Elmsfeuer

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6. Der Feuerberg

»Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes…«

Kreszentia Rausch war viel zu durcheinander, um sich über das zertrümmerte Geschirr zu ärgern, das in der Küche verstreut lag.

»Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus…«

Die Jungfrau Maria hatte nie zu Kreszentia Rauschs bevorzugten Heiligen gehört. Das hatte familiäre Gründe, über die sie am liebsten nicht mehr nachdachte. Jetzt aber fiel ihr keine Andere ein, die sie in dieser Situation um Beistand bitten konnte.

Sie hatte sich inzwischen damit abgefunden, dass die Elmsfeuer anderen Regeln folgte, als jene Schiffe, die sie aus Büchern oder dem Fernsehen kannte. Ihre Angst vermochte das nicht zu lindern.

Mehrmals hintereinander bekreuzigte sie sich. Die Mutter Gottes aber schwieg.

Kreszentia Rausch schaltete das Radio ein.

»Sie hören Kanal 5 über Mittelwelle. Wir unterbrechen unser Musikprogramm für eine aktuelle Meldung. Offiziell unbestätigten Berichten zufolge hat ein großer Teil der isländischen Bevölkerung offenbar beschlossen, nicht auf ein nach wie vor ausstehendes Krisenmanagement seiner Regierung zu warten. Seit mittlerweile fast zwei Stunden sind große Flüchtlingsströme auf der Insel zu beobachten.

Die Mehrheit der Menschen sucht, per Auto, Zug oder Bus, ihr Heil im Norden des Landes, während eine, ebenfalls beachtliche, Minderheit mit Hilfe aller seetauglichen Schiffe Schutz auf dem offenen Meer sucht.

Welche der Gruppen die bessere Wahl getroffen hat, werden vermutlich die nächsten Stunden zeigen. Inzwischen herrscht in Fachkreisen Einigung darüber, dass ein Ausbruch des Vulkans Grimmwasser kurz bevor steht. Ozeanologen berichten von einer nie dagewesenen Wanderbewegung riesiger Fischschwärme, sowie von Walherden, die vom Gebiet vor der isländischen Küste aus dem offenen Meer zustreben. Soweit von uns. Wir melden uns in einer Viertelstunde wieder mit den neuesten Nachrichten. Sie hören Kanal 5…«

***

Weder Mousson, noch der Kapitän hatten damit gerechnet, dass der Wind nachlassen und das Wetter sich bessern würde. Doch genau dies war in den letzten Minuten geschehen.

Durch den wolkenverhangenen Himmel brach die Sonne, und vor ihnen stieg die isländische Küste aus dem Meer.

Jeder, der auf einem Schiff fuhr, kannte das Reden von der Ruhe vor dem Sturm. Nun aber war der Sturm verstummt, in Erwartung eines Ereignisses, von dem keiner sagen konnte, wie es aussehen würde – und ihr Schiff hielt steuerlos darauf zu.

Mousson bemerkte, wie längsseits etwas an die Oberfläche schoss. Er sah genauer hin. War das die Möglichkeit? Er rieb sich die Augen.

Tatsächlich. Es handelte sich um den gewaltigen, zerpflügten Körper eines Wals, der dort auf dem Wasser trieb und es dunkelrot färbte.

»Da haben wir unser Riff, Captain… ein Blauwal… und wir haben ihn erlegt… nein… zerlegt.«

Der Kapitän nickte schweigend.

»Ich vermute, ein Teil dieses Tiers hängt zwischen Ruder und Schiffsschraube fest. Es wird eine hübsche Sauerei geben, das wieder freizukriegen.« Sein Mund verzog sich zu einer merkwürdigen Grimasse.

»Wir sollten das Problem allerdings zügig in den Griff kriegen, solange die See noch so ruhig ist. Am besten, ich betraue Mommsen und… Brovny mit der Angelegenheit… denn…«, er hielt inne, »wie Sie wissen, habe ich heute noch etwas… Anderes zu tun…«

Der Kapitän seufzte. Er bückte sich, um die über den Boden verteilten Papiere einzusammeln und auf dem Kartentisch neu zu sortieren.

Mousson sah aus dem Fenster. Inzwischen herrschte beinahe klare Sicht, und das Wasser vor ihnen war mit Schiffen aller Bautypen und Größen übersät. Sie alle kamen, einzeln oder in Gruppen, der Elmsfeuer entgegen. Ihre Sirenen schrillten wütend, wenn eines davon ihnen ausweichen musste.

