Elmsfeuer

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Das Unwetter war inzwischen so nah, dass es jedes Licht in der Umgebung einfach verschluckte, und es schien, als führe die Elmsfeuer Meter für Meter in die ewige Nacht. Dabei war das Schiff noch fest vertäut.

Ein Netz aus züngelnden Blitzen spannte sich über die Wolken. Hin und wieder zerriss Donner die Stille im Hafen. Die Möwen hatten in dunkler Vorahnung ihr Kreischen längst eingestellt. Eine harte Bö traf das Schiff, und die Frontscheibe ächzte.

Mousson stellte sich neben den Kapitän und warf einen Blick in dessen leere Tasse. »Kein Zweifel, Captain, Sie sitzen auf dem Trockenen.« Er lachte heiser. Der Kapitän drehte sich langsam um. Er sah aus, als kehre er aus einem bösen Traum zurück.

Mousson sah aus dem Fenster: »Da braut sich ganz schön was zusammen. Weiß der Teufel, wann ich das letzte Mal solche Wolken gesehen habe. --- Was meinen Sie, Captain? Ja, ich bin im Maschinenraum gewesen… und… was soll ich sagen? Es war genau so, wie ich es vermutet hatte… wie… wir vermutet hatten. Nichts zu finden.

Rein gar nichts. Der Kessel hat nicht einmal eine Delle… zumindest keine, die nicht schon immer dort war… und die Maschine… lief bereits wieder… ja, sie lief wieder…« Er hing stumm seinen Worten nach. Seine Miene verfinsterte sich. »Aber… Brovny, Captain…«

Der Kapitän schloss die Augen.

»Es hat ihn ganz schön erwischt. Sein Bein. Sieht nicht gut aus. Gar nicht gut. Dieser junge Arzt versucht zu retten, was zu retten ist… ist noch ein ziemlich grüner Bursche… aber das muss nichts heißen… Elm ist sein Name. Elm. --- Ja, ich weiß, was Sie denken, Captain. Das habe ich auch schon überlegt…«

Der Kapitän entgegnete nichts, sondern wandte sich wieder dem Schauspiel am Himmel zu. Ein besonders heftiger Donnerschlag ließ die Scheiben klirren.

Mousson überlegte, ob er dem Kapitän etwas von dem Vorfall mit Rosina berichten sollte, als es vorsichtig an der Tür klopfte.

Beide Männer drehten sich um. »Herein.«

Mommsens Kopf kam durch den Türspalt. »Kapitän, Herr Mousson, ich wollte fragen, ob ich etwas für Sie tun kann. Einen Tee vielleicht?«

Mousson lüftete kurz die Mütze und brummte: »Da sind Sie ja endlich, Mommsen. Kommen Sie rein. Wo haben Sie denn die ganze Zeit gesteckt?«

Mommsen hüstelte verlegen. »Ich…«

»Ich weiß… Ihr Kopf… aber vergessen Sie bitte nicht, dass es außer der Baronesse noch andere Menschen an Bord gibt.«

»Sehr wohl, Herr Mousson.«

»Ich hoffe, wir haben uns verstanden.«

»Aye. Haben wir.«

»In Ordnung, Mommsen, dann wäre es jetzt äußerst zuvorkommend, wenn Sie uns eine Tasse Tee brächten. Schnell brächten, meine ich. Man sagt doch `brächten´, Konjunktiv, nicht wahr?«

»Absolut… `brächten´, Konjunktiv«, entgegnete Mommsen spitz. Mousson liebte es, Mommsens vornehme Ausdrucksweise aufs Korn zu nehmen, in dem er vorgab, bestimmte grammatikalische Zusammenhänge nicht zu kennen, obwohl sein Deutsch nach all den Jahren besser war als seine Muttersprache Französisch. »Aber passen Sie auf, dass Sie unterwegs nicht wieder mit einem Metallpfeiler kollidieren. Wir trinken unseren Tee nämlich gerne in der Tasse… und heiß, besonders bei einem Wetter wie diesem.«

Mommsen schluckte den Ärger über Moussons Arroganz hinunter und sah ebenfalls nach draußen. »Wird dieses… Wetter unser Auslaufen verzögern?«

»War das Wetter jemals unser Problem, Mommsen…?« Der Stewart stand verloren mitten im Raum.

