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Anna Karenina, 1. Band

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9

Um vier Uhr verließ Lewin, das Pochen seines Herzens fühlend, den Wagen vor dem Zoologischen Garten und begab sich auf einem Nebensteig zum Berg und der Schlittenbahn hinauf, in der sicheren Erwartung, Kity dort zu finden, da er den Wagen der Schtscherbazkiy schon vor der Auffahrt bemerkt hatte.

Es war ein klarer, frostiger Tag. Vor der Auffahrt standen reihenweise die Equipagen, Schlitten und Landauer. Geputztes Volk, schimmernd im Glanze der Sonne in seinen Hüten, drängte sich vor dem Eingang und in den sauber gepflegten Wegen zwischen den kleinen russischen Häusern mit den geschnitzten Architraven; die alten, knorrigen Birken des Gartens, deren Geäst mit Schnee belastet war, schienen gleichsam in neue Feiertagskleider gehüllt zu stehen.

Lewin begab sich auf dem Wege hin nach der Schlittenbahn; er sprach dabei sich selbst zu, er dürfe nicht in Aufregung geraten und müsse Ruhe bewahren. Was sollte diese Aufregung? Um was handelte es sich doch? Thorheit, die Unruhe mußte verstummen! So wandte er sich an sein Herz. Aber je mehr er sich bemühte sich zu beherrschen, desto mehr Schwierigkeit verursachte es ihm, zu atmen.

Ein Bekannter begegnete ihm und rief ihn an, aber Lewin erkannte gar nicht, wer es sei. Er ging zu den Bergen hin, auf welchen die Ketten der losgelassenen und heraufgezogenen kleinen Schlitten kreischten; Lachen und heitere Stimmen ertönten auf den hinabgleitenden kleinen Schlitten. Er trat noch näher hinzu, vor ihm lag die Eisbahn und inmitten der Masse der auf ihr sich Tummelnden erkannte er sogleich – sie.

Er erkannte, daß sie da war, an der Freude und dem Schrecken der sein Herz ergriff. Sie stand im Gespräch mit einer Dame am entgegensetzten Ende der Eisbahn. Ihr Äußeres in der Garderobe zeigte nichts besonderes, auch ihre Haltung nicht, aber Lewin war es so leicht gewesen, sie allein inmitten dieses Haufens zu entdecken, als wäre sie eine Rose unter Nesseln. Alles wurde von ihr erhellt, sie war nur ein Lächeln, das seine gesamte Umgebung bestrahlte.

„Kann ich denn hinübergehen über das Eis, zu ihr hintreten?“ überlegte er. Der Platz, auf dem sie stand, erschien ihm als ein unzugängliches Heiligtum und eine Minute lang blieb er wie eingewurzelt stehen; so beängstigend überkam es ihn. Es kostete ihn alle Anstrengung, sich klar zu machen, daß rings um sie herum Menschen aller Art sich bewegten, und daß er recht gut auch hingehen könne, um mit denselben zu rollen.

Er ging hinab, es lange vermeidend, einen Blick nach ihr zu richten, – wie man die Sonne meidet – aber er schaute sie doch gleich der Sonne, wollte er sie auch nicht sehen.

Auf dem Eise hatten sich an diesem Tage der Woche und um die gegenwärtige Zeit nur Leute aus einem bestimmten Kreise, die sich sämtlich kannten, versammelt.

Da waren Meister des Schlittschuhlaufes, die mit ihrer Kunst kokettierten, Lernende, die hinter Stuhlschlitten schüchtern und ungeschickt sich bewegten, Knaben, und Greise die aus Gesundheitsrücksichten sich Bewegung machen wollten.

Sie alle erschienen Lewin als auserwählt Glückliche, weil sie dort waren, in ihrer Nähe. Alle die Fahrenden aber schienen mit völligem Gleichmut sie zu überflügeln oder einzuholen, sie sprachen selbst mit ihr, und ergötzten sich, völlig unabhängig von ihr, allein dahingegeben dem Genuß der vortrefflichen Eisbahn und des herrlichen Wetters.

