Eva

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Lilian Adams

Eva

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Carolina

Eva

Vor ziemlich genau sechzehn Jahren

Gegenwart

Laura

Fallende Muffins

TraumHeim

Grüße aus dem Erdbeerland

Einschlafschwierigkeiten

Weckerdilemma

Das Fußballturnier und der Besuch der „Schwieschwies“

Lauras großer Auftritt

Besuch von Cherie

Frau Speyrer

Michael

Besuchstermin

Besuch bei Marie in der Buchhandlung

Wettlauf gegen die Amtsgewalt

Carolina testet das Fitnessstudio

Michael nach dem Training

Evas missglückte Überraschung

Carolina schmiedet einen Plan

Michael

Carolina begegnet Michael

Michael ist unzufrieden

Carolina auf Beutezug

Max und Michael im Kleiderwahn

Carolina spinnt ihre Netze

Eva und der ganz normale Wahnsinn

Cordula im Altersheim

Cordula in der Bücherei

Eva bei der Schulleiterin

Kriegserklärung

Anruf bei Marie

Cordula und Miguel

Michael zieht Bilanz

Eva geht arbeiten

Der Eklat

Michael kapiert gar nichts

Evas Vorstellung findet Anklang

Michael ist sauer

Miguel vor drei Jahren

Evas Gesangseinlage

Michael macht sich Sorgen

Eva hat einen Kater

Cordula will sich mit Miguel treffen

Eva versteht ihren Mann nicht mehr

Carolina analysiert Michael

Miguels Vernissage

Eva rafft sich auf

Evas erstes Training

Eva kocht

Eva fliegt auf

Marie

Eva und Marie

Miguel besucht Eduard

Miguel trifft Caro

Miguel telefoniert mit Marie

Eva ist verunsichert

Michael freut sich auf das Essen mit Carolina

Eva wird überrascht

Eva serviert

Michael sitzt fest

Eva - Zwei Tage später

Ehekrise

Michael besucht Carolina

Michael sieht klar

Eva wird überrascht

Später

Impressum neobooks

Carolina

Carolina Fonteler betrachtete sich ausgiebig in dem viel zu kleinen Spiegel ihres vornehmen Hotelzimmers. Wieder mal ein Hotelmanager, der keine Ahnung von den Bedürfnissen seiner Gäste hatte. Wie so oft, waren auch hier die Spiegel schlecht platziert und Carolina konnte daher keinen Gesamteindruck ihrer Erscheinung bekommen. Natürlich war sie ausgerechnet in einer Herberge gelandet, für die das Wort Ganzkörperspiegel anscheinend ein Fremdwort war. Und das, bei diesem horrenden Preis. Carolina beschloss, sich auf jeden Fall bei der Abreise zu beschweren. Außerdem, so nahm sie sich vor, würde sie in Zukunft genau darauf achten, dass Mia, ihre unfähige Mitarbeiterin, diesen relevanten Punkt bei jeder Buchungsanfrage abchecken würde.

Carolinas Tag war bereits im Eimer, bevor er auch nur richtig begonnen hatte. In der Nacht war es viel zu hell im Zimmer gewesen, um ohne Schlafmaske Ruhe finden zu können. Aber die eigentlich exakt auf ihre Gesichtsform zugeschnittene Maske musste bei einer unruhigen Bewegung verrutscht sein, sodass das Licht der Straßenlaterne die Ruhesuchende geblendet hatte. Carolina brauchte ihren Schlaf. Schließlich war sie bereits 35. In diesem Alter konnte man es sich nicht mehr erlauben, die Nacht durchzumachen, ohne dass man am nächsten Tag die Spuren im Gesicht sehen musste. Carolina seufzte.

Eigentlich liebte sie das Leben, das sie seit vielen Jahren führte. Aber manchmal war es einfach nur anstrengend. Die vielen Städte, die zahllosen Menschen, die sie ansprachen. Sei es, um sie um Rat zu fragen oder einfach nur, weil sie neugierig auf Details aus Carolinas aufregendem Lebens waren.