»Lassen Sie´s gut sein, Mommsen. Denken Sie an den Tee…«

***

Es war nicht das erste Mal, dass Johnny mit einer Säge den Knochen eines Menschen durchtrennte. Doch das Geräusch, das dabei entstand, ging ihm immer wieder durch Mark und Bein. Zudem war das Ganze eine körperlich ausgesprochen anstrengende Tätigkeit, wenn man nicht, wie in seiner alten Klinik, eine elektrische Säge zur Verfügung hatte. Er spürte, wie ihm unter dem Hemd das Wasser Bauch und Rücken hinunter rann. Sein Schädel glühte. Vor und zurück glitt das blutige Sägeblatt. Seine Zähne, scharf wie die eines Hais, gruben sich in die poröse Masse, die einmal Brovnys Oberschenkelknochen gewesen war. Wie auch immer es möglich sein konnte, dass die Berührung eines Kindes mehr ausrichtete, als intravenös injiziertes Adrenalin und mehrfache Stromstöße, es durfte Johnny vorläufig nicht interessieren.

Was zählte, war, dass der Kreislauf sich stabilisiert hatte, und somit ein Funke Hoffnung auf einen glücklichen Ausgang der Operation bestand. Wieder wischte er sich über die Stirn und sah hinüber zu Lorna, die Brovnys Vitalfunktionen maß. Sie nickte zufrieden, und er sägte weiter. Dabei achtete er darauf, die wenigen intakten Weichteile nicht mehr als nötig in Mitleidenschaft zu ziehen. Nur so konnte die Wunde später heilen.

Rrr, rrr, rrr, ging das Sägeblatt. Johnny erhöhte die Schnittfrequenz. Sekunden später war es soweit. Es knackte scharf, als der Knochen endlich nachgab und Brovnys Bein sich vom Rest des Körpers löste. So schnell ging das vor sich, dass die abgetrennte Gliedmaße beinahe zu Boden gesaust wäre. Lorna reagierte blitzschnell und bekam das formlose Stück Fleisch rechtzeitig zu fassen. »Sie sieht aus, als hielte sie ein frischgeborenes Baby im Arm, die Brut eines Monsters«, schoss es Johnny durch den Kopf. Er richtete sich auf und atmete tief durch. Für einen Moment wurde ihm schwindlig. Er musste sich zusammenreißen.

Der Eingriff war noch nicht vorüber.

Ein Bein abzunehmen war das eine, das Überleben des Operierten zu sichern das andere, wesentlich schwierigere. Um weiterem Blutverlust vorzubeugen, mussten nach dem Durchtrennen der Extremität alle größeren arteriellen Gefäße abgeklemmt werden. In der Klinik hatte diese Aufgabe zu den Pflichten der Assistenzärzte gehört, und Johnny beherrschte sie im Schlaf.

Die jahrelange Übung spielte ihm nun in die Hände.

Ob seine Arbeit erfolgreich gewesen war, würden allerdings erst die nächsten Stunden und Tage zeigen.

Brovny lag noch in tiefem Schlaf.

Johnny zog die verschmutzten Gummihandschuhe ab und warf sie müde in den Mülleimer. Lorna, das Stethoskop auf den Ohren, folgte der Flugbahn der Handschuhe mit den Augen und lächelte. Es war ein sehr, sehr müdes Lächeln.

***

In der Kombüse der Elmsfeuer lief das Radio. Ein Moderator verlas mit sonorer Stimme den Schluss des Küstenwetterberichts. »Und hier die Vorhersage, gültig bis Mitternacht, für das Gebiet der Elbe von Hamburg bis Cuxhaven: Erwartet werden Winde der Stärke 2 bis 3, in Cuxhaven der Stärke 4, aus östlicher Richtung, die in ihrem Verlauf etwas zunehmen; das Ganze bei mittlerer bis guter Sicht. So weit für den Moment. Sie hörten den Küstenwetterbericht auf `Kanal 5´…«

Ein Jingle ertönte.

Kreszentia Rausch hatte nie in ihrem Leben ein Schiff aus der Nähe gesehen, geschweige denn eines betreten. Bis zum gestrigen Tag. Wie man Essen zubereitete, war ihr zwar aus Büchern bekannt, sie hatte es jedoch nie selbst ausprobiert. Die Entscheidung, als Köchin auf einem Schiff anzuheuern, war also keineswegs naheliegend gewesen.