Nikolay Schtscherbazkiy, der Vetter Kitys, in einem kurzen Jaquet und engsitzenden Beinkleidern, saß mit seinen Schlittschuhen an den Füßen auf einer Bank und rief beim Erblicken Lewins:

„Oho, da kommt ja der erste Schlittschuhläufer von Rußland! Bleibt Ihr lange hier? Das Eis ist ausgezeichnet, legt Schlittschuhe an!“

„Ich habe gar keine,“ antwortete Lewin, verwundert über diese Kühnheit und Ungezwungenheit in ihrer Gegenwart, und ohne die Angebetete eine Sekunde aus den Augen zu verlieren, obwohl er gar nicht nach ihr hinzuschauen schien.

Da empfand er, daß die Sonne sich ihm näherte; sie war in der Ecke, aber kurz die kleinen Füßchen setzend in den hohen Stiefelchen, augenscheinlich verlegen werdend, kam sie auf ihn zu. Ein wie besessen mit den Armen in der Luft herumfuchtelnder, sich tief zur Erde beugender Junge in russischem Anzug überholte sie; sie fuhr nicht ganz sicher. Kity nahm die Hände aus dem kleinen Muff der an einer Schnur hing, hielt sie empor und lächelte Lewin in seinem Schrecken, den sie jetzt erkannte, zu.

Als sie die Umfahrt beendet hatte, gab sie sich mit eigensinnigem Ausstrich einen Ruck und fuhr gerade auf Schtscherbazkiy zu, dessen Arm sie ergriff, während sie Lewin dabei zulächelte. Sie war schöner, als er vermutet hatte. Wenn er ihrer dachte, konnte er sie sich in ihrer ganzen Erscheinung vorstellen, besonders den ganzen Reiz dieses mit dem Ausdruck kindlicher Offenheit und Herzensgüte begabten Blondköpfchens, das so keck auf den schönen jungfräulichen Schultern saß. Die Kindlichkeit ihres Geichtsausdrucks im Vereine mit der zarten Schönheit ihrer Taille, bildeten insbesondere einen Reiz bei ihr, den er recht wohl zu würdigen verstand.

Was ihn aber immer an ihr zu verwirren pflegte, das war der Ausdruck ihrer Augen, die sanft, ruhig und ehrlich schauten und namentlich ihr Lächeln, das Lewin stets in eine Zauberwelt versetzte, in der er sich beseligt, weich gestimmt fühlte, bei dem er sich der halbvergessenen Tage seiner frühesten Kindheit entsann.

„Seid Ihr schon lange hier?“ frug sie, ihm die Hand hinreichend. „Danke bestens,“ fügte sie hinzu, als er ihr das Taschentuch aufhob, welches ihrem Muff entfallen war.

„Ich? Nein, noch nicht lange – seit gestern – oder vielmehr heute – bin ich angekommen,“ versetzte Lewin, der ihre Frage vor Erregung nicht so schnell verstanden hatte. „Ich wollte zu Euch fahren,“ fuhr er sogleich fort, indem er sich erinnerte, mit welcher Absicht er sie aufgesucht hatte, aber er geriet in Verwirrung und errötete. „Ich wußte nicht, daß Ihr Schlittschuh laufen könnt – und Ihr lauft gut!“

Sie blickte ihn aufmerksam an, als wünsche sie, die Ursache seiner Verwirrung zu erfahren.

„Ich muß Euer Lob hochschätzen. Es hat sich hier die Tradition erhalten, daß Ihr der beste Schlittschuhläufer wäret, den es gäbe,“ antwortete sie, mit der kleinen Hand in dem schwarzen Handschuh, die Reifnadeln abschüttelnd, welche auf den Muff gefallen waren.

„Ja, einst bin ich leidenschaftlich gern gefahren; ich hatte es bis zur Vollkommenheit bringen wollen.“

„Ihr treibt wohl alles leidenschaftlich, wie mir scheint,“ sagte sie lächelnd. „Ich möchte in der That gern einmal sehen, wie Ihr rollt. Legt Schlittschuhe an und laßt uns zusammen fahren!“

„Zusammen fahren! Ist es denn möglich?“ dachte Lewin, sie anschauend. „Sogleich,“ antwortete er laut, „lege ich Schlittschuhe an.

