Der siebenstufige Berg

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Die Dezernentin glaubte, nach der Erfrischung und nach einigen Belanglosigkeiten des Gesprächs Mr Haverman eine Frage aus dem Dienstbereich vorlegen zu dürfen.

»Arbeiten wir nicht zu isoliert voneinander, Mr Haverman? Man müsste doch bei den jetzigen Aufregungen untereinander engeren Kontakt halten, sich gegenseitig informieren? Meinen Sie nicht?«

»Aber natürlich, Miss Bilkins.« Haverman lächelte höflich und nahm ein Herzstärkungsmittel. »Man weiß nur nie, was beim Informieren herauskommt. Carr hat jedenfalls den Polizeichef, Shaw und die drei Mac Leans, den Senior und die beiden Söhne, drüben bei sich versammelt. Das ist offenbar sein neuer Beraterstab. Ich werde dabei nicht mehr hinzugezogen, obwohl es um meinen Sachbereich geht. Aber Carr traut jetzt schon keinem mehr von uns außer Shaw.«

»Erstaunlich und empörend, Mr Haverman. Was hat es zu bedeuten?«

»Eisenharten Kurs. Sicher. Carr und Shaw schlagen vor, dass der alte Mac Lean sein Pachtgelände, das ihm der Stammesrat gekündigt hatte, behalten darf.«

»Kann Carr das durchsetzen?«

»Aber ja. Hawley und Mr Albee haben die seit alters bestehenden Rechte des ›Vaters der Reservation‹ nur nie voll ausgenutzt. Der Exekutivausschuss des Stammesrates und der Chief President Jimmy White Horse müssen die Vollmacht für den Superintendenten, Land zu verpachten, blanko unterschreiben, dann hat Carr freie Hand. Der alte Mac Lean und sein älterer Sohn bleiben, wo sie sind, und der junge bekommt doch noch das Nachbargelände der King-Ranch, um das er so lange vergeblich gekämpft hat.«

»Wo die Kleintierzucht und die Handwerksschule sitzen?«

»Ja, ja, ja; Kleintierzucht wird aufgelöst, Handwerksschule wird verlegt. Die Töpferei in der Agentursiedlung genügt als Zentrum der Kunsthandwerksausbildung. Mrs Goodman und die Lehrlinge werden dorthin versetzt. Der junge Hausvater Tom ist zurzeit bei der Armee. Innerhalb der Agentur haben wir alle besser unter Kontrolle und können Mrs Goodman bei ihrer Aufsichtspflicht unterstützen.«

»Mr Haverman, Sie regieren in mein Gebiet hinein. Die Bildungseinrichtungen werden aus dem Schuletat bezahlt.«

»Aber liebe Miss Bilkins, ich unterstütze Sie doch nur in Ihren Bemühungen. Die Schulranch ist praktisch schon aufgelöst. Bob, der zuletzt Verantwortliche, sitzt im Gefängnis; der alte Halkett ist nur noch eine halbe Kraft und geht auf seine Ranch zurück. Gut, sehr gut, in der Tat, nicht wahr, Miss Bilkins? Auf diese Weise lösen sich alle die Widerstandsnester auf, die King eingerichtet hatte. Wer Viehzucht lernen will, kann Cowboy bei Mac Lean werden. Die Büffel kommen auch dorthin, auf Abzahlung. Der alte Mac Lean will es riskieren. Sagt er jedenfalls. Wenn es mit Treiben, Hüten, Zahlen nicht klappt, so verkauft er. Tot oder lebendig. Wahrscheinlich eher tot als lebendig. Büffelleder ist im Handel wieder gefragt.«

»Mr Haverman! Mr Haverman! Dieses Vorgehen erscheint selbst mir ein wenig riskant. Kunsthandwerksschule – Schulranch – Büffel – alles auf einmal? Es herrscht schon zuviel Unruhe unter der Jugend, für die ich mitverantwortlich bin.«

Mrs Haverman wurde unruhig und bat mit einer stummen Miene, ihren Mann nicht mehr als nötig aufzuregen.