»Die sollen sich mal wieder einkriegen«, Mousson stieß ein fatalistisches Lachen aus. Dann murmelte er: »Es sieht fast aus wie eine Parade… eine große Parade… der Angst.« Wieder lachte er. »Was meinen Sie, Captain, wie lange haben wir noch? Eine Stunde? Zwei? Das tote Tier in unserem Ruderblatt hält uns ganz schön auf.« Er verstummte und dachte nach. »Am besten nehme ich eines unserer Boote und fahre damit an Land. Denn… wenn ich zu spät komme, dann… na, Sie wissen ja selbst…« Wieder rieb er sich mit seiner rauen Hand über das Gesicht.

»Ich werde den Doktor mitnehmen, zur Sicherheit… alle anderen bleiben an Bord… Ausnahmen gibt es keine… und dann… heißt es beten«, die Hand in seinem Gesicht blieb stehen, »zumindest für diejenigen von uns, die noch wissen, wie das geht…«

***

»Haben Sie so etwas schon einmal gesehen, Brovny?«

»Njet.«

»Ich auch nicht. Und ich möchte es, ehrlich gesagt, auch nicht noch einmal sehen.« Mommsen fuhr sich mit dem Ärmel seiner Jacke über die Augen. »Wie wenig von einem so mächtigen Tier bleibt, wenn es tot ist. Die ganze Kraft, alle Majestät… weg.«

Er und Brovny hatten sich über die Reling des Achterdecks gelehnt, um den Kadaver des verendeten Wals besser begutachten zu können, der vor ihnen auf dem Wasser trieb.

Mommsen atmete durch den Mund. »Kaum zu glauben, wieviel Gestank von einem Tier ausgeht, das sich zeitlebens im Wasser aufgehalten hat.« Brovny brummte etwas, das nicht zu verstehen war.

Mommsen überprüfte den Sitz seines Krawattenknotens und nieste.

»So«, sagte er verkniffen, »ich glaube, ich habe genügend Eindrücke gewonnen. Höchste Zeit, dass ich mich wieder meinen Pflichten zuwende. Bei der Kollision mit dieser unglücklichen Kreatur ist bestimmt einiges durcheinander geraten.« Er stieß sauer auf und grinste: »Das Geheul unserer beiden Touristen klingt mir jedenfalls schon jetzt deutlich in den Ohren.«

Brovny verzog keine Miene.

»Das Geschrei, von dem sie sprechen, kann ich Ihnen vorerst ersparen, Mommsen.« Der Stewart drehte sich überrascht um und sah Mousson eilig auf sie zukommen. »Ich vermute aber, Ihr eigenes Geschrei wird kaum leiser ausfallen, wenn ich Ihnen sage, welche Aufgabe der Kapitän und ich Ihnen zugedacht haben.«

Bei dem Wort »Aufgabe« nahm Mommsen unbewusst Haltung an. Mousson blieb vor ihm stehen und stemmte die Arme in die Seiten: »Sie werden sich umgehend in einen unserer schmucken Gummianzüge zwängen, sich eine Sauerstoffflasche auf den Rücken schnallen und zum Ruder hinuntertauchen…«

Mommsen kniff ungläubig die Augen zusammen. Mousson fuhr ungerührt fort: »Der Kapitän und ich vermuten, dass ein Stück dieses Wals sich in unserem Steuer verkeilt hat… was dringend in Ordnung gebracht werden muss… denn Sie wissen ja, was mit einem Schiff passiert, wenn sein Steuer nicht mehr funktioniert…«

Mommsen sagte nichts. Er schien fassungslos.

»Und unser Freund Brovny wird ihnen von Deck aus Hilfestellung leisten… nicht wahr, Brovny…?« Mousson klopfte dem Maschinisten aufmunternd auf die Schulter. Brovny nickte. Was um ihn herum vorging, erreichte ihn kaum noch, seit seine Tochter ins Meer gegangen war.

»Dann verlasse ich mich also auf Sie.« Mousson wandte sich zum Gehen.

Mommsen versuchte, seiner Empörung über Moussons Befehl durch lautes Schnauben Ausdruck zu verleihen. Seine Atemgeräusche wurden jedoch von einer aufkommenden Brise verschluckt. Er wusste ohnehin, dass es keinen Sinn hatte, sich zu widersetzen. Mit gesenktem Haupt machte er sich auf den Weg unter Deck. Dort, in einer kleinen Kammer auf Achtern, wurde die Tauchausrüstung verwahrt.