Dennoch hatte sie genau diese getroffen, aus Gründen, die sie Fremden gegenüber lieber für sich behielt. Im Moment war sie ohnehin damit beschäftigt, alle Sachen, die bei der Detonation aus Schubladen, Schrankfächern und von den Wänden gefallen waren, wieder an ihren Platz zu bringen. Danach würde sie die weiträumig verteilten Scherben zusammenkehren und die Küche wieder in einen Ort verwandeln, der diesen Namen verdiente.

Das Entsetzen über die Explosion war noch nicht aus ihrem Gesicht gewichen. Sie hatte die furchtbaren Minuten des Bebens betend auf dem Boden zugebracht. Erst, als sich alles beruhigt zu haben schien, hatte sie mit dem Aufräumen begonnen und dabei vor sich hin gemurmelt »Ora et labora, bete und arbeite!«

Ordnung war das halbe Leben, und Unordnung verursachte Kreszentia Rausch schlechte Laune. Stille konnte sie ebenfalls nur schwer ertragen. Deshalb lief, wo immer sie sich aufhielt, ihr tragbares Radio. Wie gut es sich traf, dass die Kombüse nur ein Deck über dem Maschinenraum lag. Zusammen mit dem tiefen Brummen des Borddiesels und der damit einhergehenden Vibration bot das Radioprogramm ihr genau jene Atmosphäre der Unruhe, in der sie sich wohlfühlte. Und sobald Kreszentia Rausch sich wohlfühlte, schimpfte sie vor sich hin: »Wo gibt es denn so was? Glauben die, ich hab Lust, den ganzen Tag die Küche auf- und einzuräumen und dabei das halbe Geschirr wegzuwerfen? Na ja, die werden schon wissen, was sie tun. Aber noch so eine Geschichte, dann geh ich hinauf und sag Etwas… und, Kruzinesen, was ist denn schon wieder mit dem Radio los…?«

Der Moderator von `Kanal 5´ hatte das Mikrofon an eine Kollegin übergeben. Ihre Stimme verschwand allerdings immer wieder unter einer Decke aus Rauschen und pfeifenden Störgeräuschen. Kreszentia Rausch lauschte angestrengt. Trotz des schlechten Empfangs war zu hören, dass die Sprecherin Mühe hatte, ihren sachlichen Nachrichtenton aufrecht zu erhalten. Ihre gepresste Stimme verriet Sorge. »Wie der Deutsche Wetterdienst… mitteilt, ist derzeit über…. Gebiet… Hamburger Hafens… außergewöhnliches Wetterphänomen zu… beobachten. Es handelt sich… sogenannte `Superzelle´… gefährlichste bekannte Gewitterwolkenformation. Superzellen… bisher ausnahmslos in den USA und…. Tropen ausgemacht. Unsere Hörer werden desh… gebeten, zuhause… bleiben… sämtliche Türen und Fenster geschlossen… halten, bis die Wetterfront sich aufgelöst… Wir wiederholen: Bitte bleiben Sie in… Häusern und… Fenster geschlossen! Sobald… weitere… Inf…« Die Verbindung brach ab.

»Superzelle… heute ist immer alles irgendwie super… so ein neumodischer Blödsinn… aber das Wetter hat mir gerade noch gefehlt…« Kreszentia Rausch stapfte mürrisch zum Radio, um die gestörte Frequenz neu einzustellen. »Aber ich räum die Küche nicht noch einmal auf und fege die ganzen Scherben zusammen… wo bin ich denn hier…?« Als sie sich umdrehte, stieß sie einen erschrockenen Laut aus. »Jessas, Kind, wo kommst du denn her?«

 

Vor ihr stand ein kleines Mädchen, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, in einem hübschen roten Kleid mit weißen Punkten. Kreszentia Rausch entspannte sich wieder.

»Du bist mir vielleicht eine, dich hier so hereinzuschleichen. Wer bist du denn? Und wie heißt du?« Während sie das fragte, musste sie darüber schmunzeln, dass ihr eine so zarte Person einen solchen Schrecken eingejagt hatte. Das Mädchen gab keine Antwort und blinzelte die kräftige Frau mit der weißen Schürze neugierig an.

