Buch lesen: «Geschwistermörder»
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Geschwistermörder
Lisa Richter
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Impressum:
Personen und Handlungen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
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© 2020 – Papierfresserchens MTM-Verlag + Herszprung-Verlag
Mühlstraße 10, 88085 Langenargen
Telefon: 08382/9090344
Alle Rechte vorbehalten. Taschbuchauflage erschienen 2018.
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.
Herstellung: Redaktions- und Literaturbüro MTM
Cover gestaltet
ISBN: 978-3-86196-866-5 - Taschenbuch
ISBN: 978-3-96074-286-9 - Ebook (2020)
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Inhalt
Prolog
Kapitel 1: Beobachtet
Kapitel 2: Gefangen
Kapitel 3: Gesucht
Kapitel 4: Angerufen
Kapitel 5: Berührt
Kapitel 6: Erlöst
Kapitel 7: Geprägt
Epilog
Danksagung
Die Autorin
Unser Buchtipp
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Auge um Auge und die ganze Welt wird blind sein.
Mahatma Gandhi
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Prolog
Hinter einem der vielen Bäume an der Rückseite des Schulgebäudes hatte er gelauert. Wie ein wildes Tier, das angreifen will, aber leise sein muss. Sein Blick suchte die Menge der jungen Leute ab. Er wusste, was er wollte.
Da sah er sie.
Jung.
Schön.
Sie hielt die Hand eines Jungen in ihrem Alter. Ihr Freund? Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange.
Bald würde sie jemand anderen küssen.
Ihn.
Bald würde er sein Vorhaben umsetzen können, sein Ziel ein weiteres Mal erreichen: Vergeltung.
Aber war sie tatsächlich passend für ihn?
Vor ihr lief ein Junge mit einem Mädchen. Auch sie unterhielten sich. Er war jünger. Sah ihr ähnlich. Sie hatten dieselbe Augenfarbe.
Er versuchte, das Gespräch zwischen ihr und ihrem Freund zu verstehen. Im Lippenlesen war er geübt. Namen wurden nicht genannt.
Da fiel das Wort: Bruder.
Er lächelte. Das war sie. Sein Herz schlug schneller. Er wollte sie.
*
Kapitel 1: Beobachtet
Ich war fünfzehn, als diese schreckliche Geschichte ihren Lauf nahm. Eigentlich viel zu jung für so eine kranke Story. Ich, David, war ein ganz normaler Teenager – ging mit Freunden raus, fuhr gerne mit meinem BMX-Rad, war lässig drauf (manchmal etwas zu sehr) und ich war das erste Mal in meinem Leben verliebt.
Wie gesagt, ich war ein ganz normaler Teenager, bis dieser eine Tag mein Leben veränderte. Und ich noch gar nichts davon merkte. Nur meine Schwester Lorena spürte es bereits. Unsere Geschichte begann mit einem grauenvollen Albtraum ...
Panisch rannte meine Schwester durch fremde, menschenleere Gassen, ohne zu wissen, wo sich ihr Ziel befand. Da vernahm sie einen Schrei, der sie erschauern ließ. Es war die Stimme ihres Bruders – meine! Ihres geliebten, unschuldigen Bruders. Das brachte sie dazu, noch schneller zu laufen. Meine Schreie wurden immer lauter und flehender. Mit jedem Mal zog sich ihr Magen schmerzhaft zusammen. Warum hörten sie nicht endlich auf?
Nun waren die schrecklichen Geräusche so nah, dass sie ahnen konnte, aus welchem Gebäude sie kamen. Eilig trat sie in das alte graue Hochhaus und rannte so schnell die instabilen Treppen hinunter, dass es sich anfühlte, als würden ihre Füße ein paar Zentimeter vom Boden abheben.
„David?“, rief sie meinen Namen aus in der Hoffnung, ich könnte sie bereits hören. „David?“
Vor der Tür zögerte sie. Ihr Herz raste, als sie sie schließlich ängstlich, aber entschlossen öffnete und in die Dunkelheit trat.