Brovny sah schweigend auf das Meer. Die Reling hob und senkte sich leicht im Takt der Wellen.

Mousson machte sich an einer der beiden Kurbeln zu schaffen, mit der die Beiboote herabgelassen wurden. Als die Tür der Deckluke schlug, drehte er sich erwartungsvoll um. Seine Miene hellte sich auf. »Elm, da sind Sie ja endlich… wieso brauchen Sie eigentlich immer so lange? Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

Das Beiboot klatschte auf das Wasser. Johnny enterte als erster die Strickleiter hinab. Diesmal ging es schneller als beim ersten Mal.

Mousson folgte dicht hinter ihm und stieß das Boot umgehend vom Schiff ab. Brovny warf ihnen von oben die Leine zu. Johnny knöpfte sich im Sitzen die dicke Wolljacke zu, die er in der Eile aus seinem Spind gerissen hatte.

»Die werden Sie dort, wo wir hinwollen, kaum brauchen«, brummte Mousson.

»Und… wo… ist das?« Es war Johnny alles andere als geheuer, dass sie als einzige auf die Küste zuhielten, während scheinbar die gesamte isländische Bevölkerung von dort das Weite suchte. Dank des Nachrichtentickers auf seinem Smartphone wusste er besser als Mousson, was los war.

Der richtete seine Konzentration darauf, den unzähligen Schiffen und Booten, die ihnen entgegenkamen, auszuweichen, und schwieg. Die Szenerie glich der eines Katastrophenfilms.

»Wieso, um alles in der Welt, fahren wir an Land?«, wiederholte Johnny schreiend seine Frage. »Was haben Sie dort vor? Und wieso brauchen Sie mich dafür?«

Mousson warf ihm einen knappen Blick zu, der ihn zum Schweigen brachte. »Das erfahren Sie noch früh genug.«

Johnny spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Sein Magen glich einer rotierenden Waschmaschinentrommel. Mit eisigen Händen krallte er sich am Bootsrand fest, der in der Brandung auf und nieder ging. Das Handy in seiner Tasche piepte. Mit einer Hand griff er danach. Das Display zeigte den Empfang einer Email. Er lud sie auf den kleinen Bildschirm und las, während kaltes Salzwasser ihm ins Gesicht schlug.

»Mein lieber Johnny Elm,

 

ich habe mich sehr gefreut, ein Lebenszeichen von Ihnen zu bekommen…«

Ein Fischkutter schoss so nah an ihnen vorbei, dass ihr Boot durch die Wucht der Bugwelle beinahe gekentert wäre. Johnny konnte gerade noch das Smartphone festhalten, bevor es über Bord ging.

»Ich kann mir gut vorstellen«, schrieb Professor Block weiter, »dass die Belastungen an Bord eines Schiffs mit denen in einer Klinik kaum zu vergleichen sind…«

Mousson riss so unvermittelt das Ruder herum, dass Johnny mit der Stirn gegen eine Metallkante geschleudert wurde. Vor seinen Augen tanzten Sterne. Aus einer kleinen Wunde über dem Auge rann Blut, lief warm den Nasenrücken entlang bis über den Mund. Er leckte es mit der Zunge weg und las weiter: »Bei jedem meiner Schützlinge, der sich in eine ähnliche Situation begeben hätte wie Sie, würde mir die Sorge den Schlaf rauben. Ich sorge mich auch um Sie, mein lieber Elm, dessen seien Sie versichert – aber ich weiß auch, dass jemand Ihrer Willenskraft und Ihres Durchsetzungsvermögens am Ende gestärkt aus einer derartigen Reise hervorgehen wird. Bewahren Sie sich, wie die Engländer sagen, eine steife Oberlippe!

Es grüßt Sie, in Hoffnung auf eine baldige Antwort, sehr herzlich: Ihr Maximilian Block.«

Johnny ließ das Handy zurück in die Tasche rutschen und zog den Reißverschluss zu. Die Worte seines einstigen Mentors verliehen ihm neue Kraft. Trotzig hob er den Blick über die Kante des Boots. Die Küste war kaum mehr 50 Meter entfernt.

Am Strand sah er unzählige, verstört durcheinander laufende Menschen, die verzweifelt darauf warteten, ob eines der verbliebenen Schiffe sie an Bord nehmen würde.

***

Lorna stellte eine Garnitur von Erste-Hilfe-Material zusammen. Mommsen hatte sie darum gebeten.