»Na, du musst mir deinen Namen ja nicht verraten, wenn du nicht willst. Wissen deine Eltern denn, dass du hier bist?«

Wieder schwieg das Kind.

»Bist nicht gerade eine große Rednerin, wie? Aber wenn du schon einmal hier bist… darf ich dir dann vielleicht eine Tasse mit heißer Schokolade anbieten… eine große Tasse? Ich meine, wenn ich zwischen den Scherben eine finde…«

Das Mädchen nickte erfreut. »Na also, da haben wir doch schon fast so etwas wie eine Unterhaltung. Dann setz dich mal da drüben auf die Eckbank am Tisch… und ich seh zu, was sich machen lässt.« Kreszentia Rausch stellte behände einen silbern glänzenden Topf auf die Herdplatte und ging hinüber zu einem der beiden großen Kühlschränke.

Die Kombüsentür wurde ohne vorheriges Klopfen geöffnet.

»Guten Tag, Frau, ähm, Rausch… Ihr Name war doch Rausch, nicht wahr?«

Kreszentia Rausch schob mit dem rechten Fuß die Kühlschranktür zu und öffnete mit kräftigem Ruck eine Milchtüte. »Ganz recht. Und mit wem haben wir das Vergnügen?« Sie beäugte den Eindringling in ihr Reich misstrauisch. Der Fremde nahm Haltung an. »Mommsen. Erster Stewart an Bord.«

»Aha. Erster Stewart.« Kreszentia Rausch hob eine Augenbraue. »Welche Ehre. Sie sind doch nicht etwa gekommen, um beim Aufräumen zu helfen?«

Mommsen schüttelte missbilligend den Kopf. »Mein Aufgabenbereich als Erster Stewart auf diesem Schiff ist klar umrissen…«

Kreszentia Rausch goss laut plätschernd Milch in den Topf auf dem Herd und konnte dabei nur schwer ein spöttisches Grinsen unterdrücken. »Ach so… klar umrissen…«

»… auch wenn manche Leute an Bord, das Offizierskorps eingeschlossen, mich gerne als `Mädchen für alles´ betrachten.«

Die Köchin stellte die Milch zurück in das Kühlfach und schloss krachend die Tür. »Weshalb sind sie denn nun gekommen?«

»Ähm, richtig: Tee.« Mommsen hob die Nase. »Ich hätte gerne zwei Earl Grey, einen für den Kapitän und einen für Philippe Mousson, unseren Ersten Offizier und Steuermann. Und das Ganze bitte so schnell wie möglich.«

»So schnell wie möglich«, wiederholte Kreszentia Rausch, stellte die Tasse mit der heißen Schokolade vor dem Mädchen auf den Tisch und zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

Mommsen blickte streng. »Weiß ihr Vater, dass Rosina sich hier bei Ihnen aufhält?«

»So? Rosina heißt du also, Kleine.« Kreszentia Rausch drehte sich wieder zu Mommsen um. »Was der Vater weiß, weiß ich leider nicht. Ich habe ihn bis jetzt nicht kennen gelernt. Und seine Tochter ist, allem Anschein nach, nicht sehr gesprächig.« Sie strich dem trinkenden Mädchen sanft über das dunkle Haar. »Er wird sich schon melden, wenn er sie vermisst. So groß ist das Schiff ja nicht.«

»Ich fürchte, Rosinas Vater hat derzeit andere Probleme, als…« Mommsen fiel ein, dass er über Brovnys schlimmen Zustand besser nicht vor dessen kleiner Tochter sprach, und wechselte schnell das Thema. »Sagen Sie, tut es Not, dass Sie das Radio derart aufdrehen?« Die Stimme der Ansagerin tönte blechern: »… wir wiederholen noch einmal eine Sturmwarnung des Deutschen Wetterdienstes: Wegen einer sogenannten `Superzelle´ im Gebiet des Hamburger Hafens werden Anwohner gebeten…«

»Dieses Gebrüll hält ja kein Mensch aus. Außerdem ist der Empfang gestört. Hören Sie das denn nicht?« Mommsen legte hektisch einen Kippschalter um. Die Durchsage verstummte. »Wenn ich weg bin, können Sie es meinetwegen wieder…« Der Rest seiner Ausführungen ging im Dröhnen des lauter werdenden Motors unter. Die Elmsfeuer begann erneut zu zittern. Kreszentia Rausch sah sich besorgt nach den frisch aufgeräumten Schränken um.