„Ihr waret lange nicht bei uns, Herr,“ sagte der Bahninhaber, Lewins Fuß haltend und den Absatz desselben anschraubend. „Nach Euch hat es hier keinen Meister wieder gegeben unter den Herren. Ist es so gut?“ frug er, den Riemen anziehend.

„Gut, gut, nur schnell wenn ich bitten darf,“ antwortete Lewin, mit Mühe ein Lächeln der Glückseligkeit unterdrückend, das ihm wider Willen aufstieg. „Ja,“ dachte er, „das ist Leben, das ist Glück! Zusammen! hat sie gesagt, laßt uns vereint fahren. Soll ich jetzt mit ihr reden? Aber ich fürchte mich ja fast, ihr zu gestehen, daß ich glücklich bin, glücklich schon in der Hoffnung. Was dann? Doch, es muß sein, es muß sein! Weg mit der Schwäche!“

Lewin trat auf seine Füße, legte den Überrock ab und auf dem holperigen Eise bei dem Häuschen ansetzend, lief er hinaus auf die spiegelnde Fläche und fuhr ohne Hast, ganz wie seinem eigenen Willen gehorchend und seinen Lauf mäßigend dahin. Dann näherte er sich voll Befangenheit; ihr Lächeln aber machte ihn wieder sicher.

Sie gab ihm die Hand und beide fuhren nun miteinander, ihren Lauf allmählich beschleunigend; und je schneller sie fuhren, desto stärker drückte sie seine Hand.

„Unter Euch würde ich bald ausgelernt haben, ich habe solch ein Vertrauen zu Euch,“ sagte sie.

„Auch ich fühle mich sicher, wenn Ihr Euch auf mich stützet,“ antwortete er, erschrak aber sogleich über das, was er gesagt hatte und errötete. Und in der That, sowie er nur diese Worte herausgebracht hatte, verlor ihr Gesicht, wie die Sonne die hinter die Wolken geht, all seine Freundlichkeit, und Lewin erkannte auf ihrem Gesicht jenes bekannte Spiel, welches das Arbeiten der Gedanken andeutet; auf ihrem glatten Antlitz erschien eine Falte.

„Haben Sie etwas übel aufgenommen? Doch – eigentlich habe ich gar nicht das Recht so zu fragen,“ wandte er sich schnell an sie.

„Warum hätte ich etwas übel aufzunehmen? O nein, dem ist durchaus nicht so,“ versetzte sie kühl, fügte aber dann sogleich hinzu, „habt Ihr Mademoiselle Linon gesehen?“

„Noch nicht.“

„Geht doch zu ihr; sie liebt Euch so sehr.“

„Was soll das heißen?“ dachte Lewin, „ich habe sie gekränkt, Herr, steh mir bei!“ Er lief zu der alten Französin hin mit den weißen Locken, die drüben auf der Bank saß. Lächelnd und ihre falschen Zähne zeigend, begrüßte sie ihn als alten Freund.

„Ja, ja, wir sind gewachsen,“ sagte sie, mit den Augen auf Kity weisend, „und wir werden älter. Tiny bear ist groß geworden!“ fuhr die Französin lachend fort und erinnerte ihn damit an seinen Scherz über die jungen Herrinnen, die er einst die drei Bären aus dem englischen Märchen genannt hatte. „Wißt Ihr noch, wie Ihr zu sagen pflegtet.“

Er konnte sich durchaus nicht mehr hierauf besinnen, aber sie lachte nunmehr schon ins zehnte Jahr über jenen Scherz und sie liebte denselben.

„Nun, fahrt nur immer zu, fahrt. Unsere Kity hat gut Schlittschuhlaufen gelernt, nicht wahr?“

Als Lewin wieder zu Kity zurückkehrte, war ihr Gesicht nicht mehr so ernst, ihre Augen blickten wieder so ehrlich und freundlich, aber ihm schien es, als läge in ihrer Freundlichkeit ein seltsamer, nachdenklich ruhiger Ton. Auch er wurde nachdenklich. Er begann von der alten Gouvernante und von ihren Eigenheiten zu sprechen; sie aber frug ihn nach seinem Leben.