Eve zwang sich, sachlich und scheinbar ruhig zu sprechen. »Verstehen Sie doch, Mr Haverman, King hat jahrelang um die stammeseigene Schulranch gekämpft – und gegen die Verpachtung des Indianerlandes an weiße Pächter. Er hat die Büffel hergebracht. Carr hat keine Ahnung … Hat er King jetzt informiert?«

»Er will gar keine Ahnung haben und hat King nicht informiert. Die Polizei und Mac Lean werden alle Anweisungen schriftlich bei sich tragen und King zur sofortigen Ausführung vorlegen. Diesen Weg schlagen Shaw und die Mac Leans dem Superintendenten vor. King soll keine Zeit zu Protesten und Gegenmaßnahmen behalten. Wenn die Büffel weg sind und der neue Nachbar da ist, kann er protestieren, soviel er will, und bis zur Bezirksverwaltung und nach Washington gehen. Bereits ausgeführte Entscheidungen pflegen nicht rückgängig gemacht zu werden. Fragt sich nur, wer denn nun die Büffel von der King-Ranch zu Mac Leans Sattelranch treiben oder sie lieber gleich niederschießen oder verkaufen wird.«

»King hat sie doch auch hergebracht.«

»Fünf Stück im Käfigwagen, und das Ausladen war eine Sensation der Büffeljagd und der Rodeokünste. Ich habe mir das damals aus sicherer Entfernung angesehen. Aber inzwischen sind es zweiunddreißig Büffel geworden! – Ich jedenfalls wasche meine Hände in Unschuld.«

»Ah – die Maßnahmen gehen auf Carr zurück, nicht auf Sie! Sie können den Anweisungsempfänger und Zuschauer spielen!« Auf Eves Wangen erschienen schon wieder die roten Flecken. Ihre Worte blieben leise, begannen aber zu sprudeln wie Wasser, das plötzlich einen Steilhang hinunterstürzt. »Haverman, verstehen Sie, Sie haben es mit Vieh und mit Erwachsenen zu tun. Alles halb so schlimm. Aber ich bin für Kinder verantwortlich, die absolut irrational und unberechenbar handeln. Ich kann nicht hinter jedes Kind einen Aufseher stellen und weiß ja noch nicht einmal, wie der denkt und handelt. Mahan, Cargill und Warrior sind nichts als drei Katastrophen auf einmal. Und es geht nicht nur um Patricias Unfall, sondern auch um die beiden Schulentlassenen der Agentur-Schule hier. Wer hätte solche Selbstmorde für möglich gehalten!«

»Ich jedenfalls nicht, Miss Bilkins. Aber die Selbstmordabsicht ist auch bei diesen beiden Fällen schwer abzustreiten. Allerdings gibt es keine Zeugen außer dem Fahrer, dem man Selbstentschuldigung zuschreibt.«

»Was bespricht Carr jetzt noch mit seinen Beratern, wenn über Landpacht und Büffel schon entschieden ist?«

»Er steift den Mac Leans den Nacken. George Mac Lean junior hat schlicht und einfach Angst wie ein Hase vor dem Jäger. Ich kenne die Familie doch bestens seit Jahren. Was habe ich mit den Mac Leans und den Kings schon alles ausgestanden! Aber die Mac Leans können das Reservationsland durch die Superintendentur zum halben Preis von dem bekommen, was sie draußen bezahlen müssten, und die Kings wollen alles Pachtland zurückhaben für die jungen Leute vom Stamm. Wir haben achtzig Prozent Arbeitslose unter der männlichen Jugend. Also wird weitergestritten. George als Nachbar von Joe King und die Büffel hin- und hergetrieben oder abgeschossen – das wird Wildwest schlechthin.«

Eve seufzte tief. »Wann soll es losgehen?«

»Gleich am Montag. Die Polizei hat schon Verstärkung angefordert. Vielleicht wird man King vorher in Haft nehmen – wegen des Jaguars. Was weiß ich, Verdacht der Verbindung mit Doug Coles. Und sein wilder Buffalo-Boy Robert wird eingezogen. Der Gestellungsbefehl ist bereits gesichert. Montag hat er ihn. – Ja, liebe Miss Bilkins, seien Sie froh, dass Sie nur die Schulsorgen haben. Ich bin zwar nicht Mitglied des Beraterstabes, aber wenn etwas schiefgeht, wird man es doch nur mir in die Schuhe schieben. Ich befinde mich in noch üblerer Lage als Sie.«

Man glitt noch in ein Gespräch über die Möglichkeit, indianische Kunsthandwerkserzeugnisse von Irene Goodman und ihrer vor der Auflösung stehenden Schule zu kaufen, ehe die besten Sachen in alle Winde zerstreut würden. Dann verabschiedete sich Eve und ging in ihr Apartment. Die Gärtnersfrau kam aus der neben dem Essraum gelegenen, durch eine halbhohe Wand abgetrennten Küche; die Beamtenhäuser waren alle nach dem gleichen Grundriss gebaut. Mrs Patton hatte noch Frühstück und Essen für den kommenden Tag vorbereitet. Sie räumte jetzt ab, wusch ab und erhielt von Mrs Haverman die Erlaubnis, sich zurückzuziehen. Sie wünschte »Good night«, das waren zwei der wenigen Worte Englisch, die sie sagen konnte oder sagen mochte. Dann ging sie hinüber in das Holzhäuschen, das sie mit ihrem Mann und ihrem jüngeren Sohn bewohnte. Es lag in der Siedlung für jene Indianer, die bei der Agentur, bei der Stammesverwaltung oder beim Krankenhaus beschäftigt waren.