Mommsen rückte zufrieden seine Krawatte zurecht. »Na also, wer sagt´s denn? Die Maschine geht auf volle Kraft. Wir laufen aus. Endlich.«

»Und was ist… mit… dieser Superzelle?« Kreszentia Rausch deutete auf das stille Radio und legte die Stirn in Falten.

»Nun ja«, lächelte Mommsen, »es gibt Schiffe, die sind gegen jedes Wetter gefeit…«

Es beruhigte Kreszentia Rausch nur wenig.

***

»Wo haben Sie denn gelernt, solche Druckverbände anzulegen?« Johnny saß erschöpft auf einem der beiden Stühle neben der Krankenliege. Mit der Hand strich er anerkennend über die makellos weiße Kompressionsbandage, die Lorna soeben an Brovnys Beinstumpf angebracht hatte. Lorna blinzelte ungläubig. Mit Lob hatte sie nicht gerechnet. Nicht, nachdem Johnny sie Minuten zuvor noch derart zusammengeschrien hatte. Während sie versuchte, das lose Ende des Verbands mit einem Heftpflaster zu bändigen, entgegnete sie: »Und wo haben Sie gelernt, solche Amputationen durchzuführen?« Johnny musste lachen. Lornas selbstbewusste Art gefiel ihm. Erneut kontrollierte er Brovnys Puls und nickte zufrieden. »Es scheint tatsächlich, als hätten wir das Unmögliche geschafft. Der Mann lebt.«

»Ja«, fügte Lorna nachdenklich hinzu, »wenn auch mithilfe einer kleinen Elfe im rot-weiß-gepunkteten Kleid.«

Johnny wurde ernst. »Ja, merkwürdig, nicht wahr? Sie kam aus dem Nichts und ist dorthin auch wieder verschwunden. Wissen Sie, wer das Mädchen war?«

Lorna wiegte den Kopf. »Vielleicht… diese Rosina, von der Herr Mousson gesprochen hat… seine Tochter.« Sie deutete auf Brovny.

»Hm, ja… das könnte sein… sie muss sich gedacht haben… nach dieser Explosion… dass ihrem Vater etwas passiert ist… und…«

»Oder…«, Lorna senkte die Stimme, »sie war dabei, als es…«

»Dabei…?«

»… warum sonst sollte Herr Brovny ständig ihren Namen… bevor er… furchtbar…« Lorna verstummte.

Johnny spielte nervös mit der Blutdruckmanschette. »Das arme Kind. Ein Maschinenraum ist aber auch kein Spielplatz… zum Glück war sie unverletzt… hat die Kleine denn kein Zuhause… keine Mutter… an Land?«

Lornas Lippen begannen zu zittern. »Man kann es sich wohl nicht immer aussuchen…«

Johnny spürte, wie seine Augen erneut zu brennen anfingen. Ihm kamen Tränen. Rasch senkte er den Kopf, damit Lorna nichts davon bemerkte.

Dann erhob er sich und zog energisch Luft durch die Nase. »Wir sollten jetzt lieber den Stumpf des Patienten hochlagern und die Blutsperre lösen.« Lorna stand ebenfalls auf.

Das Brummen des Motors schwoll an. Das OP-Besteck auf dem Tisch klirrte leise.

Johnny hielt verwundert inne und sah durch eines der Bullaugen nach draußen. »Merkwürdig. Scheint fast, als würden wir auslaufen…« Sein Blick ging vom Fenster zurück zur Liege. Brovny atmete ruhig. »Ich dachte, für derartige Manöver benötigt man einen Maschinisten.« In Johnnys Gesicht zogen Sorge und Verärgerung auf. »Wie stellen der Kapitän und Mousson sich das denn vor? Wir können doch mit einem Frischoperierten nicht in See stechen. Dieser Mann hier muss dringend in ein Krankenhaus.« Als könne er nicht glauben, was passierte, sah er erneut durch das Bullauge und schüttelte grimmig den Kopf. »Es ist kein Witz… wir laufen tatsächlich aus…« Vor den Fenstern zogen langsam gewaltige Frachtcontainer vorbei. Dahinter ragten majestätisch die Kräne von »Blohm und Voss« in den Himmel. Schwarz wölbte sich die Wolkendecke über den Hafen. Blitze zuckten. Johnny fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und dachte nach. Er musste irgendwie reagieren, musste dem Kommandanten dieses Schiffes klar machen, dass er gegen jede ärztliche Vernunft handelte und die Grenze zur Fahrlässigkeit damit weit überschritt.