 

„Ist es Euch nicht zu langweilig auf dem Dorfe?“ sagte sie.

„O nein; langweilig ist es da nicht; ich habe sehr viel zu thun,“ antwortete er ihr, empfindend, daß sie ihn ihrem ruhigen Tone unterordnete, dem zu entweichen er sich nie imstande fühlen würde, obwohl es im Beginn des Winters war.

„Seid Ihr für längere Zeit hierher gekommen?“ frug Kity.

„Ich weiß noch nicht,“ antwortete er, ohne zu überlegen, was er sprach.

Der Gedanke, daß er wiederum unverrichteter Sache von dannen gehen werde, falls er sich dem nämlichen ruhigen Freundschaftston hingeben würde, wie sie, kam ihm in den Kopf und er entschloß sich, Mut zu fassen.

„Inwiefern wißt Ihr das nicht?“

„Ich weiß nicht. Es hängt dies ganz von Euch ab,“ sagte er, erschrak aber sofort über seine eigenen Worte.

Hörte sie diese nicht, oder wollte sie sie nicht hören, aber sie schien zu straucheln, stieß zweimal mit dem Füßchen auf das Eis und fuhr dann hinweg von ihm. Sie schwebte zu Mademoiselle Linon, sagte ihr einige Worte und begab sich dann nach dem Häuschen, wo die Damen ihre Schlittschuhe ablegten.

„Mein Gott, was habe ich angerichtet, mein Gott! Hilf mir und rate mir,“ sagte Lewin zu sich, gleichsam betend, und dabei zugleich in der Empfindung des Bedürfnisses nach einer heftigen Bewegung, ausstreichend und nach auswärts und innen Kreise ziehend.

In diesem Augenblicke kam ein junger Mann, der beste der jüngeren Schlittschuhläufer, die Cigarette im Munde, auf seinen Schlittschuhen aus dem Café heraus; er lief, eilte auf den Schlittschuhen die Stufen herab, lachend und springend und flog dann auf dem Eise davon, ohne die freie Haltung seiner Arme zu verändern.

„Aha, ein neues Kunststückchen,“ sagte Lewin, und lief sofort nach oben um das neue Kunststückchen zu versuchen.

„Fallt nicht, das will geübt sein!“ rief ihm Nikolay Schtscherbazkiy zu.

Lewin trat auf einen Vortritt, und sprang herab, bei der ungewohnten Übung das Gleichgewicht mit den Armen haltend. Auf der letzten Stufe blieb er hängen und berührte leicht das Eis mit der Hand, machte aber eine heftige Bewegung, schnellte auf und flog lachend hinaus auf die Fläche.

„Ein wackerer Bursch,“ dachte Kity dabei, als sie aus dem Häuschen heraustrat in der Begleitung der Mademoiselle Linon. Sie blickte dabei mit stillem Lächeln nach ihm hinüber, wie nach einem lieben Bruder. „Bin ich denn schuld, habe ich etwas Übles gethan? Man sagt, das sei Koketterie. Ich weiß, daß ich ihn nicht liebe, und doch bin ich gern in seiner Gesellschaft, er ist so wacker. Warum sagte er das auch gerade?“ dachte sie.

Als Lewin Kity mit ihrer Mutter, die ihr auf den Stufen entgegenkam, fortgehen sah, blieb er, errötet von der schnellen Bewegung, stehen und versank in Nachdenken. Er schnallte die Schlittschuhe ab und holte dann Mutter und Tochter am Ausgange des Gartens ein.

„Sehr erfreut, Euch wiederzusehen,“ sagte die Fürstin, „Donnerstag, wie ja immer, empfangen wir.“

„Nicht heute vielleicht auch?“

„Wird uns sehr angenehm sein,“ versetzte die Fürstin trocken.