Der zwölfjährige Norris schlummerte, knurrte schlaftrunken, als die Mutter nach Hause kam, und drehte sich der Wand zu. Die Mutter wartete, bis seine Atemzüge wieder ganz regelmäßig gingen, dann erzählte sie ihrem Mann, was sie gehört hatte. »Sie werden King überfallen und unsere Büffel wegnehmen«, schloss sie. »Sie sind wie Räuber, die aus dem Busch hervorbrechen. Und niemand darf Joe warnen.« Ann Patton hatte gesagt: »unsere« Büffel. Denn die Büffel, die Joe Inya-he-yukan King wiedergebracht hatte, waren in aller Augen keine King-Büffel, es waren Büffel der Prärie und des Stammes, Zeichen dafür, dass auch die Indianer noch lebten.

Norris, der Junge, der in seinem schon zu kurz gewordenen Bett zu schlafen schien, richtete sich jetzt auf und sagte: »Aber ich warne ihn. Ich tue es. Morgen in der Schule treffe ich Hanska.«

Die Eltern sahen sich an und schwiegen dazu.

Am darauffolgenden Vormittag, in der kleinen Zwischenpause, fingen Hanska Bighorn und sein Freund Norris Patton auf geschickte Weise den Erzieher Mahan ab. Es war in der Turnhalle, in der die beiden Jungen noch eine Aufräumarbeit übernommen hatten; der Sportlehrer des Internats sollte wissen, dass sie einige Geräte im Schrank umordnen wollten. Der dreizehnjährige Hanska sagte dabei auf Englisch, und er setzte seine Worte wie ein Mann: »Mr Mahan, heute nachmittag wird Patricia Bighorn beerdigt. Der Friedhof liegt nahe bei unserem Haus auf der King-Ranch. Mein Pflegevater bittet Sie, zu dem Begräbnis zu kommen, weil Sie die Wahrheit über Patricia gesagt haben. Wir nennen Sie jetzt: Der Mann, der die Wahrheit spricht. Kommen Sie?«

»Ich komme.«

»Nun hat Ihnen Norris Patton noch etwas zu berichten. Ich stehe so lange Wache. Norris und ich wollen nicht, dass Sie sich mit uns in Gefahr begeben, ohne es zu wissen.« Hanska Bighorn postierte sich so, dass er die beiden Eingänge des Turnsaals im Auge hatte. Hugh half Norris Patton beim weiteren Aufräumen.

 

Norris berichtete in der Muttersprache, was er von der Mutter gehört hatte. Er hatte alles genau vernommen und nichts vergessen. »Nun weißt du es, Wasescha.«

Hugh rief Hanska mit einem Blick wieder herbei.

»Ich weiß nun alles, und ich komme. Ich habe gesprochen.«

Die drei hatten die Arbeit getan, die kleine Pause war beendet, die Klingel rief.

Als alle Unterrichtsstunden vorüber und der Schultag abgelaufen war, als die Busse vor der Schule warteten, fuhr auch der Jaguar-Sportwagen vor. Hanska und die Zwillinge hatten sich bereitgehalten, und Hanska sprach sogleich mit seinem Pflegevater.

Hugh wartete in einiger Entfernung. Als King ihn mit einer höflichen Handbewegung einlud mitzukommen, stieg er ein. Der Sitz neben dem Fahrer war ihm vorbehalten geblieben. Die Kinder drängten sich auf der Rückbank.

Die Straße lag einsam und leer. Joe trieb seinen Wagen in Sekunden auf hundertzwanzig Meilen die Stunde; er rechnete wohl damit, dass die Polizei sich heute, am Begräbnistag, nicht sehen lassen würde.

Die Fahrt von Norden nach Süden ging durch gelbbraunes, verdorrtes Grasland, bis sich das Tal auftat, dessen ausgewaschene Hänge zur Linken als weiße Felsen leuchteten. Joe verringerte sein Tempo und bog rechter Hand in einen unbefestigten Weg ein, der hinauf zu dem gelben Haus und zu der alten Blockhütte führte, den Behausungen der Familie King.