Erschrocken wachte meine Schwester auf und spürte, dass sie zitterte. Wankend lief sie ins Badezimmer, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und schaute in das Zimmer ihres Bruders – in meines. Warum sie Letzteres tat, wusste sie selbst nicht so genau. Vermutlich einfach, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Ich schlief friedlich in meinem Bett, ohne zu wissen, was ich an diesem Tag noch durchmachen würde.
Anschließend schaute sie auch in das Zimmer unserer Eltern. Ein Schreck durchfuhr sie. Papa war weg! Mitten in der Nacht ... Sie atmete tief durch. Und dann fiel ihr etwas ein. Schnell ging sie zurück in ihr Zimmer, um auf die Uhr an der Wand zu blicken: sechs Uhr morgens. Papa war bereits auf der Arbeit. Er war wie jeden Morgen früh losgefahren.
Langsam beruhigte sich Lorenas rasendes Herz. Zum Glück würde in einer Stunde ihr Wecker klingeln. Sie hatte schon befürchtet, es wäre mitten in der Nacht und dass somit noch mehr Zeit bliebe, um über ihren Albtraum nachzudenken.
Sie ging zurück in ihr Zimmer und setzte sich zunächst auf das Bett. Fassungslos stützte sie den Kopf in ihre Hände, während ihr Tränen in die Augen traten. Tränen purer Angst. Angst, dass uns dasselbe Schicksal ereilen würde wie die vermissten Personen. Warum mussten gerade wir in dem Ort wohnen, in dem seit Wochen Menschen spurlos verschwanden? Und was hatte der Traum zu bedeuten? Würde ich als Nächster an der Reihe sein? Und müsste Lorena mich suchen, wie sie es im Traum gesehen hatte?
Diese Vorstellung war so schrecklich, dass ihr beinahe übel wurde. Sie versuchte, tief durchzuatmen und ihre Gedanken auf etwas anderes zu lenken. Aber auf was? Seit Tagen hatte sie nichts anderes im Kopf als Sorgen, Vorstellungen, was den Opfern, die entführt worden waren, passiert sein könnte. Ob sie überhaupt noch lebten? Oder ob die Leichen längst in einem Wald verscharrt worden waren und Lorena bei ihrem nächsten Spaziergang eine grauenhafte Entdeckung machen würde? Oh Gott!
Mit einem Ruck stand sie auf und versuchte, diese Bilder abzuschütteln. An Schlaf war nun überhaupt nicht mehr zu denken.
Nachdem sie ein paarmal unruhig im Zimmer auf und ab gelaufen und der Tränenfluss gestoppt war, beschloss sie, ins Wohnzimmer zu gehen und den Fernseher einzuschalten. Jetzt bloß keinen Krimi schauen. Lieber eine schnulzige Romanze oder das Guten-Morgen-Programm für früh aufstehende Rentner. Beim Umschalten erwischte sie die Nachrichten und konnte einfach nicht wegschalten, obwohl sie das, was sie nun erfuhr, bereits wusste und gar nicht mehr sehen wollte. Die Nachrichtensprecherin berichtete mit besorgtem Gesicht von den Vorkommnissen in dem kleinen Dorf Jüterbog, in dem wir mit unseren Eltern leben.
„Vier Menschen sind noch immer spurlos verschwunden. Vor ungefähr vier Wochen wurde ein 20-Jähriger als vermisst gemeldet. Er verschwand am Nachmittag auf dem Weg zu einem Freund. Einen Tag darauf geschah es, dass seine ein Jahr jüngere Schwester am Abend Freunde verließ, aber nie zu Hause ankam. Dieses Ereignis wiederholte sich zwei Wochen darauf. Ein 21-Jähriger verschwand spurlos, genauso wie zwei Tage darauf seine zwei Jahre ältere Schwester, die nach dem Ende ihrer Nachtschicht im Krankenhaus um vier Uhr nicht nach Hause zurückkehrte. Die Polizei hat keinerlei Hinweise und es gibt es keine Zeugen. Jedoch lässt sich ein Täter, der für alle Fälle verantwortlich ist, nicht ausschließen. Wenn Sie etwas zu den Vorkommnissen wissen sollten, wenden Sie sich bitte an die Kriminalpolizei in Potsdam. Bisher sind zu wenige Hinweise eingegangen, um die Ermittlungen fortzusetzen. Die Polizei ist dringend auf Ihre Hilfe angewiesen.“
Auf dem Bildschirm hinter der Nachrichtensprecherin wurden die Fotos der vermissten Personen gezeigt. Plötzlich, ohne es zu wollen, tauchten jene Gesichter auch in Lorenas Vorstellungen auf. Unwillkürlich stellte sie sich diese blass und blutverschmiert vor ... tot.