Dann stand sein Entschluss fest: »Frau Hoy, gehen Sie bitte sofort auf die Brücke und teilen dem Kapitän mit, dass wir nicht auslaufen dürfen, solange wir Herrn Brovny nicht in eine Klinik gebracht… und meinetwegen einen anderen Maschinisten an Bord genommen haben. Alles andere wäre unverantwortlich.«

Lorna wandte sich wortlos zur Tür.

»Wo bin ich hier nur gelandet?« Johnny befühlte Brovnys Schlagader und prüfte noch einmal den Verband. Als er wieder aufsah, war Lorna bereits fort. Das Schiff nahm Fahrt auf.

Er griff nach einem großen Kissen in der hinteren Ecke des Raums, faltete es in der Mitte und schob es vorsichtig unter den Beinstumpf. Dabei fiel die Pflasterrolle, die Lorna kurz zuvor dort liegengelassen hatte, scheppernd zu Boden. Johnny bückte sich, um sie aufzuheben, und machte eine Entdeckung, die ihn stutzen ließ. Neben der Pflasterrolle lag eine goldene Halskette mit einem Anhänger. Die Glieder der Kette schimmerten matt. Der Anhänger selbst hatte die Form eines Halbmonds und maß etwa drei Zentimeter. Mehr ließ sich nicht erkennen, denn das Schmuckstück war von einer schmutzigen Kruste überzogen. Johnny drehte den Fund hin und her, und mit einem Mal ergriff ein sonderbares Gefühl von ihm Besitz. Er spürte die Anwesenheit einer anderen Person, ganz in seiner Nähe. Doch es war Niemand zu sehen. Die Aura dieser Person, oder was immer es war, war Johnny vertraut. Aber so sehr er sich auch anstrengte, er konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte. Ganz still stand er und wartete ab, was passieren würde. Nach und nach merkte er jedoch, wie die Unruhe in seinem Inneren wieder schwand. Er wollte das Gefühl festhalten. Doch es ging nicht. Augenblicke später war es verschwunden. Wer oder was auch immer soeben bei ihm gewesen war, er war wieder weg.

In schmerzhaftem Wechsel überliefen Johnny kalte Schauder und Wellen wohltuender Wärme. Er verlor vollkommen die Kontrolle, und ohne, dass er sich dagegen wehren konnte, liefen ihm plötzlich Tränen über die Wangen. Er weinte, wie er seit Kindertagen nicht mehr geweint hatte, bis sein ganzer Körper davon geschüttelt wurde. So stand er einfach da, die verkrustete Kette in den Händen.

Ein Poltern schreckte ihn jäh auf. Er fuhr herum, und was er durch Tränenschlieren verschwommen wahrnahm, riss ihn schlagartig zurück ins Hier und Jetzt. Vor ihm stand, den rechten Arm auf die Stuhllehne neben sich gestützt: Leonid Brovny, der einbeinige Maschinist.

***

»Sie sehen doch, dass wir uns bereits in voller Fahrt befinden? Daran lässt sich nun nichts mehr ändern«, knurrte Mousson. Seine Hände hielten das Steuerrad fest, sein Blick wich dem Lornas aus. Die junge Frau war ihm eine Spur zu selbstbewusst, und Widerspruch, zumal von Rangniederen, schätzte er gar nicht.

In Lornas Gehirn arbeitete es. Wenn Brovnys mehr als kritischer Zustand nicht ausreichte, die Elmsfeuer zu stoppen, würde Mousson und den Kapitän womöglich etwas Anderes zum Einlenken bringen. Sie atmete tief durch: »Ohne Ihren Maschinisten werden sie nicht weiter als bis zur Nordsee kommen… und das wissen Sie…«, sagte sie sanft. Ein Schatten legte sich auf Moussons Züge. Seine Stimme allerdings verriet nicht, wie es in seinem Inneren kochte. Kalt lächelnd sah er Lorna ins Gesicht.