Nach dem Aussteigen hatte Hugh Zeit, ringsum zu schauen, denn er wurde nicht sogleich angesprochen; man überließ ihn erst sich selbst.

Die Wiesen am Hang hier waren grüner als andere, oben auf dem Kamm der Anhöhe befand sich eine Brunnenanlage, die Wasser spendete. Unmittelbarer Nachbar der King-Ranch war die Kunsthandwerksschule im hellblauen Holzhaus mit dem dazugehörigen Gelände für die Kleintierzucht. Auch dorthin führte vom King-Brunnen aus eine Wasserleitung. Zwischen dem King-Haus und der Schule befand sich der alte Friedhof. Das Gras wiegte sich in dem Wind, der den Kindern der Prärie vertraut war. Die weißen Holzkreuze standen nach den Stürmen von Frühling und Sommer nicht mehr gerade; sie mussten wohl jedes Jahr zweimal gerichtet werden. Ein Stab aber stand fest; er war am oberen Ende gebogen und trug ein Bündel Adlerfedern zum Zeichen – für einen Häuptling, der hier unter der Erde lag. Tishunka-wasit-wins Grab war schon ausgehoben; Erdbrocken lagen am Rande der Grube.

Byron Wakiya saß an dem Häuptlingsgrab und schaute nach der Grube, in sich verloren, so, als habe er schon immer dort gesessen und werde auch für immer da bleiben. Er schien die Ankommenden nicht bemerkt zu haben.

Joe füllte den Benzintank des Jaguars nach und lud noch Reservekanister ein. Hanska lief sofort zu den Pferden, die sich hinter der Blockhütte in einer Koppel befanden. Ein Scheckhengst und eine gefleckte Appaloosa-Stute fielen Hugh auf, auch ein Schecken-Pony, mit dem Hanska besonders zärtlich sprach.

Mit diesem Pony hatte der Junge schon im Wettbewerb mit erwachsenen Reitern einen Rodeopreis der Reservation gewonnen, das war das erste gewesen, was die Internatsschüler ihrem Sportlehrer berichtet hatten, als sie ihm gegenüber überhaupt einmal den Mund auftaten.

Mahan ging ein paar Schritte umher, sah drei braunhäutige kleine Kinder spielen und beobachtete eine junge Frau, die aus dem hellgelben Haus kam, in dem sich schon Trauergäste eingefunden zu haben schienen. Ein fremder Wagen stand auf der Wiese.

Die junge Frau, die an Hugh vorbei der Blockhütte zulief, war schön; ihre Art, über das Gras zu gehen, war sanft, ihr Gesicht war traurig und wie von Schleiern der beginnenden Dämmerung verhängt.

Vielleicht hatte Mahan einen Augenblick geträumt, denn er reckte sich mit einer plötzlichen Bewegung, als Joe herangekommen war, ihn ansprach und dadurch, dass er selbst den Weg zum Friedhof einschlug, auch Hugh dorthin mitnahm.

Die beiden Männer waren auf dem Friedhof angelangt; sie standen an dem offenen Grab und blickten von dort hinüber zu dem Häuptlingsstab, zu dem Bündel mit Adlerfedern und zu Byron Wakiya, der aufgestanden war und langsam herbeikam.

Sein Pflegevater Joe Inya-he-yukan sagte ihm alles, was er selbst von Norris Patton und Hanska erfahren hatte, und bat ihn, sogleich hinüberzugehen zu Mutter Queenie Tashina und zu den Gästen, um ihnen die Nachrichten zu bringen. Hanska aber sollte auf die Büffelweide reiten, damit auch der Buffalo-Boy Robert und seine Frau Joan erfuhren, was nach dem Willen Carrs geschehen sollte und was nach dem Willen Joe Inya-he-yukan Kings geschehen würde.

»Die Mac Leans werden unsere Büffel niemals haben, und Robert Yellow Cloud wird sich nicht befehlen lassen, gegen wen er zu schießen hat. Hau.«

Joe Inya-he-yukan ging nach diesen Worten mit Hugh zusammen dem Trauerzug entgegen, der jetzt über den Wiesenweg den Hang heraufkam.

Das Holzhaus der Bighorns in seiner abblätternden Farbe lag auf der anderen Talseite, unterhalb der weißen Felsen, der King-Ranch gegenüber. Die vielköpfige Familie, der Kriegsinvalide Patrick und seine abgehärmte Frau, die acht noch daheim lebenden Kinder der Bighorns, kam mit der Last des toten Mädchens Tishunka-wasit-win. Ein junger indianischer Priester begleitete sie.