„Versinke mal nicht in Selbstmitleid, das steht dir nicht!“ schalt sich Carolina lautlos und wie auf Knopfdruck spürte sie die Wirkung ihrer eigenen Worte, fühlte, wie neue Kraft durch ihre Adern floss. Sie straffte den Rücken und beugte sich ein wenig weiter zum Spiegel vor, um nochmals eine zusätzliche Lage ihres signalroten Lippenstiftes aufzutragen. „Piratenrot “, wie edel allein schon der Name klang. Seit Jahren trug Carolina keinen anderen Farbton mehr. Das Geräusch beim Öffnen der Lippenstifthülse, ein leichtes Knacken, hätte sie unter 1000 anderen wiedererkannt. Für Carolina war es der Klang des Luxus.

Er signalisierte ihr, dass sie es geschafft hatte. Niemand außer ihr selbst hätte das für möglich gehalten.

Damals, als sie ein dürres, zu lang geratenes Mädchen gewesen war, das mit seiner hellen Haut so gar nicht in ein italienisches Bergdorf zu passen schien. „Wenn meine Mutter mich so sehen könnte“, dachte Carolina bei so mancher Gelegenheit, doch sie verscheuchte diesen Gedanken schnell wieder.

 

Stattdessen zog sie ein Kosmetiktuch aus dem Edelstahlbehälter und tupfte vorsichtig über ihr Werk. Noch ein kurzes Lächeln, um eventuelle Lippenstiftspuren auf den Zähnen sichtbar zu machen, dann war sie mit sich und der Welt wieder im Reinen. Carolinas blaue Augen strahlten intensiv und erinnerten an einen Sommerhimmel. Zusammen mit dem roten Lippenstift gab das ihrem Gesicht eine dramatische Wirkung, die durchaus beabsichtigt war. Schließlich hatte Carolina lange nach Kontaktlinsen gesucht, die das wässrig daherkommende Blau ihrer eigenen Augenfarbe intensivierten. Offensichtlich war sie bei ihrer Suche erfolgreich gewesen.

Entschlossen griff sie zur Pinzette und zupfte ein feines Härchen heraus, das den perfekten Schwung ihrer Augenbrauen störte. Noch war ihr Gesicht annähernd faltenfrei, zumindest unter dem Make Up, das sie trug.

Dennoch fürchtete sich Carolina vor dem Alter. Beim Gedanken an Krähenfüße, Furchen im Gesicht oder, schlimmer noch, Stoppeln am Kinn, wie sie sie bei Frauen um die 50 schon einige Male gesehen hatte, wurde ihr ganz flau im Magen.

Ihr fiel ein, dass sie schon lange nichts mehr gegessen hatte. Obwohl ihr Körper nicht dazu neigte, dick zu werden, achtete Carolina streng auf ihre Idealmaße. Nichts fand sie abstoßender, als Menschen mit Doppelkinn, Metzgerarmen und Bauchansätzen. Alleine der Gedanken, sie könne selbst irgendwann aus dem Leim gehen, verursachte ihr Panikgefühle und Atemnot.

Carolina legte viel Wert auf ihr Äußeres. „Was soll ich mit inneren Werten, wenn man sie von außen nicht sieht?“ war eines ihrer Zitate, das mittlerweile auch in der Öffentlichkeit häufig zu hören war.

Es war beinahe so etwas wie ein geflügeltes Wort für die Abnehmbewegung geworden. Ein Trend, für den sie durch ihre Arbeit mit verantwortlich war und ihre gute Tat für die Menschheit. Carolina hatte kein Verständnis für Menschen, die nicht auf ihr Erscheinungsbild achteten. In der modernen Zivilisation gab es doch alle Hilfsmittel, die man sich nur vorstellen konnte, um gut auszusehen oder wenigstens gepflegt durchs Leben zu gehen.

Sie selbst war sich sicher, dass sie in einigen Jahren mindestens zu Botox greifen würde, um ihre Jugendlichkeit zu bewahren.