»Sich mit Brovny einer technischen Herausforderung zu stellen«, hatte er geunkt, »heißt sehenden Auges in einen rotierenden Ventilator zu fassen.« Mit diesen Worten war er missmutig Richtung Oberdeck verschwunden.

Während sie das Verbandszeug so übersichtlich wie möglich auf einem Tablett drapierte, um im Notfall raschen Zugriff darauf zu haben, ging Lornas Blick durch das Bullauge nach draußen. Sie stutzte. Was war das für ein Seil, das dort kaum merklich hin und her schwang? Sie legte die Mullbinden beiseite und stellte sich direkt vor das Fenster. Das Tau musste oben an der Reling festgeknüpft sein. Sein unteres Ende tanzte, gut zwei Meter tiefer, auf den Wellen. Lorna presste ihr Gesicht fest gegen die Scheibe, um noch mehr erkennen zu können. Und tatsächlich wurde sie fündig. Keine zwanzig Meter vom Schiff entfernt, trieb eines der zwei Beiboote auf dem Wasser. Und in ihm, sie traute ihren Augen nicht, saß das junge Ehepaar. Wie es aussah, hatten die beiden es nicht geschafft, den Motor zum Laufen zu bringen. Deshalb stießen sie unbeholfen mit den Notrudern ins Wasser. Die Strömung trieb sie auf das Ufer zu. Hatte Mousson nicht strikte Anweisung gegeben, dass alle, wirklich alle von ihnen an Bord zu bleiben hatten? Wussten die beiden nicht, wie gefährlich das war, was sie soeben taten?

Lorna schüttelte verwundert den Kopf. Danach wandte sie sich wieder ihrer Notfallausrüstung zu. Meldung konnte sie später machen. Sollte der arrogante Mousson seine Schäfchen doch selbst im Blick behalten.

Außerdem waren die Zwei alt genug – und sie beileibe nicht ihr Kindermädchen.

***

Brovny stand an der Reling und beobachtete konzentriert die Wasseroberfläche.

Er musste nicht lange warten. Die Leine, an der Mommsen sich in die eiskalte See hinabgelassen hatte, zuckte dreimal kurz hintereinander. Das war das Zeichen. Brovny packte mit beiden Händen zu. Um Halt zu haben, saß er auf den Planken und stemmte sich mit dem verbliebenen Bein gegen die Wand der Reling. Zentimeter für Zentimeter zog er so das Seil an Deck. Ein ausgesprochen mühsames Unterfangen. Doch sah man ihm die Anstrengung kaum an. Wenig später hatte er Mommsen an Bord gehievt. Der Stewart nahm prustend das Atemgerät aus dem Mund. Mousson und der Kapitän hatten mit ihrer Vermutung richtig gelegen.

Das Ruderblatt wurde tatsächlich von einer, wie Mommsen mehrmals betonte, äußerst unappetitlichen Mischung aus Walfett, Fleisch und vermutlich zerfetzter Muskelmasse blockiert. Er zeigte wenig Lust darauf, noch einmal an seinen feuchten Arbeitsplatz zurückzukehren. Es blieb ihm jedoch keine Wahl. Während er wieder auf die Reling stieg, gab Brovny seinen Befund per Funk an die Brücke durch.

Mommsen seufzte tief, brachte das Mundstück des Atemgeräts zurück in Position und ließ sich rückwärts von der Brüstung fallen. Mit lautem Klatschen schlug das trübe Wasser des Nordatlantiks über ihm zusammen. Für einen Moment glaubte Brovny, statt der Neoprenkapuze das Rot einer Strickmütze zu erkennen.

***

Die Zahl der Fliehenden ging in die Tausende.

Mousson und Johnny bahnten sich hastig einen Weg durch das Gedränge. Babys plärrten, Kinder schrien nach ihren Eltern, Mütter nach ihren kleinen Töchtern und Söhnen. Die Zahl der noch verfügbaren Schiffe war viel zu gering, als dass sie alle von ihnen hätten aufnehmen können. Jeder musste das sehen, aber die wenigsten wollten es wahrhaben. Wieso, fragten sich die meisten, sah ihre Regierung in Reykjavik tatenlos zu?

Mousson und Johnny kamen an einem alten Mann vorbei, den der Strom der Flüchtlinge zu Boden gerissen hatte. Achtlos und gehetzt trampelten die Menschen über ihn hinweg. In seiner zerknitterten Hand hielt der Alte Zähne, die ihm rücksichtslose Fußtritte ausgeschlagen hatten. Sein Mund, ein leeres, blutendes Loch, war zu einer heulenden Fratze verzerrt. Johnny wollte niederknien, um ihm zu helfen, doch Mousson packte ihn an der Schulter und zerrte ihn weiter.

