Buch lesen: «Heul doch»

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Lisa Krusche

Heul doch


1.Als ich einmal, noch klein, fünf vielleicht, im Beisein meines Opas hinfiel und mir das Knie aufschlug, lobte er mich dafür, dass ich nicht weinte.

2.Seitdem habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, so oft und so viel zu weinen, wie es überhaupt nur geht.

3.Ich bin sofort in das nächste, halbseidene Tattoostudio marschiert und habe den Tätowierer mit meinem gesammelten Taschengeld und einigen Bonbons aus meiner Hosentasche bestochen, mir trotz meiner sehr sichtbaren Minderjährigkeit Cry me a river mit Zaubertinte auf meine Hand zu tätowieren. Man sieht es nur, wenn der Regen darauf fällt.

4.»Kennst du die Geschichte von Alice im Wunderland?«, fragte ich ihn in das Surren der Tätowiermaschine hinein.

»Nein«, sagte der Tätowierer, der keiner war, der viel las.

»Manchmal befiehlt sie sich selbst mit Weinen aufzuhören.« Ich schaute ihn an, er schaute konzentriert auf meine Hand. »So zum Beispiel: ›Still, was nützt es so zu weinen! sagte Alice ganz böse zu sich selbst; ich rathe dir, den Augenblick aufzuhören!‹ Es gibt noch ein paar mehr Stellen, an denen sie weint und in denen sie sich selbst oder der Erzähler sie dafür schilt, dass sie es tut.«

»Aha«, sagte der Tätowiere, der wie mein Vater nach Rauch roch und von dessen Haut am Hals kein einziges Stück zwischen den vielen Tattoos sichtbar war.

»Ich kann beide nicht leiden«, sagte ich. Dann schwiegen wir.

»Wusstest du«, sagte er irgendwann, »dass eine weniger bekannte Bedeutung von Tränentattoos in ihrer Funktion als Herabwürdigung der Träger liegt? Gefangene aus US-amerikanischen Haftanstalten berichteten, dass sie von anderen Insassen gezwungen wurden, sich ein Tränentattoo stechen zu lassen, um zu zeigen, dass sie verweichlichte Männer sind, die dem Idealbild eines Mannes nicht entsprechen können.«

5.Ich bat ihn daraufhin, mir vier Tränentattoos zu stechen. Zwei unter dem rechten, eins unter dem linken Auge und eins neben dem linken Mundwinkel.

6.Es scheint mir sehr logisch, sich 1 tear drop neben den Mundwinkel zu tätowieren. Wegen des engen Verhältnisses zwischen Worten und Tränen, zwischen Sprache und Tränen, die Wechselwirkung, das gegenseitige Einspringen, wo die jeweils andere Ausdrucksform versagt.

7.Eine Hookline von Jay-Z lautet: »I can’t see ’em comin down my eyes / So I gotta make the song cry.«

8.Weil ich schon als junges Mädchen zu den Versprechen stand, die ich mir selbst schwor, und die Tattoos als Erinnerung daran hatte, musste ich niemals einen Song für mich weinen lassen.

9.Ich könnte mit meinen Tränen Minzfelder wässern. Apfelminze und Marokkanische Minze und Nana-Minze und Schokoladenminze und Pfefferminze.

10.Minze braucht sehr viel Wasser.

11.Ich könnte meine Tränen in kleinen Flaschen sammeln und als Haarwasser verkaufen. Beachwaves garantiert.

12.Ich könnte mir ein Papierboot bauen und auf meinem Tränenmeer umherschippern.

13.»Das Weinen wollte gar nicht mehr aufhören. Alice weinte so lange, bis die literweise verflossenen Tränen um sie herum eine etwa 10 Zentimeter tiefe Pfütze bildeten.«

14.Alices zuvor vergossene Tränen waren für die nun winzige Alice zu einem großen See, ja zu einem Meer aus Tränenwellen geworden. Wie sie also so durch das Wasser schwamm, hörte sie ein Geräusch und sah weiter hinten eine andere Gestalt im Wasser.

»Dort schwimmt ja ein Flusspferd, dachte Alice; deshalb schlüpfte sie schnell in die Glasflasche, die auf dem Wasser schwamm. In der schaukelte sie dann wie in einer Flaschenpost auf ihren Tränenwellen.«

15.Tränen müssen immer salzig schmecken. Der Organismus bewegt Wasser, indem er ein Gefälle in der Konzentration von Salzen erzeugt und dieses als Triebkraft für Flüssigkeitsbewegungen nutzt. Um Wasser in das Lumen des beerenförmigen Endes der Tränendrüse zu befördern, werden dorthin zunächst Salze abgegeben, denen dann nach dem Prinzip der Osmose Wasser aus dem umgebenden Gewebe folgt.

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