Seit ihrem 35. Geburtstag im Februar trug Carolina ausschließlich schwarz. Diese Farbe, so fand sie, verlieh ihr ein apartes, interessantes Aussehen. Schwarz wirkte geheimnisvoll, verführerisch und betonte die Blässe ihrer Haut eindrucksvoll. An den bewundernden Blicken, die ihr oft folgten, wenn sie unterwegs war, erkannte Carolina, wie richtig ihre Entscheidung für diese Farbe gewesen war. Ihr platinblonder, immer exakt geschnittener Kurzhaarschnitt unterstrich ihr androgynes Aussehen und machte das Bild komplett. Sie war innerlich wie äußerlich unverwechselbar.

Eva

„Faules! Wo steckst du denn?“ So ein Nerv! Ich runzele die Stirn und rolle meine Augen automatisch zur Zimmerdecke, um mit einer kleinen Zwischenmeditation zu beginnen. Ein Spinnennetz! Zart wogt es hin und her, hin und her. Fast wie ein Pendel, nur fluffliger.

„Ommmm“ murmele ich leise vor mich hin und atme tief und bewusst aus, um mich noch tiefer in die Entspannung zu bringen. Keine Chance! Ich probiere es nochmal. Bewusst einatmen, ausatmen. Die Spinne schaut in ihrem Netz vorbei. Meine Konzentration ist endgültig futsch und ich bin frustriert. Dieser ganze Entspannungskram funktioniert bei mir nicht die Bohne. Der Ratgeber, den ich mir erst letzte Woche zu diesem Thema gekauft habe, ist absoluter Schrott.

Das ist schlecht, denn ich brauche dringend Unterstützung!

Am besten stelle ich mich mal vor. Gestatten: Faules. Eva Faules. Damit geht es schon los. Wie ich meine Entscheidung von damals hasse. Immer noch. Täglich mehr. Und dabei bin ich doch schon fünfzehn Jahre lang verheiratet. Ich bin eine geborene „Glück“, aber ich dumme Nuss habe meinen Mädchennamen damals einfach leichtfertig aufgegeben.

Das war doof! Hätte ich mein Glück doch nur behalten! Vielleicht habe ich eines Tages genug Energie, die ganze Bürokratie auf mich zu nehmen und eine Namensänderung durchzuboxen. Aber ich sehe schon die vielen hochgezogenen Augenbrauen, entsetzten Blicke danach und höre sie sagen „Habt ihr euch scheiden lassen? Wer kriegt das Haus, wie verkraften es die Kinder“. Diese Vorstellung hält mich bisher noch davon ab.

Mit meinem größten, frisch geschärften Küchenbeil hacke ich lieber die Schokolade so schwungvoll klein, dass die Späne über die Küchenplatte hüpfen, als seien sie auf der Flucht vor meinem Zorn. Ich bin schon wieder richtig sauer. Das bin ich in letzter Zeit immer, wenn Michael mich als „Faules“ tituliert.

Und sein Tonfall jedes Mal! „Faaaaauuuuules“, das klingt bei ihm wie das anklagende Jaulen eines verletzten Wolfes.

Am meisten macht mir zu schaffen, dass ich selbst an der Situation schuld bin. „Eva Faules, geborene Glück“, dazu hätte ich natürlich nie, niemals, auf gar keinen Fall „ja“ sagen dürfen. Was für eine bescheuerte Konstellation! Jetzt bin ich schon so lange Michaels Frau, übersehe großzügig seine Macken, aber an seinen blöden Nachnamen werde ich mich definitiv nie gewöhnen und das will ich auch gar nicht mehr.

Wieder mal bleiben meine Gedanken in dem üblichen Strudel hängen, aus dem ich einfach nicht rausschwimmen kann. Keine Kraft, gegen die Strömung anzukämpfen. Ich gehe mir gerade selbst auf den Keks, also Schluss jetzt mit dem Gejammer!