Queenie Tashina geleitete die Trauergäste aus dem gelben Haus der King-Ranch herbei. Es waren zwei Männer, eine noch junge Frau, dazu sechs Mädchen und vier Jungen im Alter von Schulentlassenen; das mochten die Handwerkslehrlinge sein. Kein Vertreter der Tagesschule, niemand aus der Verwaltung, nicht einmal ein Mitglied des Stammesrates hatte sich eingefunden. In den Augen der Trauernden war es gut so. Mahan nahm das besondere Bild der beiden Männer in sich auf, die mit Joe Inya-he-yukan und Queenie Tashina King auf der anderen Seite des offenen Grabes ihm gegenüberstanden, und er fühlte etwas von Gedanken und Willensströmen, die sich von dorther auf ihn lenkten. Der eine dieser Männer schien selbst dem Grab nicht mehr fern, obgleich er noch nicht alt sein konnte, aber die Krankheit hatte ihn schon gezeichnet. Der andere stand wie ein Stein, der aus der Erde herausragt, tief darin verankert.

Queenie Tashina hielt sich zu Joe Inya-he-yukan. Sie war bleich, und als die Erde in die Grube über Tishunka-wasit-win geworfen wurde, zitterten ihre Lippen.

Aber niemand weinte. Das Schweigen war eine nicht aufklingende, darum auch nie verstummende Klage der braunhäutigen, schwarzhaarigen Menschen um ihre Kinder.

Die Grube wurde mit Erde gefüllt und gedeckt, und der indianische Priester sprach den Segen Wakantankas, des Großen Geheimnisses, über Tishunka-wasit-win, die unter dem Zeichen des achtzackigen Sterns gestorben war. Die Gebete sprach der junge Priester Elk in der Stammessprache, aber nun begann er Englisch zu sprechen, damit auch die beiden Gäste aus fremden Stämmen ihn verstehen konnten.

»Mit unserem Gebet für Tishunka-wasit-win, das ›Schöne-Pferd-Mädchen‹, rufen wir nach Gerechtigkeit. Wir klagen um alle unsere Kinder, die durch Kugeln, Hunger, Krankheit, Misshandlung, Einsamkeit und Knechtschaft gestorben sind und noch immer sterben. Wir klagen um unsere Tochter Tishunka Patricia und um unsere zwei Söhne, die am gleichen Tag gestorben sind. Wir klagen um ein Kind – und ihr wisst es noch nicht, aber ich sage es euch –, um ein Kind, das sich, neun Sommer und Winter alt, in einem Schulgefängnis der weißen Männer selbst töten wollte und nun krank liegt und sterben will. Wir klagen an! Aber die Watschitschun, die uns alle Tode sterben lassen wollten, die ein Volk sterben kann, werden uns dennoch leben sehen. Tishunka-wasit-win ist nicht ausgelöscht, das Feuer brennt weiter wie die Sonne, die des Abends stirbt und des Morgens wieder aufleuchtet.«

Hugh Mahan nahm die Worte in sich auf und dachte an das Kind, das noch lebte, aber sterben wollte. Er würde den Priester Elk nach diesem Kind fragen.

Langsam gingen die Angehörigen der leidtragenden Familien und ihre Gäste auseinander.

Der Abendwind wehte kalt, die Adlerfedern am Stabe bewegten sich; der Himmel begann rot zu werden vom Blut der Sonne. Wakiya Bighorn saß wieder am Häuptlingsgrab und schaute nach der frischen Erde, die Tishunka-wasit-win bedeckte.

Joe und Queenie Tashina luden die Eltern und Geschwister der Toten, die Lehrlinge und ihre Meisterin Irene Oiseda in das gelbe Haus zu einer Mahlzeit ein.

Mahan beobachtete die förmliche Art, in der Joe mit Patrick und Queenie mit Mutter Bighorn sprach; die Nachbarn schienen sonst wenig miteinander zu verkehren. Joe Inya-he-yukan ging auch nur für sehr kurze Zeit mit in das Haus; er kam zurück und rief Mahan und jene beiden Männer zu sich, die Hugh nach ihrem Aussehen für Angehörige anderer Stämme hielt. Hugh erfuhr die Namen: Edward Monture hieß der eine und er war ein Mohawk. Der andere, den die Krankheit verzehrte, nannte sich Andy Tiger, vom Stamm der Cherokee. Sie gehörten mit King zusammen einer indianischen Bruderschaft an.