Sie kniff die Augen zusammen, um nicht länger auf den Fernseher schauen zu müssen, und versuchte, diese grauenhaften Bilder aus ihrem Kopf zu verdrängen. Sie legte die Stirn in Falten und fuhr sich nervös durch ihre langen dunkelblonden Haare. Die Angst ließ sie nicht los. Denn niemand konnte sich mehr sicher fühlen. Aber was ihr am meisten Sorgen bereitete war die Tatsache, dass sie und ich ebenfalls Geschwister waren und das passende Alter hatten. Ich war zwar erst fünfzehn und meine Schwester achtzehn, aber schließlich war das jüngste Geschwisterkind, das verschwunden war, neunzehn gewesen.
Meine Schwester glaubte an einen Serienmörder, weil sie es für unmöglich hielt, dass zufällig zwei Geschwisterpaare innerhalb so kurzer Zeit verschwanden. Folgte man dem Muster, müsste ihr Bruder – also ich – als Erstes entführt werden. Auch der zeitliche Rahmen stimmte. Denn zwischen dem Verschwinden des ersten und des zweiten Geschwisterpaares waren zwei Wochen vergangen. Also wäre es nun wieder so weit. Jeden Tag hoffte meine Schwester, dass mir nichts passieren würde.
Ich hingegen hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, meinte nur: „Warum sollte gerade uns so was passieren?“ Aber das hatten die anderen Geschwisterpaare vermutlich auch gedacht.
Natürlich sah man zurzeit nur noch Gruppen von Menschen in der Stadt. Niemand traute sich mehr alleine vor die Tür. Niemand wusste, wer der Nächste war, der ohne jede Spur verschwand. Jeder redete nur noch über diese Vorfälle. Das machte Lorena langsam verrückt. Sie glaubte, ihr Albtraum hätte ihre Angst wegen dieser schrecklichen Situation ausgedrückt. Wäre hoffentlich nur die Widerspieglung ihrer Gefühle und Gedanken der letzten Wochen und keine schlimme Vorahnung. Zumindest versuchte sie sich mit diesem Gedanken zu beruhigen. Lorena schaltete den Fernseher nun wieder aus, denn nach dem Durchschalten hatte sie kein Programm gefunden, das sie hätte ablenken können. Als sie in der Küche die Kaffeemaschine betätigte, bildete sich ein Kloß in ihrem Hals, ohne dass sie genau wusste, warum das geschah.
Da vernahm sie Schritte, die sich die Treppe hinunter in Richtung Küche bewegten. Verschlafen und noch mit halb geschlossenen Augen wankte unsere Mutter herein.
„Lorena!“ Mama schnappte nach Luft. Sie schien meine Schwester erst jetzt wahrgenommen zu haben. „Du bist ja schon wach“, wunderte sie sich und schmunzelte etwas über ihre Erschrockenheit.
„Guten Morgen.“ Lorena brachte nur ein kleines Lächeln zustande.
Mama umarmte sie kurz. „Du kannst wohl auch nicht mehr ruhig schlafen?“, murmelte sie verständnisvoll.
„Ja, ich hatte einen Albtraum“, gab sie zu. „Ich glaube, der Einzige, der noch immer tiefen Schlaf findet, ist David“, sagte sie über mich.
„Das stimmt.“ Jetzt kam die Kaffeemaschine zu ihrem zweiten Einsatz.
