natürlich nicht, aber er merkte, dass Harka ihn irgendwie und aus irgendeinem Grunde zurechtweisen wollte. Das missfiel ihm sehr, denn er war nicht gewohnt, sich von anderen Jungen etwas sagen zu lassen. Er war der Kräftigste und Gewandteste der ganzen Knabenschar im Dorf. Am liebsten hätte er Harka sofort angesprungen, aber eine Rauferei im Zelt und zudem noch in diesem Augenblick entsprach nicht dem, was ein Schwarzfußhäuptling von seinem Sohn zu erwarten pflegte.

Der Junge musste sich daher beherrschen, obgleich es ihm sehr schwerfiel. Langsam ließ er sich wieder nieder. Er setzte sich nicht neben Harka, sondern auf die andere Seite des Gefangenen. Es war still im Zelt, nur die Zweige knisterten im Feuer. Die beiden Jungen saßen unbeweglich da wie Bildsäulen. Sie dachten ebenso viel aneinander, wie sie an den Gefangenen dachten. Die stolzen, völlig abweisenden Züge des Gefesselten ließen ihn auch ohne Adlerfedern und ohne Waffen als einen bedeutenden Mann und Krieger erscheinen.

Der Schwarzfußjunge war innerlich mit sich selbst zerfallen, weil er als Knabe einem mutigen Feind nicht auf die rechte Weise begegnet war. Er sann darüber nach, wie er sich mit Harka, der ihn das hatte fühlen lassen, bei einer anderen Gelegenheit würde messen können, um ihn zu zwingen, ihn wieder anzuerkennen.

Dieser fremde Junge beschäftigte den Sohn des Schwarzfußhäuptlings außerordentlich, obgleich er sich im Augenblick einbildete, dass er ihn nicht leiden mochte. In Wahrheit wäre er gern sein Freund geworden, aber Harka war so fremdartig, und zudem besaß er eine Geheimniswaffe. Alles an ihm war anders als bei anderen Knaben. Es blieb wohl nichts übrig, als ihm zu zeigen, dass man es gar nicht nötig hatte, sich mit ihm abzugeben, und dass ein Schwarzfuß auch nicht ungewandt war.

Harka rührte sich. Er nahm seine Büchse aus der Hülle, lud sie, sicherte sie und legte sie neben sich. Er war tief befriedigt, als er bemerkte, dass der Gefangene heimlich einen Blick auf diese kostbare Waffe warf. Er ließ sich aber keineswegs anmerken, dass er den Blick wahrgenommen hatte.

Draußen war es still geworden. Es ertönten keine Kriegsrufe mehr. Vielleicht waren die Kämpfenden auseinandergekommen, und die Krieger der Siksikau blieben nur noch draußen, um einem weiteren Angriffsversuch sofort entgegentreten zu können. Der Gefangene bewegte auf einmal den Kopf – das war die einzige Bewegung, die er noch machen konnte – er sah Harka an und begann zu sprechen. »Harka Steinhart Nachtauge Wolfstöter Büffelpfeilversender Bärenjäger!«, sagte er in seiner Sprache, die nur Harka verstand. Dass er alle Namen Harkas kannte, zeigte, wie gut er von Tatanka-yotanka unterrichtet worden war. »Du bist tapfer. Schämst du dich nicht, als Verräter mit den schwarzfüßigen Kojoten zusammen gegen die Krieger deines Stammes zu kämpfen?«

Harka erschrak und konnte nicht verhindern, dass er blass wurde. Die anwesenden Siksikau verstanden nicht, was der Gefesselte sagte, aber gerade, dass er in einer ihnen unbekannten Sprache zu Harka sprach, musste sie misstrauisch machen, ganz besonders, nachdem das Dakotamädchen Verrat geübt hatte. Harka konnte nicht übersetzen, was Tashunka-witko gesagt hatte, hätte es auch nicht übersetzen mögen. Er wollte dem Gefangenen auch nicht antworten, denn auch diese Antwort hätten die Siksikau nicht verstanden und sich nur unnütze Gedanken gemacht.

Daher stand Harka auf, warf dem Gefesselten einen abweisenden Blick zu und setzte sich mit seiner geladenen Büchse an den Zelteingang zu dem alten Mann. Schweigend warteten dann alle weiter. Die stille und ermüdende Wache dauerte bis zum Morgengrauen.

Als die Sonne endlich aufgegangen war, kamen die ersten Krieger zurück, bald folgten weitere. Harka hörte das Laufen und Sprechen draußen.

Der Häuptling trat mit Mattotaupa in sein Zelt ein. Jeder der beiden Männer hatte zwei erbeutete Skalpe bei sich, langes schwarzes Haar mit dem kleinen Hautstück vom Wirbel. Sie übergaben dieses Siegeszeichen beide der Frau. Die Skalpe mussten präpariert und die Geister der Gefallenen durch den Skalptanz der Frauen beschworen und versöhnt werden. Der Häuptling und Mattotaupa selbst waren mit ihrer von Staub, Schweiß und Blut verklebten Haut, der beschmutzten und zum Teil zerrissenen Kleidung, dem wirren Haar, den eingefallenen Wangen und tief in den Höhlen liegenden Augen noch ein Bild des harten Kampfes, der sich abgespielt hatte. Wahrscheinlich weilten ihre Gedanken nicht bei dem Ruhm, den ihnen die Abwehr der Angreifer und die erbeuteten Skalpe bringen mussten, sondern es war ihnen zuerst nach einem Bad im Bach und nach Schlaf zumute. Sie fragten auch beide weiter nichts, und der Häuptling gab keine neuen Anordnungen, nachdem er mit einem Blick das Zeltinnere überschaut hatte. Er verlangte nur ein Töpfchen Fett, und als er es von seiner Tochter erhalten hatte, ging er mit Mattotaupa zusammen wieder hinaus.