Ich seufze abschließend und schütte resigniert die Schokoladenstückchen in den Teig. Sich zu ändern ist schwierig, das steht sogar in den gefühlt tausend Ratgebern, die ich mir schon in der Buchhandlung meiner Freundin Marie besorgt habe.

Aber ich werde nicht aufgeben. Schließlich kenne ich meine Schwächen. Mein halbes Leben lang habe ich versucht, mich von diesem kleinen Mäuschen in eine selbstbewusste, starke Frau zu verwandeln. Im Moment hänge ich irgendwo zwischendrin.

Dieser Gedanke frustriert mich und ich lasse das Beil so schnell auf die Schokolade fallen, dass das hölzerne Schneidebrett zu zittern beginnt. Meine blonden, schwer erziehbaren Haare tanzen dabei wie wild auf und ab. Erst als sich der restliche Schokoladenblock in winzig kleine Krümel verwandelt hat, bin ich zufrieden.

Schwungvoll haue ich die Masse in die bunten Silikonförmchen. Teigspritzer landen auf dem frisch geputzten Küchenboden. Also nachher nochmal den Putzlappen schwingen.

Ich seufze erneut. Warum kann ich heute nicht aufhören zu seufzen?

„Faules, kommst du mal?“ Da ist sie wieder, die liebevolle Ansprache meines Gatten. Offensichtlich will er so schnell nicht aufgegeben. Ich aber auch nicht. Ich werde hart bleiben und auf diese Ansprache nie wieder reagieren. Basta!

„Faules! Bist du in der Küche?“ Die Stimme kommt näher. Automatisch öffne ich den Mund um zu antworten, kann mich aber gerade noch bremsen. Fühlt sich irgendwie gut an. Vielleicht war das mit der Meditation und dem vielen Ommmmh doch keine so schlechte Idee.

Ich lockere meine verkrampften Schultern und verfrachte die Muffins in den Ofen. Wenigstens beim Thema Kochen und Backen macht mir so schnell keiner was vor. Ich liebe es einfach.

Manchmal, wenn mir ein bestimmter Duft in die Nase steigt, habe ich eine Szene vor Augen, in der ich bei Mama in der Küche sitze und Kakao trinke, während sie Gemüse schnippelt und kocht. Dann kommt Papa heim, streicht mir über den Kopf und sagt: „Hallo Prinzessin!“

Meine Eltern sind viel zu früh bei einem tragischen Autounfall ums Leben gekommen und das ist eine der wenigen Erinnerungen, die ich von der Zeit vor dem Unfall noch habe. Vielleicht wollte ich deshalb unbedingt Köchin werden, weil ich mich an diesem Ort so geborgen fühlte. Wer weiß?

Tante Polly nahm mich zu sich. Allerdings war sie alleinstehend und musste den ganzen Tag arbeiten, um uns durchzubringen. So landete ich in der Klosterschule. Die Gute wusste ja nicht, wie unglücklich ich dort war und ich wollte keine Probleme machen. Deshalb habe ich tapfer durchgehalten. In den Ferien fuhr ich dann zu ihr.

Marie, schon damals meine beste und einzige Freundin, holte mich immer am Bahnhof ab und hatte den neuesten Klatsch aus dem Dorf parat.

Waren das schöne Tage! Wir waren unzertrennlich und wurden von den Nachbarn nur noch „die Zwillinge“ genannt. Unsere Freundschaft hält bis heute, auch wenn wir uns leider viel zu selten sehen. Marie hockt zwar den ganzen Tag in ihrer Buchhandlung, bekommt es aber trotzdem hin, sich regelmäßig zu melden. Meistens ergreift sie die Initiative. Obwohl. Oft denke ich gerade an sie und dann klingelt auch schon das Telefon. Wer war dann zuerst aktiv? Marie nannte uns vor zwanzig Jahren schon „Seelenverwandte“, obwohl das Wort da noch ziemlich exotisch klang. Das war, bevor die Esoterikwelle durchs Land geschwappt ist. Und irgendwie hat Marie Recht. Wie sonst kann es sein, dass eine oft weiß, was die Andere denkt.