„Du hast das Kaffeepulver vergessen“, bemerkte Lorena trocken. Früher hatte sie sich immer kaputtgelacht, wenn Mama das einem stressigen Morgen verschusselt hatte und sich so nur heißes Wasser in ihrer Tasse befand. Aber erstens konnte Lorena am heutigen Tag über nichts mehr lachen und zweitens war das ein schlechtes Zeichen, denn es war kein stressiger Morgen. Es war sogar noch viel zu früh. Keine Eile für Mama, um zur Arbeit zu fahren. Und wenn diese an einem ruhigen Morgen das Kaffeepulver vergaß, war das eben ein sehr schlechtes Zeichen.
„Oh.“ Skeptisch schaute sich Mama den Kaffeeautomaten von oben bis unten an, als wäre er daran schuld. Eifrig korrigierte sie ihren Fehler, während meine Schwester den Kühlschrank und sämtliche Schränke öffnete und wieder schloss. „Was suchst du denn?“, fragte Mama.
Lorena lächelte, um ihre Nervosität zu überspielen. „Ich weiß nicht.“ Sie suchte etwas, das sie zum Frühstück essen konnte, aber der Appetit war ihr vergangen.
Nun betrat ich die Küche. Meine Schwester schloss mich viel länger als sonst in die Arme. Als wäre dies eine Verabschiedung, für die wir später keine Zeit mehr hätten. Ich verstand in diesem Moment noch nicht, was los war, warum meine Schwester so besorgt war. Sie versuchte zu lächeln und ich erwiderte es. Schließlich deckte ich den Tisch.
Lorena fand das zwar nett, musste mich aber unterbrechen. „David, mach nur dir was, wir haben keinen Hunger.“ Sie musste Mama nicht fragen, um das zu wissen.
„Warum denn? Ist etwas passiert?“, wollte ich wissen und blieb wie angewurzelt stehen, wobei ich drei Teller und Besteck in den Händen hielt. Eine ironische Frage eigentlich, denn in den letzten vier Wochen war in unserer Stadt das Schrecklichste passiert, was wir uns jemals hätten vorstellen können.
„Ich habe schlecht geträumt und einfach keinen Hunger“, kommentierte meine Schwester beiläufig, so als wäre das ganz normal.
Ich schaute zu Mama, um zu erfahren, ob auch sie wirklich nichts essen wollte, und sie schüttelte den Kopf. Daraufhin stellte ich nur einen Teller auf den Tisch, legte ein Brötchen auf den Toaster und wandte mich an meine Schwester. „Was hast du denn geträumt?“
„Das hätte ich lieber nicht erwähnen sollen“, dachte Lorena, bevor sie laut antwortete: „Ich möchte nicht darüber sprechen, ich will mich nicht noch mal daran erinnern. Es war schließlich nur ein Traum.“
Ich akzeptierte ihre Antwort, obwohl ich ihr ansah, wie sehr sie dieser Traum beunruhigen musste.
Plötzlich eilte meine Schwester ins Badezimmer. Ich wollte sie noch fragen, ob alles okay wäre, da war sie schon verschwunden. Ich lief ihr nicht nach, denn ich dachte, sie wollte lieber allein sein, vielleicht war ihr auch bloß schlecht geworden. Aber das war nicht der Fall, denn im Badezimmer angekommen, verstand Lorena nicht, warum mit einem Mal heiße, schwere Tränen über ihre Wangen strömten.
Panisch, dass sie jemand sehen könnte, schloss sie die Tür ab und flüsterte sich selbst zu: „Hör auf damit! Verdammt, warum weinst du denn?“ Doch dann brach ihre Stimme weg und es wurde nur noch schlimmer. Obwohl ihr die Tränen unkontrollierbar über die Wangen rannen, putzte sie sich die Zähne. Das hatte sie sowieso vorgehabt und sie hoffte, das würde sie ablenken. Aber ihre Tränen ließen sich durch nichts aufhalten.