Diese Trockenheit erbitterte Kity, und diese konnte sich nicht enthalten, die Kälte ihrer Mutter zu mildern. Sie wandte das Haupt nach ihm um und sprach lächelnd:

„Auf Wiedersehen.“

In diesem Augenblick erschien Stefan Arkadjewitsch, den Hut schief auf der Seite mit glänzenden Mienen und Augen, wie ein wohlgelaunter Sieger im Garten. Als er sich indessen der Tante genähert hatte, antwortete er mit schuldbewußtem Gesicht auf ihre Fragen betreffs des Befindens von Dolly. Nachdem er so halblaut und zerknirscht mit der Tante eine Weile gesprochen hatte, warf er sich wieder in die Brust, und nahm Lewin unter dem Arme.

„Nun, was thun wir, wollen wir fahren?“ frug er, „ich habe immer an dich gedacht und bin sehr, sehr glücklich, daß du gekommen bist,“ sprach er, Lewin bedeutungsvoll ins Auge blickend.

„Fahren wir, fahren wir,“ antwortete dieser beglückt, ohne den Klang der Stimme aus dem Ohre zu verlieren, die da gesagt hatte, „auf Wiedersehen“. Er sah noch das Lächeln mit welchem die Worte gesprochen worden waren.

„Gehen wir nach England oder in die Eremitage?“

„Mir ganz gleichgültig.“

„Nun, also nach ‚England‘“, fuhr Stefan Arkadjewitsch fort, „England“ deshalb wählend, weil er daselbst mehr Schulden hatte, als in der Eremitage. Er hielt es daher nicht für geraten, dieses Hotel zu meiden. „Du hast wohl einen Kutscher? Gut, ich habe nämlich meinen Wagen entlassen.“

Die beiden Freunde legten schweigend den ganzen Weg zurück. Lewin dachte an das, was jene Veränderung im Gesichtsausdruck Kitys bedeutet haben mochte, und er überzeugte sich bald, es sei Hoffnung für ihn vorhanden, bald geriet er in Mutlosigkeit und erkannte klar, seine Hoffnung sei sinnlos. Nichtsdestoweniger fühlte er sich aber als einen ganz anderen Menschen, nicht mehr demjenigen ähnlich, der er gewesen war just bis zu jenem Lächeln hin, zu jenen Worten „auf Wiedersehen“!

Stefan Arkadjewitsch stellte während dessen das Menu des Diners zusammen. „Liebst du nicht turbot?“ frug er Lewin während der Fahrt.

„Was sagtest du?“ frug Lewin, „turbot? O ja, ich liebe den turbot außerordentlich.“

10

Als Lewin mit Oblonskiy in das Hotel trat, entging ihm nicht ein gewisser eigenartiger Ausdruck, ähnlich dem eines verhaltenen Aufglänzens auf dem Gesicht und in der ganzen Erscheinung Stefan Arkadjewitschs.

Oblonskiy nahm seinen Überzieher ab und trat mit schiefsitzendem Hute in den Speisesalon, den sich an seine Sohlen haftenden Tataren im Frack und mit der Serviette einige Befehle erteilend. Er grüßte nach rechts und links die Anwesenden, und ging dann, wie stets seine Bekannten freundlich bewillkommend, an das Büffet, nahm ein Glas Branntwein mit Fisch und sagte der geschminkten, mit bunten Bändern und Krenzchen behängten Französin, die im Kontor saß, einige Worte, infolge deren sogar diese Französin herzlich lachte. Lewin trank nur deshalb keinen Branntwein, weil ihm die Französin widerwärtig war, die wie es schien nur aus falschen Haaren, poudre de riz und vinaigre de toilette zusammengesetzt war. Wie vor einem Schmutzhaufen, so wandte er sich hastig von ihr ab. Sein ganzes Inneres war von der Erinnerung an Kity erfüllt und in seinen Augen glänzte ein Lächeln des Triumphes und des Glückes.

„Bitte hierher, Ew. Excellenz, man wird hier Ew. Excellenz nicht stören,“ sagte ein alter Tatar, mit großem Becken, über dem der Frack in Falten auseinanderging. „Bitte gefälligst, Ew. Excellenz,“ wandte er sich auch an Lewin, zum Zeichen seiner Ehrerbietung vor Stefan Arkadjewitsch sich auch dessen Gaste beflissen zeigend.