Johnny spürte, wie langsam seine Kräfte nachließen. Eigentlich war er ein sportlicher Typ, doch der Bewegungsmangel an Bord begann bereits, seine Kondition zu mindern.

Hastig hatten sie einen halben Kilometer oder mehr zurückgelegt. Die Masse der Leute, die dem Wasser zustrebten, nahm ab. Es waren noch immer viele, die ihnen entgegenkamen, aber endlich war es wieder möglich, frei zu atmen.

Mousson drehte sich zu ihm um. »Sagt Ihnen der Name Dla Ruk etwas?«, rief er.

Johnny überlegte: »Dla Ruk… Dla Ruk… nein, das sagt mir eigentlich… doch, halt… ist das nicht der Schmied aus irgendeiner dieser alten nordischen Sagen…?«

Mousson nickte.

»Wieso fragen Sie mich nach ihm?«

Der Offizier zögerte. »Weil wir uns… auf dem Weg zu ihm befinden.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Wonach klingt es denn?«

Johnny kniff ungläubig die Augen zusammen. »Wir befinden uns auf dem Weg zu Dla Ruk, der Sagengestalt?«

Mousson schüttelte unwirsch den Kopf. »Hat man Ihnen in der Schule nicht beigebracht, dass jede Sage einen wahren Kern enthält?« Darauf wusste Johnny beim besten Willen nichts zu erwidern.

Eine Weile stolperten sie nebeneinander her. Die Steigung hatte zugenommen.

Er wagte einen zweiten Versuch. »Und warum wollen…«

»Müssen«, unterbrach Mousson ihn schroff. Er schien die Frage erwartet zu haben.

»… müssen wir zu Dla Ruk?«

»Wie Sie schon ganz richtig bemerkt haben, ist Dla Ruk Schmied… nein, das stimmt so nicht… er ist der Schmied aller Schmiede… seit Anbeginn der Welt steht er Tag für Tag an seiner Esse und erschafft dabei den reinsten Stahl, den je ein… nun ja, Wesen auf dieser Erde zustandegebracht hat… wobei das, was für Dla Ruk ein Tag ist, bei uns Menschen fast fünfhundert Jahren entspricht…«

Johnny sah Mousson irritiert an. Langsam begann eine Ahnung in ihm zu wachsen. »Dann… ist es… kein Zufall… dass der Berg Grimmwasser… ausgerechnet jetzt…?«

Mousson hielt seinem Blick stand. »Der Berg hat seinen Namen von jener legendenumwobenen Quelle, in dem Dla Ruk seit jeher seinen Stahl kühlt, um ihn zu härten…«

»Und wir…?«

»… sind hier, um eines seiner Schwerter… in Empfang zu nehmen…« Mousson machte eine kurze Pause. Dann fügte er etwas hinzu, das Johnny einen kalten Schauder über den Rücken trieb: »Wir werden es… irgendwann brauchen.«

»Und… was ist meine Aufgabe… bei dieser… Sache?«

Johnny war beileibe kein ängstlicher Typ, doch was Mousson vorhatte, grenzte an ein Selbstmordkommando. Würde Dla Ruk ihnen, sofern es ihn überhaupt gab, kampflos eines seiner wertvollen Schwerter überlassen? Damit war nicht zu rechnen. Und: für wen brauchten Sie dieses Schwert? Oder sollte er besser fragen: gegen wen?

Vermutlich würden sie die Hitze im Inneren des Vulkans, der Dla Ruk angeblich als Schmiede diente, ohnehin nicht überleben… sie waren schließlich immer noch Menschen!

Er packte Mousson am Arm und zerrte ihn herum. Er musste ihm eine Antwort auf diese Fragen abtrotzen.

Mousson aber machte ihm auf grobe Weise klar, dass von ihm vorläufig keine weiteren Erklärungen zu bekommen waren. Johnny wich erschrocken zurück. Erschöpft, wütend und voller Angst drehte er sich um und sah hinunter auf das Meer. Sollte er einfach umkehren, das Beiboot besteigen und zur Elmsfeuer zurückkehren? Ohne Mousson?

Verstört ließ er seinen Blick über die Menschenmassen zu ihren Füßen wandern, die wie riesige Ameisen der Küste zustrebten. Er stutzte.