Nachdem sie ihre Zahnbürste wieder weggestellt hatte, legte sie ihre Stirn auf den kalten Rand des Waschbeckens und atmete ein paarmal tief durch. Verzweifelt zwang sie sich aufzuhören ... damit aufzuhören, ohne Grund wie ein Kind zu heulen. Dann verließ sie das Badezimmer und war ihren Haaren dankbar, weil sie Teile ihres Gesichtes verdecken konnten. Länger hätte sie nicht im Badezimmer bleiben können, das wäre aufgefallen und schließlich mussten Mama und ich uns auch fertig machen.
Später standen wir bereits vor der Tür, als Mama zu uns kam und wie jedes Mal, wenn wir das Haus verließen, sagte: „Passt schön auf euch auf und bleibt zusammen.“
„Das machen wir“, versicherte Lorena.
„Das machen wir immer“, bestätigte ich.
„Ich weiß. Bis später.“
Mit unseren Schulranzen auf den Rücken machten wir uns an einem sonnigen, aber noch kalten Morgen auf den Weg. Lorena wirkte unruhig, ihre Augen waren weit aufgerissen und schauten ängstlich nach hinten, dann nach links, rechts, schienen alles abzusuchen, als hätte sie Angst, jemand würde uns verfolgen.
Ich wusste in diesem Moment nicht recht, was ich sagen sollte. „Alles klar?“, fragte ich zögerlich.
Sie wusste, dass sie mir eigentlich alles erzählen konnte, schließlich war ich ihr Bruder. Aber Lorena sah es als große Schwester vermutlich als ihre Pflicht an, mich nicht zu beunruhigen. Also sprach sie nicht über ihre persönlichen Sorgen, sondern nur über das, was ich ohnehin schon wusste.
„Weißt du, ich habe diese Situation satt. Zwei Wochen sind rum. Bald werden die nächsten Personen verschwinden. Geschwister – wie wir. Sie tun mir so leid. Warum kann die Polizei dieses Monster nicht endlich finden, das für all das verantwortlich ist?“ Oder zumindest die Vermissten, falls sie überhaupt noch lebten ...
„Vielleicht hört es auch auf. Und die Polizei wird schon bald einen Hinweis finden“, versuchte ich sie zu beruhigen.
Da sahen wir auch schon Tim, der vor seiner Haustür auf uns wartete, er winkte uns zu, lächelte und begrüßte meine Schwester mit einem kurzen Kuss wie immer. Als er ihr besorgtes Gesicht wahrnahm, schloss er sie fest in die Arme. Mich begrüßte er per Handschlag, bevor er Lorenas Hand ergriff und wir unseren Weg fortsetzten.
Meine Schwester bemerkte gar nicht, wie unruhig ich wurde, als wir bei Franziskas Haus anhielten. „Sie kommt bestimmt gleich raus, wir warten noch“, sprach ich das Selbstverständliche aus.
„Klar“, erwiderte Lorena.
Ein Lächeln trat auf mein Gesicht, als Franziska bereits nach wenigen Minuten durch die Tür schritt. Sie lächelte zurück und kam auf uns zu. Ihr Anblick ließ mein Herz schneller schlagen. Immer schneller. Sie sah wunderschön aus – wie immer.
Nachdem wir uns alle begrüßt hatten, setzten wir unseren Weg fort. Tim und Lorena gingen voraus, Franziska und ich hinterher. Wir waren schon seit der fünften in derselben Klasse, aber nun spürte ich, dass wir mehr waren als Klassenkameraden, da war mehr als Freundschaft. Diese Tatsache machte mich so nervös, dass mir die Worte fehlten. Aber das peinliche Schweigen konnte ich auch nicht ertragen. „Sag was, David! Dir fällt doch wohl was ein!“, ermahnte ich mich selbst.
Aber Franziska war schneller. „Hast du die Hausaufgaben in Mathe verstanden?“
„Ich habe sie nicht gemacht.“ Ich lachte kurz auf. „Trotzdem denke ich, dass ich es verstanden habe. Wenn du willst, kann ich es dir nachher in der Pause erklären“, sprach ich ihre Gedanken aus.