Im Augenblick hatte er ein frisches Tafeltuch auf einen schon von einem solchen gedeckten runden Tische ausgebreitet, der unter einem Broncearmleuchter stand, samtne Stühle herbeigeschoben, und blieb nun mit Serviette und Menukarte in Erwartung weiterer Weisungen vor Stefan Arkadjewitsch stehen.

„Wenn Ihr wünscht, Ew. Excellenz, wird das Privatkabinett sogleich frei sein; der Fürst Galizin mit einer Dame ist darin. Übrigens sind frische Austern angekommen.“

„Ah! Austern!“

Stefan Arkadjewitsch versank in Nachdenken.

„Wollen wir nicht unsern Plan ändern, Lewin?“ hub er an, den Finger auf die Karte legend. Seine Mienen drückten ernsten Zweifel aus. „Ob die Austern auch gut sind? Sieh du zu!“

„Es sind Flensburger, Ew. Excellenz, keine von Ostende.“

„Also Flensburger und frisch?“

„Erst gestern erhalten.“

„Dann wollen wir also zuerst mit den Austern beginnen, und darauf den ganzen Plan verändern. Nicht so?“

„Mir ganz gleichgültig. Lieber als alles ist mir Schtschi und Kascha,1 aber beides giebt es hier wohl nicht.“

„Kascha à la russe befehlt Ihr?“ frug der Tatar, wie eine Amme über das Kind, sich zu Lewin beugend.

„Nein, ohne Scherz, was du wählst, wird gut sein; ich bin Schlittschuh gefahren und möchte essen; denke nicht“, wandte er sich an Oblonsky, auf dessen Gesicht er einen Ausdruck der Unzufriedenheit bemerkte, „daß ich deine Wahl nicht hochschätzte, ich werde mit Vergnügen etwas Gutes mit speisen.“

„Das wäre auch! Magst du sagen was du willst, das Essen ist einer der Genüsse des Lebens,“ antwortete Stefan Arkadjewitsch. „Also bringe denn, lieber Freund, zwei oder drei Dutzend Austern für uns, und Suppe mit Schwarzwurzel“ —

Printanière,“ verbesserte der Tatar, aber Stefan Arkadjewitsch wollte demselben doch nicht den Triumph einer französischen Korrektur in der Benennung der Speisen belassen.

„Mit Schwarzwurzel, verstehst du? Hierauf turbot mit steifer Sauce, dann Roastbeef; sieh zu, daß alles gut ist; auch Kapaune mögen kommen und Konserven.“

Der Tatar, welcher die Gepflogenheiten Stefan Arkadjewitschs kannte, die Speisen nach der französischen Karte zu benennen, wiederholte nicht mehr, sondern machte sich nun das Vergnügen, den ganzen Auftrag nach der Karte französisch zu wiederholen: „Soupe printanière, turbot sauce Beaumarchais, poulard à l'estragon, conserves de fruits“ und wie auf Sprungfedern fortgeschnellt holte er, die eingebundene Karte niederlegend, eine andere, die Weinkarte herbei und brachte sie Stefan Arkadjewitsch.

„Was werden wir trinken?“

„Ich trinke was du willst, aber nicht viel; etwas Champagner,“ antwortete Lewin.

„Was? Gleich zum Anfang? Indessen ganz recht so. Ziehst du Weißsiegel vor?“

Caché blanc“, verbesserte der Tatar.

„Also gieb diese Marke zu den Austern, wir werden ja sehen.“

„Zu Diensten, und ist noch ein Likör gefällig?“

„Ja wohl, bring den klassischen Jablis.“

„Zu Diensten. Ihr befehlt doch Euren gewöhnlichen Käse?“

„Gewiß, Parmesan. Oder liebst du etwa einen anderen mehr?“

„Nein, mir ist alles gleich,“ sagte Lewin, nicht imstande, ein Lächeln unterdrücken zu können.

Der Tatar mit den wehenden Frackschößen eilte davon und in fünf Minuten flog er herbei mit einer Schüssel geöffneter perlmutterglänzender Austern und einer Bouteille.