Joe holte sich den Scheckhengst aus der Koppel, sattelte und überließ es seinen drei ausgewählten Gästen, sich selbst Pferde zu nehmen. Sie sollten ihn zur Büffelherde begleiten. King war mit dem elektrisch geladenen Stock, mit Lasso und Jagdgewehr, mit einer Pistole im Kniehalfter und dem Patronengurt ausgerüstet und packte Proviant in die Satteltaschen.

Mahan hatte Inya-he-yukan noch nie als bewaffneten Hirten gesehen, aber er wurde sich jetzt bewusst, dass er ihn immer so gedacht hatte.

Mahan selbst wählte einen dunkelbraunen Hengst. Es war lange her, dass er auf einem Pferderücken gesessen hatte. Aber die beiden Pferde des Vaters waren prächtige, mutwillige Tiere gewesen. Der Vater hatte Hugh Mahan Wasescha, den einzigen Sohn, der ihm geblieben war, bis zu seinem achten Jahr nach alter Art zu einem Reiter, Jäger, Hirten und Wissenden der alten Geheimnisse erzogen. Eines Tages aber war er der Polizei verraten worden. Lange Jahre hatte Wasescha keine Pferde und keine Prärie mehr gesehen.

Er brach seine Erinnerungen ab. Joe hatte ihm mit einem Handzeichen einen Sattel empfohlen, der über dem Koppelzaun hing; Hugh legte diesen dem Dunkelbraunen auf, empfing Proviant und schwang sich auf; die Bewegung des Pferdes ging in seinen eigenen Körper über. Er brauchte nicht zu denken, was er zu tun habe. Seine Hände spielten mit dem Zügel, selbstverständlich wie einst; der Dunkelbraune gehorchte.

Die Reitertruppe der vier kam unter Inya-he-yukans Führung auf die Höhen und hinter dem Höhenrücken in das sich weithin erstreckende Wiesengelände, das von einem seichten Bach durchzogen wurde. Die Dämmerung des Herbstabends neigte sich zur Nacht. Die vier, die von Osten her westwärts ritten, schauten über die begrasten Erdwellen in die gelbe Glut am Horizont, hinter dem der Sonnenball schon geschwunden war. Die Büffel wurden als Schatten vor dem goldenen Leuchten sichtbar. Buffalo-Boy Robert, seine Frau Joan und Hanska galoppierten von der Herde her zu der Vierergruppe heran. Alle ließen ihre Pferde in Schritt fallen, und so näherte man sich miteinander den Büffeln. Inya-he-yukan sprach dabei mit Robert Yellow Cloud. Es waren abgehackte, einzelne Worte, verständlich nur unter Hirten, die Tag und Nacht zusammenarbeiteten.

Joe hielt seinen Scheckhengst an. Sofort standen auch alle anderen Pferde. Der Büffelbulle, Leittier der Herde, war gut zu erkennen. Es blieb noch ein Augenblick der Besinnung und des letzten Entschlusses. Niemand kannte Inya-he-yukans Plan ganz, aber alle erwarteten, dass er nun sprechen werde. »Der große Büffel muss sterben«, sagte Inya-he-yukan King, »damit ich seine Herde vor dem Tod bei den Mac Leans retten kann. Er ist zu stark und zu tapfer, um sich einen fremden Weg treiben zu lassen. Er muss sterben, aber seine Herde und seine drei jungen Söhne nehmen wir mit. Einer davon wird dem Vater Büffel und dessen Vater gleichen und das Geschlecht fortsetzen. In der Haut dieses Büffels, den ich jetzt töte, will ich einmal begraben sein. Ihr habt es alle gehört. Ich habe euch hierher mitgenommen, damit ihr das Sterben des großen Büffels seht, den ein roter Mann töten muss, und damit ihr seht, wie zwei Männer, eine Frau und ein Kind eine Herde Büffel treiben, die die Watschitschun nicht nach ihrem Willen lenken können. Wir werden eine Nacht und einen Tag unterwegs sein auf vielen Umwegen, und es wird eine harte Arbeit werden. Ich weiß nicht, ob wir alle Gefahren mit unseren Büffeln bestehen können. Wir sind aber eins mit unserer Mutter Erde und mit dem Großen Geheimnis; der Mond gibt uns Licht auf dem Weg. Wir wagen es. Wenn die Sonne wieder blutet und sinkt, werden wir auf der Ranch des Chuck Kingsley sein, der ein ehrlicher Mann und Sheriff ist und mit seinen Cowboys unsere Büffel hüten wird, bis wir sie zurückholen können. Er wird sich wundern, dass wir das große Treiben bis zu seiner Ranch gewagt haben; er wollte es mir nie recht glauben, obgleich der Vertrag abgeschlossen ist. Edward und Andy, ihr reitet zurück, sobald ich die Herde auf dem Weg habe; ihr nehmt euren Wagen und meinen Jaguar und fahrt zu der Büffelranch, um uns anzukündigen. Der Senior-Cowboy soll uns mit zwei Mann entgegenreiten. Du, Wasescha, bleibst bei dem Büffel, den ich töten muss; die Hunde sollen den Toten nicht zerfleischen. Die Frauen werden zum Abhäuten und Ausnehmen kommen. Wenn du willst, so bleibe dann bei den Frauen und Kindern und schütze sie und berate sie, bis ich zurückkomme. Es wird einige Tage und Nächte währen, denn ich fahre Robert Yellow Cloud und Joan nach Kanada. Dort braucht Robert nicht Soldat zu werden. Er wird Arbeit bei der Waldbrandbekämpfung finden. Ich weiß aber, was ich von dir erwarte, mein Bruder Wasescha. Die weißen Männer werden wüten, wenn sie kommen und weder Büffel noch Robert, noch mich finden können. Ich weiß jetzt nicht, was du dann tun kannst und wie der Streit ausgeht. Ich meine dich aber zu kennen. Du bist wie mein anderes Selbst und wirst so handeln, wie ich an deiner Stelle handeln würde.«