Sie grinste mich an. „Das wäre echt nett.“
Als wir den Schulhof betraten, sprang Lorenas beste Freundin Nele herbei und begrüßte uns gut gelaunt. Die Vorfälle der letzten Wochen schienen sie nicht so sehr zu beunruhigen wie meine Schwester. Lorena ging seit Wochen nicht mehr allein aus dem Haus, sondern fragte Nele ständig, ob sie sie begleiten würde, wenn sie etwas in der Stadt zu erledigen hatte. Sicher lag es auch daran, dass Mama das so wollte, nichtsdestotrotz war meine Schwester wirklich sehr besorgt. Das Schockierendste an der Sache für Lorena war, dass die Jungen sogar am helllichten Tag an öffentlichen Orten verschwunden waren, wo sich viele andere Leute aufhielten. Und das in unserer kleinen Stadt. Das bedeutete, dass man wirklich nirgendwo mehr sicher war. Und wieso gab es keine Zeugen? Nicht ein einziger Passant hatte bisher auch nur einen winzigen Hinweis gegeben. Und wieso verschwanden die Schwestern immer nachts oder spät am Abend, obwohl zumindest die zweite hätte wissen sollen, dass man bei Dunkelheit wirklich nicht allein herumlaufen sollte?
Nele erzählte aufgeregt von ihrer Theaterprobe am vergangenen Wochenende und riss meine Schwester aus ihren Gedanken. Ich hingegen war damit beschäftigt, meine Nervosität unter Kontrolle zu bringen, die Franziskas Anwesenheit verursachte.
Als die Schulglocke läutete, bahnten wir uns einen Weg durch die Massen der Schüler, um zu unseren Klassenräumen zu gelangen und den Lehrern für die nächsten sechs Stunden unsere Aufmerksamkeit zu schenken. Meine Schwester wusste, das würde ihr schwerfallen, trotzdem versuchte sie ihr Bestes.
Lorena hörte kaum noch zu, als der Lehrer zum zweiten Mal die Proteinbiosynthese viel zu detailliert erklärte, damit sie endlich von allen verstanden wurde. Meiner Schwester wurde beinahe schlecht, als sie sich vorstellte, wie die verschwundenen Personen litten, falls sie noch nicht ermordet worden waren. In einen dunklen, engen Raum gesperrt, vergewaltigt oder gequält. Was hatten sie wohl gerade zu erleiden? Und vor allem warum? Vor Lorenas Augen tauchten die Gesichter des letzten Geschwisterpaares auf, wie sie weinten, versuchten, einander in der Dunkelheit zu trösten, und schreiend gegen eine verschlossene Tür klopften.
„Alles okay mit dir?“, flüsterte Nele neben ihr.
„Ich habe seit heute Morgen irgendwie ein ungutes Gefühl. Als würde irgendetwas nicht stimmen“, gab Lorena zu.
„Was soll denn nicht stimmen?“
„Ich weiß nicht. Das Verschwinden der Leute aus unserer Stadt geht mir nicht mehr aus dem Kopf.“
„Du darfst dich da nicht reinsteigern, Lorena. Uns wird nichts passieren.“
Meine Schwester nickte nur und ließ Nele in Unkenntnis darüber, dass sie sich gar nicht um sich selbst sorgte, sondern vielmehr um die anderen. Die Vorstellung, dass ihrer besten Freundin, mir oder unseren Eltern etwas zustoßen könnte, war viel schlimmer als der Gedanke, selbst ein Opfer zu werden.
Währenddessen hatte ich ganze andere Dinge im Kopf. Unauffällig warf ich ab und zu einen flüchtigen Blick zu Franziska, die ein paar Plätze vor mir saß. Dem Lehrer hörte ich jedoch auch nicht zu. Franziska fuhr sich gedankenverloren durch ihre langen, dunklen Haare und spielte ab und zu mit einer Locke, die sie sich um einen Finger wickelte und anschließend wieder losließ. So ein süßer Anblick ...
„David?“
Ich fuhr zusammen. „Was?“
Ein paar Schüler lachten. Ich wurde rot.
„Hörst du noch zu? Ich hatte gefragt, ob du Aufgabe zwei erklären kannst. Die Hausaufgabe“, erläuterte der Mathelehrer.