Zwischen den Köpfen glaubte er, zwei Personen ausgemacht zu haben, die sich gegen den Strom bewegten. Das war höchst merkwürdig. Er strengte sich an, mehr zu erkennen, und rieb sich die Augen. Nein, das konnte nicht wahr sein. Er musste sich irren. Hatte Mousson nicht befohlen, dass alle Passagiere der Elmsfeuer…? Noch einmal rieb er sich die Augen. Es war kein Zweifel möglich. Was er dort sah, war das junge Touristenpaar. Von ihrem Schiff. Er erkannte es an den Regenjacken, mit denen er sie oft an Bord gesehen hatte.

Waren die beiden von allen guten Geistern verlassen? Was taten sie hier? Warum waren sie ihnen gefolgt? Und wie? Sie konnten nicht allein mit dem Boot gekommen sein. Wieso hatten sie Moussons striktes Verbot, die Elmsfeuer zu verlassen, missachtet? Aus Leichtsinn?

Dummheit?

Er musste Mousson auf seine Beobachtung aufmerksam machen. Doch der ging bereits ein ganzes Stück voraus. Johnny lief ihm hinterher. Als er sich noch einmal kurz umdrehte, hatte er das Paar aus den Augen verloren. War er doch nur einer Täuschung erlegen? Regenjacken wie diese gab es viele.

Im selben Moment spürte er, wie der Boden unter seinen Füßen zu beben begann.

***

Brovny fing allmählich an, sich Sorgen zu machen.

Seit Minuten schon hatte er kein Lebenszeichen mehr von Mommsen bekommen. Die Leine, mit der er den Stewart an Deck vertäut hatte, war straff gespannt, bewegte sich aber nicht. Dabei hätte sie es tun müssen. Die Luftblasen, die anfangs noch zahlreich an die Wasseroberfläche gestiegen waren, wurden immer weniger und blieben schließlich ganz aus. Brovny sah nervös auf seine Armbanduhr, dann wieder auf das Wasser.

Nichts.

Auch die Leine rührte sich nicht. Zehn Sekunden wartete er und schlug dabei mehrmals gegen das Seil.

Keine Reaktion.

Noch einmal fünf Sekunden.

Diesmal riss er an der Leine, versuchte, sie zurück an Deck zu ziehen. Doch es ging nicht. Keinen Millimeter rührte sich das verdammte Ding. Es musste sich irgendwo verhakt haben. Noch einmal zehn Sekunden. Dann wusste er, was er zu tun hatte.

***

»So, hier ist es.«

Mousson hielt an und wartete, bis Johnny ihn eingeholt hatte. Dann wiederholte er: »Hier… ist es.«

Johnny sah sich um. Mousson wischte sich den Schweiß von der Stirn und deutete mit der Hand in eine bestimmte Richtung. Johnny entdeckte zwischen niedrigen Büschen einen breiten Spalt im Felsboden. Er blickte Mousson fragend an.

»Das ist er… der Eingang… einer der Eingänge… zum Berg…« Mousson hielt für einen Augenblick inne. Dann fuhr er fort: »Sehen Sie… dort oben!«

Johnny hob den Kopf und jetzt erst sah er, was ihm die ganze Zeit, in der er den Blick angestrengt auf den ungesicherten Weg vor sich gerichtet hatte, verborgen geblieben war: Hoch über ihnen thronte der Gipfel des Grimmwasser. Sein riesiger Krater fiel zu einer Seite hin steil ab, während die andere von gigantischen, gezackten Felsformationen gebildet wurde, die ihn an überdimensionale Reißzähne eines Hais erinnerten.

Die spärlich bewachsenen Hänge des Grimmwasser waren über und über von Rissen unterschiedlicher Größe durchzogen, aus denen übel riechender Dampf aufstieg. »Schwefel«, dachte er.

Erneut vibirierte die Erde unter ihren Füßen. Mit einem keuchenden Husten schreckte Mousson ihn aus seiner Naturbetrachtung auf.

 

»Los, kommen Sie, Elm! Wir müssen weiter…« Er bedeutete ihm, ihm zu der Felsspalte zu folgen. »Hier«, sagte er, »nehmen Sie das hier, und geben Sie gut darauf Acht, damit Sie es nicht verlieren.« Er drückte ihm eine stabile Taschenlampe in die Hand und knipste seine eigene an. Schweigend stand er da. Etwas schien ihn zurückzuhalten.

Hatte Mousson Angst?