 

»Ho-je, Joe Inya-he-yukan.«

Joe nahm sein Jagdgewehr zur Hand; Robert, Joan und Hanska hielten sich bereit. Es gab viele Möglichkeiten, einen Büffel mit der Schusswaffe anzugreifen, gefährlich blieb es für einen einzelnen immer. Die großen Büffelmörder vor drei Generationen hatten mit Schnellfeuergewehren auf die Tiere geschossen. Die Vorfahren Inya-he-yukans hatten mit Pfeil und Bogen gejagt. Inya-he-yukan traf keinerlei Vorkehrungen für besondere Leichtigkeit oder Sicherheit eines Schusses. Er wählte den kühnen und schnellen Weg, der eine besonders ruhige Hand und ein besonders sicheres Auge erforderte und für seinen Plan der geeignete war. Der Leitstier stand zwischen den Reitern und der Herde; die Reiter waren aus Osten in westlicher Richtung geritten, und die Herde musste westwärts getrieben werden. Der Standplatz des Stiers war für Joes Plan der denkbar günstigste, vielleicht aus Zufall, wahrscheinlich aber hatte Robert ihn schon geschickt isoliert, ehe Joe King kam.

Der Bulle stand ruhig da, abwartend; er war gesammelte Kraft, und niemand konnte sagen, wohin und wogegen diese Kraft sich vielleicht schon im nächsten Augenblick wenden würde. Er warf den Kopf, und als ahne er, dass es einen Kampf geben müsse, setzte er sich gegen die Reiter in Trab, die Erde mit einem Horn dabei aufpflügend. Inya-he-yukan fuhr seinem Schecken in die Mähne und trieb ihn mit einem schrillen Ruf zum plötzlichen Galopp. Die Hufe klopften auf die trockene Erde; zwischen Dunkel und Sternenschimmer flog der Schatten von Reiter und Pferd über die Wiese, dem Bison entgegen.

Der Reiter kam dem Stier zur Seite. Joe Inya-he-yukan hob das Jagdgewehr, legte an und drückte ab. Der Schuss krachte; das Pfeifen der Patrone zog durch die Luft zum Ohr.

Joe gab nur diesen einzigen Schuss ab.

Der Büffelstier überschlug sich und stürzte ins Gras. Er war tot. Sein mächtiger Körper lag im Gras, reglos für immer. Joe lud nach und gab das Gewehr wieder in den Halter am Sattel. Er erhob den dumpfen Büffeljagdruf und galoppierte weiter auf die Herde zu, um sie zu scheuchen.

Die Herde, vom Krachen des Schusses und vom Sturz ihres Leittieres erschreckt, setzte sich westwärts in Bewegung, trabte, galoppierte in die Richtung, die sie nach dem Willen der Hirten einschlagen sollte. Mit knallenden Peitschen und dem dumpf drohenden Büffeljagdruf verfolgten Robert, Joan und Hanska zusammen mit Joe die Herde und trieben sie weiter. Stelzbeinig galoppierten die Büffelkälber mit ihren Müttern.