Aber während der langen Schulzeit zwischen den Ferien war ich immer sehr einsam.

Na ja, immer noch Gejammer. Das ist der Nachteil beim Backen. Man kann sich gleichzeitig leidtun.

Dabei ist alles Schnee von gestern. Jetzt wohnt Marie mit ihrer zupackenden Art sozusagen um die Ecke und ist immer für mich da.

Probeweise schiele ich auf die Uhr. Mist! Schlechte Zeit für einen Anruf. Marie steht jetzt in ihrer Buchhandlung und ist garantiert gerade in ein angeregtes Gespräch über Bücher vertieft. Ich schnappe mir den Kassenbon vom letzten Einkauf, drehe ihn herum und greife nach einem Stift. Mine leer! Wie sollte es auch anders sein. Warum wirft meine Familie kaputte Dinge eigentlich niemals in den Mülleimer? Haben sie Angst, ich würde sie lynchen, wenn ich davon erfahre? Oder ist es reine Bequemlichkeit? Oder bin ich die Zuständige für Abfallbeseitigung und sie wollen mir meinen Job nicht wegnehmen, damit ich nicht arbeitslos da stehe und anfange zu weinen? Ich sollte sie mal fragen.

Am besten schreibe ich gleich ein Buch. Das Buch der tausend Fragen. Denke, in spätestens einer Woche habe ich genug Themen zusammen. Vielleicht gibt es sogar eine Buchreihe, das Material geht mir bestimmt nicht aus.

Ich wühle in der Kramschublade und finde zwischen leeren Tintenpatronen, Bedienungsanleitungen und der lange vermissten Flasche Rescue-Tropfen tatsächlich einen noch nicht ganz stumpfen Bleistift.

„Marie anrufen“, notiere ich mir mit krakeligen Buchstaben. Mein Gedächtnis lässt jetzt schon zu wünschen übrig. Was wird nur aus mir werden, wenn ich ins Rentenalter komme.

Ich spüre, wie mein Kopf rot wird. Das ist mein schlechtes Gewissen und ich beschließe, Marie mal wieder zu einem Abendessen einzuladen.

Essen! Da kommt mir sofort wieder Maître Claude in den Sinn.

Vor ziemlich genau sechzehn Jahren

„Gib mir mal die Kirschen rüber, damit ich den Nachspeise- Teller fertig anrichten kann!“ Stolz betrachte ich mein Werk. Ich kann es manchmal selbst kaum glauben, welche Verwandlung ich durchmache, sobald ich in der Küche stehe und eine saubere weiße Schürze trage. Fast wie Aschenputtel, das sich in Cinderella verwandelt hat.

„Ist der Nachtisch fertig?“ ruft Maître Claude ungeduldig in die Küche.

„Jawohl Chef, es ist angerichtet!“ witzele ich selbstbewusst und schwenke die Teller gekonnt zur Ausgabe.

„Wollen Sie, oder soll ich servieren?“

„Das machen Sie mal schön selbst Frau Glück, schließlich ist das Ihre Kreation. Außerdem bin ich überzeugt, dass die Gäste lieber von einer hübschen jungen Blondine bedient werden, als von einem alten Mann wie mir!“

Selbstbewusst laufe ich zu Tisch Nummer fünf und serviere die Teller, wie es sich gehört. Und dann trifft er mich. Bäng! Voll erwischt! Amors Pfeil hat mitten in mein Herz gezielt.

Ein chic gekleideter gutaussehender junger Mann mit rehbraunen Augen grinst mich an und leckt sich begeistert über die Lippen.

„Das ist ja die reine, pure Sünde!“ schwärmt er.

Dann nimmt er den kleinen Dessertlöffel und probiert ein Stückchen von dem Küchlein mit flüssigem Schokoladenkern, der das Herzstück meiner eigenwilligen Nachspeise darstellt. Die kandierten, exotischen Früchte, die auf einem Spiegel von Himbeer- Pfirsichcreme mit einem Hauch von Marsala angerichtet sind, kostet er verzückt.