Stefan Arkadjewitsch entfaltete die gestärkte Serviette und steckte sie an seiner Weste fest, worauf er sich den Austern zu widmen begann.

„Ah, nicht übel,“ sagte er, mit der silbernen Gabel die schlüpfrigen Austern von der Perlmutterschale lösend und sie eine nach der andern verschluckend. „Nicht übel,“ wiederholte er, die feuchtschimmernden Augen bald auf Lewin, bald auf den Tataren richtend.

Lewin nahm gleichfalls Austern zu sich, obwohl ihm Weißbrot und Käse lieber gewesen wäre, aber er richtete sich nach Oblonskiy; der Tatar aber, welcher mittlerweile den Pfropfen gelöst und den moussierenden Wein in die schlanken Gläser eingeschenkt hatte, schaute gleichfalls mit eigenartigem Lächeln, seine weiße Halsbinde in Ordnung bringend, auf Stefan Arkadjewitsch.

„Liebst du nicht Austern sehr?“ sagte Stefan Arkadjewitsch, seinen Kelch leerend, „oder bist du nicht bei Laune?“

Er wünschte, daß Lewin heiterer Laune sein möchte, aber anstatt daß dies der Fall war, empfand derselbe vielmehr eine gewisse Beengtheit. Mit alledem, was er in seinem Innern fühlte, war es ihm seltsam und unbequem im Hotel, innerhalb dieser Kabinette, wo man mit Damen dinierte, unter diesem Laufen und Hasten; diese Bronze ringsum, die Spiegel, das Gas, diese Tataren, all das war ihm lästig und er fürchtete, damit die Empfindung zu beflecken, die seine Seele erfüllte.

„Ich? Ja, ich bin nicht recht in Stimmung; überdies jedoch beengt mich hier die Umgebung,“ antwortete er. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie alles das hier für mich, einem einfachen Landmann, wunderlich ist; ebenso wunderlich, wie die Fingernägel des Herrn, den ich bei dir gesehen habe“ —

„Ja, ja, ich bemerkte wohl, daß die Fingernägel des armen Grinjewitsch dich sehr interessierten,“ meinte Stefan Arkadjewitsch lachend.

„Ich kann nicht anders,“ versetzte Lewin. „Bemühe dich, mir einmal nachzufühlen, stelle dich auf den Gesichtspunkt eines Landmannes. Wir auf dem Dorfe bemühen uns, unsere Hände in einem Zustande zu erhalten, der sie geeignet macht zur Arbeit; zu diesem Zwecke schneiden wir uns die Nägel, streifen wir die Rockärmel empor. Hier aber lassen die Leute ihre Nägel stehen, so lange sie sich nur erhalten können, und haken sich Spangen wie kleine Schüsseln an, nur damit sie mit den Händen nichts zu thun haben.“

 

Stefan Arkadjewitsch lächelte heiter.

„Dies ist ein Zeichen davon, daß hier grobe Arbeit nicht nötig ist. Hier arbeitet eben nur der Geist.“

„Mag sein. Aber dennoch erscheint mir das seltsam; ebenso, wie es mir jetzt wunderlich vorkommt, daß wir Landbewohner uns bestreben, möglichst schnell zu essen, um wieder in Stand gesetzt zu sein zu arbeiten, während ich jetzt mit dir zusammen so lange als möglich speise, und zu diesem Zwecke noch Austern esse.“

„Läßt sich begreifen,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, „aber hierin liegt ja eben der Ausgangspunkt der Kultur: aus allem sich einen Genuß zu verschaffen.“

„Wenn dies das Ziel der Kultur sein soll, dann wünschte ich lieber wild zu bleiben.“

„Bleibe immerhin wild. Ihr Lewins seid alle wild.“

Lewin seufzte. Er gedachte seines Bruders Nikolay und es wurde ihm schwer und traurig zu Mute, so daß er die Stirne runzelte, Oblonskiy aber begann soeben von einem Gegenstand zu sprechen, der ihn sogleich hiervon abzog.

„Also fahren wir denn heute Abend zu unseren Schtscherbazkiys?“ frug Stefan Arkadjewitsch, die leeren, rauhen Schalen beiseite schiebend und den Käse heranziehend, während sein Auge bedeutungsvoll erglänzte.