Hugh Mahan war mit Monture und Tiger zurückgeblieben. Das schussgleiche Knallen, das Schreien, das Donnern des Galopps von Herde und Pferden wirkten in der Stille von Nacht und Prärie wie ein Aufstand des Urlauts, der Wildnis, des Ungebändigten, aber die Hirten blieben Herr darüber.

Die Herde machte nicht Halt und nicht kehrt; sie brach nicht zur Seite aus. Vier Menschen, darunter ein Kind, lenkten sie.

Der Start war gelungen, der Plan war gut. Noch wusste aber niemand, was sich auf dem Weg mit einunddreißig ungebändigten Büffeln ereignen konnte.

Die scharfen und die dumpfen Laute verklangen; es wurde ruhig um den toten Stier und um die drei Männer, die zu ihm herangeritten waren. Was für ein Tier, noch immer groß und mächtig, aus der endlosen Reihe der Büffelgeschlechter, die einst die Prärien beherrscht hatten, und selbst Vater eines neuen Geschlechts. Die drei Männer stammten aus einem Volk, das sich eins wusste mit der Erde, der Sonne, dem Mond und den Tieren, und sie weihten dem toten Büffel eine Zeit des Schweigens. Als sie um war, wurden sie wieder hellwach.

Monture und Tiger verabschiedeten sich von Mahan, um sich für ihre eigenen Aufgaben auf den Weg zu machen. Die beiden mussten auf der King-Ranch die Wagen holen, zur Büffelranch und von dort aus nach der der Reservation nahe gelegenen Stadt New City fahren, wo Monture in dem Indianer-Vorort wohnte und wo der fiebernde Andy Tiger Ruhe finden konnte. So kam es, dass Hugh Wasescha in der Nacht allein bei dem toten Büffel blieb. Er suchte sich am Bachufer einen kräftigen Pflock, und mit Hilfe des Lassos, das am Sattel hing, pflockte er seinen Dunkelbraunen an. Einen Hammer hatte er in der Satteltasche gefunden; auch dieses Werkzeug gehörte zu einer Cowboy-Ausrüstung. Vielleicht war Hugh mit dem Sattel Bobs geritten, der im Gefängnis saß.

Monture hatte Mahan seinen eigenen Revolver und Reservepatronen dazu gegeben. Mahan spielte mit der Waffe, entlud, entsicherte, sicherte. Allmählich waren seine Hände vertraut damit.

Die Herbstnacht war kalt in der hoch gelegenen, kurzgrasigen, allen Winden offenen Prärie. Das Buschwerk am Bach beugte sich dem Luftzug. Wasescha befühlte die Büffelhörner, wühlte in dem dichten Fell des Büffels, suchte und fand die Einschussstelle des tödlichen Schusses, eines Meisterschusses, wahrhaftig. Endlich schmiegte er sich dicht an das noch warme Tier und aß einen Bissen. Wie bei der Mutter daheim, so sog Hugh wieder den Duft trockener Erde, dürren Grases ein, dazu den Geruch von Pferd und Büffel und Ledersattel; er atmete die Luft ohne Gift und ohne Schlacken, die Luft ohne Staub. Er konnte das Ohr öffnen, ohne klickende Schlüssel und ohne knarrende Bettgestelle, ohne Schritte und ohne Stimmen zu vernehmen. Er konnte das Ohr weit aufmachen, und es drang nichts ein als die ihn umfassende Stille; nicht einmal der sickernde Bach gab ein Geräusch. Seine Augen stießen sich nicht an Wänden. Er konnte über das Land zu allen Himmeln schauen.

Es war kalt, aber es war die Luft, die er brauchte. Als die ersten langbeinigen, halbwilden Hunde der King- und der Booth-Bighorn-Ranch heranschnüffelten, hatte Hugh schon Reisig und Zweige gesammelt. Er machte sich ein kleines Feuer mit einem Feuerzeug, in das Bobs Name eingeritzt war, und hielt die gierigen Hunde fern.

Lange brauchte er sich damit nicht abzumühen. Von dem Höhenrücken her vernahm er das unauffällige Geräusch von Pferdehufen auf Wiesenboden. Hugh hielt Ausschau. Fünf Reiter kamen, sie führten vier Packpferde mit. Hugh erkannte im Mondlicht Byron Wakiya, zwei Frauen und zwei Burschen. In dem ebenen Gelände trieben die Reiter ihre Pferde zum Galopp; die Hunde bellten und kläfften.