Eigentlich sollte ich mich schon lange wieder in die Küche bewegt haben, aber ich stehe immer noch da und starre vollkommen entrückt diesen Traummann an.

 

Nebenbei registriere ich, dass die Gäste mein neues Dessert genießen. Das ist einer dieser Momente, die nie vorbeigehen sollten.

Gerade wurde dem Restaurant der erste Stern verliehen. Daran war ich mit meinen mutigen Vorschlägen nicht ganz unschuldig.

Ich wage noch einen Blick in die wunderschönen Augen des Gastes und mein Herz schmilzt wie Vanilleeis in heißen Himbeeren. Meine Beine fühlen sich an wie Käse-Sahne-Torte, in der man die Gelatine vergessen hat. Wie ferngesteuert reiße ich mich endlich zusammen und wünsche höflich einen guten Appetit.

Wie ich zurück in die Küche komme, weiß ich hinterher gar nicht, so „geflasht“ bin ich.

„Vergiss es, so ein toller Mann ist mit Sicherheit vergeben!“, versuche ich mich selbst zur Raison zu bringen. Aber wie einen Wünschelrutengänger zum Wasser, zieht es mich in seine Richtung. Und so laufe ich zum Vorhang, der den Küchenbereich vom Service trennt und schaue IHM beim Genießen zu.

Sein Teller ist inzwischen leer, bis auf den Fruchtspiegel, aber der Mann mit den sympathischsten Augen westlich des Urals, kratzt immer noch sorgfältig die restliche Soße vom Teller. Dabei entsteht ein fieses Quietschgeräusch, das jedem anderen megapeinlich wäre. Er hingegen zuckt nur die Schultern und grinst ein hinreißendes schiefes Lächeln, das mich endgültig umhaut.

Dann legt sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter und ich erschrecke fürchterlich. Ich war so mit Schwärmen beschäftigt, dass ich meinen Chef nicht mal bemerkt habe.

Verlegen mache ich mich auf den Weg zurück zur Küche, als mich Maître Claude zurückhält

„Die Gäste von Tisch fünf möchten sich gerne persönlich bei Ihnen bedanken. Also los Frau Glück, holen Sie sich die verdienten Lorbeeren ab!“ Mit diesen Worten schiebt er mich in den Gastraum.

Verlegen trete ich an den Tisch, lächele und höre mich sagen: „Wie schön, dass Ihnen mein Dessert geschmeckt hat!“ Mein Blick schweift hinüber zu der streng aussehenden Frau, die mir hoheitsvoll zunickt. Sie sieht nicht aus, als würde sie öfter mal einen leckeren Nachtisch genießen, so hager wie sie in dem gut sitzenden Chanelkostüm wirkt.

Ganz anders der Mann zu ihrer Linken. Obwohl er sitzt, wirkt er riesig. Er hat einen dunkelroten Kopf und das Hemd spannt so sehr über seinem Bauch, dass ich mich wundere, dass die Knöpfe nicht vor lauter Erschöpfung nur so davonspringen. Ob das wohl seine Eltern sind, frage ich mich still und lächele, als der dicke Mann laut polternd zu reden beginnt

„Welch wunderschönes Fräulein! Und kochen kann sie auch noch!“

Dann mischt sich der nette junge Mann ein und meint: „Ich hoffe Sie sind nicht vergeben, denn ich habe mich soeben unsterblich verliebt. Sie müssen die gute Fee aus dem Märchen sein, denn sonst könnten Sie niemals solche Leckereien produzieren!“

Dabei schaut er mir fragend in meine blauen Augen, als könne er darin eine Antwort finden.

Er grinst wieder dieses schiefe Lächeln, das mich vorhin schon so verzaubert hat und da ist es um mich geschehen. Er ist es, erkenne ich. Der Mann meiner Träume, mein Seelenverwandter.