Als habe er diese Frage gehört, ließ Mousson im selben Moment ein tiefes Seufzen hören. Dann packte er Johnny an seiner Jacke und zog ihn mit sich durch das steinerne Tor, das sich, wenige Meter entfernt, vor ihnen auftat. Gleich hinter dem von der Natur gemeiselten Eingang führte ein schmaler Weg mitten hinein in ewige Nacht.

Johnny schaltete ebenfalls seine Lampe an und beeilte sich, mit Mousson Schritt zu halten. Als er sich nach einer Weile noch einmal umdrehte, war der Eingang, durch den sie gekommen waren, nicht mehr als ein schwacher Lichtpunkt in der Ferne, der gleich darauf verglomm.

***

Keine Sekunde hatte Brovny gezögert.

Mit einem beherzten Griff hatte er sich seinen dicken Wollpullover vom Leib gerissen und war in das eiskalte Wasser gesprungen. Bei diesen Temperaturen war das feuchte Element ein unerbittlicher Todfeind, der ihn nur wenige Minuten am Leben lassen würde. Die Sicht ging bereits einen Meter unter der Oberfläche gegen Null. Mit seinem verbliebenen Bein strampelte er an der Rettungsleine entlang blind in die Tiefe. Als er die Höhe des Ruders erreicht zu haben glaubte, tastete er mit einer Hand suchend umher. Da! Da war etwas Weiches. Er griff fester zu, bekam einen schlaffen Körper zu fassen und zog vorsichtig daran. Ja, das musste Mommsen sein! Der Körper rührte sich nicht. War er nur bewusstlos… oder…? Brovny verbot sich, den Gedanken fortzusetzen. Stattdessen versuchte er, den Grund dafür zu finden, warum Mommsen nicht an Bord zurückgekehrt war. Schließlich fand er ihn. Er hatte sich mit einem Teil der Sauerstoffflasche zwischen Ruder und Heckwand verkeilt. Warum hatte er ihn nicht per Notleine alarmiert? Brovny durfte keine Zeit verlieren. Er zerrte an dem Geschirr, in dem die Atemgasflasche befestigt war. Jede Sekunde zählte. Doch das Bemühen blieb vergeblich. Lange würde auch er hier unten die Luft nicht anhalten können. Das Eiswasser war unerbittlich. Mit jedem Herzschlag kühlte sein Körper weiter aus. Was sollte er tun? Er spürte, wie es ihn zurück an die Oberfläche drängte. Verdammt, er konnte Mommsen nicht hier unten sterben lassen! Andererseits: Niemandem war geholfen, wenn sie beide hier unten zugrunde gingen.

Dann geschah etwas Seltsames. In Brovnys Kopf verlangsamte sich alles. Seine Umgebung veränderte sich. Das schwarze Wasser begann mit einem Mal grün zu schimmern. Ein beruhigender Ton, eine Art Singen, drang aus der Tiefe an sein Ohr. So, als höre er, schwimmend im Uterus, die Stimme der Mutter durch die Bauchdecke. War es jetzt vorüber? Ertrank er in diesem Augenblick?

Direkt vor ihm tauchte plötzlich ein Gesicht aus der unendlichen Weite des Ozeans auf. Ein wunderschönes Wesen ergriff mit beiden Händen seine Wangen und presste, ehe er wusste, wie ihm geschah, die Lippen auf seine. Er schloss die Augen, bereit, sie nie wieder zu öffnen. Genau so hatten Seeleute, denen er begegnet war, ihre Vorstellung vom Ertrinken beschrieben. Alle Angst war mit einem Mal verschwunden. Es war wie ein Rausch.

Als er nach einer gefühlten Ewigkeit die Augen wieder aufschlug, war das Wesen verschwunden. Um ihn herum herrschte die alte Dunkelheit. Etwas jedoch war anders. Seine Kräfte waren zu ihm zurückgekehrt. Er musste handeln. Erneut riss er an den Riemen des Geschirrs, und diesmal gelang es ihm, Mommsens reglosen Körper daraus zu lösen.

Er packte ihn im Rautek-Griff und zog ihn, so schnell er es mit einem Bein vermochte, hoch an die Wasseroberfläche. Keuchend und hustend schoss er mit dem Bewusstlosen an die Luft.

An Deck wartete bereits der Kapitän auf sie, der den Vorfall von der Brücke aus beobachtet hatte. Mit vollem Körpereinsatz beförderten sie zunächst den schlaffen Körper Mommsens über die Reling. Dann folgte der völlig erschöpfte Brovny. Ohne weiter Zeit zu verlieren, lagerten sie Mommsen rücklings auf die Planken. Sein Gesicht war bereits blau.