Ich stockte kurz. Erst jetzt kam ich auf die Idee, mein Mathebuch aufzuschlagen. Noch mehr Gelächter. Nur Franziska lachte nicht, sondern schaute mich gespannt an. Mein bester Freund Nico, der neben mir saß, schob mir schnell sein Buch zu und zeigte mir die Aufgabe.
„Natürlich“, sagte ich schließlich.
„Kannst du die Aufgabe an der Tafel vormachen?“
Ich überlegte kurz. Zu Hause hatte ich sie zwar nicht gemacht, aber die Aufgabe schien einfach zu sein, man musste nur die Seitenlängen eines Dreiecks mit dem Satz des Pythagoras ausrechnen. Ein Taschenrechner schien nicht nötig zu sein, da würde keine krumme Zahl rauskommen.
„Ja“, sprach ich siegesgewiss, stand auf und ging zur Tafel. Ich würde wohl improvisieren müssen. Als ich die Kreide ansetzte, bildete ich mir ein, Franziskas bewundernden Blick in meinem Rücken zu spüren.
Seufzend stürmte Lorena nach dem Unterricht aus der Schule und wartete auf die anderen. Tim kam als Erstes und nahm ihre Hand, nachdem er sie umarmt hatte. Wenig später erschienen Franziska und ich. Meine Schwester musste grinsen, als sie sah, wie wir uns fröhlich unterhielten.
Als wir losgingen, fragte sie ihren Freund: „Möchtest du heute Nachmittag zu mir kommen?“
„Klar.“ Seine Augen strahlten.
Lorena gab ihm einen Kuss auf die Wange und lächelte. Dann machten die beiden eine Uhrzeit aus. Meine Schwester traf sich mindestens zweimal in der Woche und jedes Wochenende mit ihrem Freund. Gerne würde ich das auch tun, so sehr wünschte ich mir, dass Franziska meine Freundin wäre. Aber ich war mir nicht sicher, ob sie auch Interesse an mir hatte oder ob sie mich nur als Kumpel sah. So langsam wurde es Zeit, das herauszufinden, ich hatte es schon viel zu lange vor mir her geschoben.
Also fragte ich: „Was machst du heute?“
„Ich habe noch nichts vor.“ Sie lächelte.
Mein Herz raste, als ich fortfuhr: „Hättest du Lust, mit mir ein Eis essen zu gehen?“
„Das wäre toll.“ Franziska strahlte.
Ich atmete auf. „Ich hole dich dann ab, okay? Ich will nicht, dass du allein rausgehst.“
Sie lachte. „Du bist süß, danke.“
Ich wurde leicht rot. Hatte sie wirklich süß gesagt? Ich grinste.
„Aber was ist mit dir?“, fragte sie dann.
Ich wusste sofort, was sie meinte. „Ich komme schon klar.“
Franziska nickte zwar, aber ich sah ihr an, dass sie besorgt war, wenn ich allein rausginge. Doch ich hielt es für ausgeschlossen, dass mir heute etwas passieren könnte.
„Dein Bruder hat wohl eine Freundin gefunden“, flüsterte Tim meiner Schwester zu.
Lorena lächelte. „Ich glaube auch. Ich habe immer darauf gewartet, dass er sie endlich fragt, ob sie etwas zusammen unternehmen wollen.“ Sie freute sich in diesem Moment riesig für mich. Aber was sie noch bemerkte, war ein seltsames Gefühl, das sie nie zuvor so intensiv wahrgenommen hatte. Es war, als ob ihr jemand Löcher in den Rücken starren und jedes unserer Worte von unseren Lippen ablesen würde. Als würde uns aus der Ferne jemand beobachten und nur darauf warten, dass wir das Richtige sagten oder machten, dass irgendetwas Entscheidendes passierte. Lorena fragte sich, ob wir es auch spürten. Sie drückte ängstlich Tims Hand, als ihr Herz vor Aufregung zu rasen begann und ihre Handflächen feucht wurden. Genauso wie in ihrem Albtraum ...