»Was wissen Sie denn, wie dieses Schiff funktioniert…? Sie sind seit gestern an Bord…«

Mit versteinertem Blick wandte er sich wieder dem Steuer zu. Für ihn war die Angelegenheit erledigt. Lorna bebte vor Wut und Enttäuschung.

Es klopfte an der Tür. Mommsen balancierte vorsichtig ein Tablett über die Schwelle, darauf eine dampfende Teekanne und zwei frischpolierte Tassen. »Ich bringe den Earl Grey, den Sie bestellt haben…« Er sah sich nach einem freien Platz zum Abstellen um. »Heißer als die Mädchen im Hafen von Shanghai…«

Der Kapitän wies ihm mit einem Kopfnicken den Kartentisch.

Lorna verstand, dass sie hier nichts würde ausrichten können. Was waren das für Menschen, denen ein Leben weniger zählte, als eine Tasse Tee?

Laut ließ sie die Tür hinter sich ins Schloss fallen.

Niemand auf der Brücke schenkte ihrem Abgang Beachtung. Mousson nahm einen tiefen Schluck, ächzte zufrieden und wandte sich dann dem Stewart zu, der abwartend Haltung angenommen hatte. »Mommsen, es sieht so aus, als würde dieses Unwetter doch noch über uns hereinbrechen…« Ohne die Kopfhaltung zu verändern, schielte Mommsen aus dem Fenster. »Was ich damit sagen will«, fuhr Mousson fort, »es könnte ein wenig ungemütlich werden unter Deck, spätestens wenn wir das offene Meer erreichen. Tragen Sie bitte Sorge dafür, dass unsere Passagiere informiert sind.« Er sah den Stewart streng an. »Alle Passagiere.« Mommsen zeigte keine Regung.

 

»Helfen Sie den Leuten, ihr Gepäck sicher zu verstauen und bei… Unwohlsein…«, Mousson lächelte, »sollen sie sich bitte an unseren Schiffsarzt wenden. Das ist alles. Sie können wegtreten.« Mommsen vollführte eine zackige Kehrtwende. »Aye, Aye.«

Kurz darauf waren Mousson und der Kapitän wieder allein.

Erste Regentropfen tippten an die Scheibe. Der Kapitän beugte sich über die Seekarte und zog mit einem Filzschreiber den Beginn einer schmalen violetten Line über das fleckige Papier.

Moussons Augen wanderten über das Vorderdeck. Der Bug der Elmsfeuer pflügte kraftvoll durch das Wasser. Hin und wieder bäumte er sich leicht auf, wenn eine größere Welle ihn traf. Die Nordsee war nicht mehr weit.

Plötzlich machte er im Zwielicht etwas aus, das ihn aufmerken ließ. Zwei dunkle Gestalten bewegten sich behände zwischen den Deckaufbauten. Er kniff die Augen zusammen. Keiner der Passagiere hatte bei diesem Wetter etwas an Deck verloren. Hatte Mommsen seine Anweisungen nicht befolgt?

Als eine der beiden Gestalten den Lichtstrahl einer Bordlaterne kreuzte, konnte Mousson das rote Kleid mit den weißen Punkten erkennen. Er stieß dem Kapitän sanft in die Seite. Der alte Seemann hob den Kopf, bis auch er es sah: Das kleine Mädchen schien über das Vordeck zu schweben. Er schloss die Augen. Ein Zittern ging durch seinen Körper, als durchführe ihn ein plötzlicher Schmerz. Als er die Augen wieder öffnete, blieb sein Blick blieb am Ladebaum hängen und erstarrte.

Mousson fuhr sich mit der Hand über eine Narbe, die von rechts der Nase quer über sein Gesicht zum Kinn lief und dafür sorgte, dass selbst bei geschlossenem Mund immer ein Stück seiner oberen Zahnreihe sichtbar blieb.

Um die Spitze des Ladebaums züngelte grünes Licht, ganz so, als habe jemand das Metall mit Phosphor bestrichen.

Moussons Lippen bewegten sich tonlos. Der Kapitän schwieg. Sie wussten beide, was das war. Elmsfeuer.

Da standen sie nun, die so viele Fahrten gemeinsam bestanden und dabei mehr als einmal dem Verderben ins Auge geblickt hatten, und waren nicht in der Lage, sich zu rühren.

Und sie standen noch immer, als die Elmsfeuer, an Cuxhaven vorbei, hinausglitt in die schwarze, offene See.