***

Tiefer, immer tiefer drangen Mousson und Johnny in den Berg vor. Mit jedem Meter, den sie gingen, nahm die Wärme zu. Johnny bemühte sich, nie mehr als zwei Schritte hinter Mousson zu bleiben, um ihn nicht zu verlieren. Allein hier unten zurückzubleiben, war seine größte Angst. Das Dunkel, das um sie herum herrschte, schien jeden Lichtstrahl zu schlucken. Die Kraft ihrer Lampen reichte kaum aus, das Stück Weg vor ihren Füßen zu erhellen. Gleich dahinter begann Nacht.

Auch der Schwefelgeruch, der ihm bereits im Freien aufgefallen war, gewann mit jedem Schritt an widerlicher Penetranz.

Seitdem sie die Höhle betreten hatten, war kein Wort mehr gefallen. Mousson legte ein mörderisches Tempo vor. Was trieb ihn derart zur Eile?

Ohne irgendeine Gewähr dafür zu haben, war Johnny bisher davon ausgegangen, Mousson werde sie beide sicher ans Ziel und unversehrt wieder zurück bringen. Was jedoch, wenn es nicht so war? Wenn Mousson das Innere dieses Berges genauso wenig kannte wie er selbst? Daran durfte er nicht denken! Das Wichtigste war, nicht vom Weg abzukommen, keinen falschen Schritt zu tun.

Einmal, es war keine Minute her, hatte er aus Unachtsamkeit und furchtsamer Hast den Fuß zu weit nach links gesetzt. Dabei war er gestrauchelt, und der Kegel der Taschenlampe hatte für Sekundenbruchteile beleuchtet, was jenseits des schmalen Weges lag. Der Anblick hatte Johnny so tief erschüttert, dass er fortan alle Konzentration auf den Boden vor sich gerichtet hielt. Denn links und rechts von ihnen war nichts. Ein bodenloses, tiefschwarzes Nichts.

Wie in Trance heftete er seinen Blick auf Moussons schwache Funzel, die vor ihm irrlichterte.

Wenig später blieb der Erste Offizier stehen.

Johnny konnte gerade noch bremsen. »Was ist?«, flüsterte er, aus Angst, seine Stimme könne Irgendwem ihre Anwesenheit verraten. Dabei war der Krach, der um sie herrschte, so stark, dass seine Worte ungehört verhallten. Ein fortwährendes Dröhnen drang aus der Tiefe zu ihnen herauf, ein mächtiges Stampfen, gebettet in einen wuchtigen Basston, der alles ringsum zum Zittern brachte. In seinem Rhythmus bebte der felsige Boden unter ihnen plötzlich so stark, dass Johnny unwillkürlich in die Hocke ging, um sich mit den Händen in das Geröll zu krallen. Denn rechts und links von ihnen gab es ja keine Wand, an der sie sich hätten festhalten können. Die Hitze machte ihm schwer zu schaffen. Sein Schädel summte. Mehrmals war er kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren.

Mousson allerdings schien hier die Stelle gefunden zu haben, nach der er gesucht hatte. Er blieb stehen und wartete, bis das Dröhnen ein wenig abschwoll. Dann bildete er mit beiden Händen einen Trichter vor dem Mund, holte tief Luft, und brüllte mit einer Kraft, die Johnny ihm nicht zugetraut hätte: »Torún Vadá O´Fyr. Belú Garýn, Dla Ruk!« Dann wartete er.

Johnny wusste nicht, was Mousson gerufen hatte. Trotzdem spürte er, wie seine Haare sich aufstellten. Den Namen Dla Ruks, des Schmiedes aller Schmiede, immerhin hatte er verstanden. In ihm toste es. Was hatte Mousson getan? Hatte er nach Dla Ruk gerufen?

Und: hatte dieser ihn gehört? Er wagte nicht zu atmen.

Moussons Blick war in die Dunkelheit gerichtet, als lausche er auf eine Antwort. Johnny war wie paralysiert. Das war alles nur ein Traum, alles nur ein Traum. Nie zuvor hatte er etwas derart Beklemmendes erlebt, denn: Mit Moussons Ruf war jedes Geräusch im Berg verstummt.

So still war es mit einem Mal, dass Johnny seinen eigenen, gepressten Atem hörte. Und den des Mannes neben sich. Was würde nun geschehen?

Er musste nicht lange auf eine Antwort warten.

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