„Ja, ich werde unfehlbar fahren,“ antwortete Lewin, „obwohl mir schien, als wenn die Fürstin mich nicht gern eingeladen hätte.“

„Was sagst du doch da! Das ist Unsinn, es ist das so ihre Manier – he, Freund, gieb die Suppe jetzt! Es ist das so ihre Manier, als grande dame,“ sagte Stefan Arkadjewitsch. „Ich werde ebenfalls mit hinkommen, doch muß ich auch noch auf eine Weile zur Gräfin Bonina. Du bist aber doch zu seltsam! Wie soll ich es nur erklären, daß du so plötzlich aus Moskau verschwandest? Die Schtscherbazkiy haben mich ununterbrochen nach dir gefragt, gleich als ob ich das wissen müßte. Ich weiß eigentlich nur das Eine, daß du stets das thust, was niemand sonst thut.“

„Ja, ja,“ antwortete Lewin, langsam aber erregt, „du hast recht, ich bin seltsam. Nur beruht meine Seltsamkeit nicht darin, daß ich Moskau verließ, sondern darin, daß ich wiedergekommen bin. Jetzt bin ich wiedergekommen“ —

„O du Glücklicher!“ unterbrach ihn Stefan Arkadjewitsch, Lewin ins Auge schauend.

„Weshalb?“

„Man erkennt die störrigen Pferde an gewissen Zeichen, verliebte Jünglinge erkenne ich an ihren Augen,“ deklamierte Stefan Arkadjewitsch. „An dir erkenne ich alles im voraus.“

„Bei dir erkennt man aber alles wohl erst nachher?“

„Nein, nicht gerade nachher; aber du hast eine Zukunft, ich habe nur eine Gegenwart, und die Gegenwart – ist verpfuscht.“

„Was heißt das?“

„Es geht mir nicht gut. Indessen von mir will ich nicht sprechen, ich kann dir auch nicht alles so offenbaren,“ sagte Stefan Arkadjewitsch. „Aber weshalb bist du wieder nach Moskau gekommen? – Da nimm!“ rief er dem Tataren zu.

„Vermutest du?“ antwortete Lewin, ohne seine tiefinnerlich leuchtenden Augen von Stefan Arkadjewitsch abzuwenden.

„Ich vermute, kann aber nicht darüber zu sprechen beginnen; schon hieran kannst du erkennen, ob ich richtig oder falsch vermute,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, mit seinem Lächeln Lewin anblickend.

„Und was hast du mir da zu sagen?“ fuhr Lewin mit schwankender Stimme fort, empfindend, daß in seinem Antlitz jede Muskel bebte. „Wie schaust du auf die Sache?“

Stefan Arkadjewitsch trank langsam sein Glas Jablis aus, ohne das Auge von Lewin zu verwenden.

„Ich,“ sagte Stefan Arkadjewitsch, „würde nichts so sehr wünschen, als dies, nichts! Das ist das Beste was geschehen könnte.“

„Aber täuschest du dich auch nicht? Du weißt doch hoffentlich, wovon wir jetzt reden,“ frug Lewin, sich mit dem Blick an dem Freunde festsaugend; „glaubst du, daß es möglich ist?“

„Ich denke, es ist möglich. Weshalb sollte es unmöglich sein?“

„Nein, nein, denkst du wirklich, daß es möglich ist? Sage mir alles, was du denkst! Wie, wenn mir eine Absage würde? Ich bin sogar überzeugt“ —

„Weshalb denkst du denn so?“ antwortete Stefan Arkadjewitsch, lächelnd über diese Erregtheit.

„Nun, mir scheint es bisweilen so; aber es wäre furchtbar, für mich wie für sie.“

„Auf alle Fälle wäre doch für das Mädchen nichts Schreckliches dabei. Jedes Mädchen ist stolz auf einen Antrag.“

„Ja, jedes Mädchen, aber sie nicht.“

Stefan Arkadjewitsch lächelte. Er kannte schon dieses Gefühl Lewins, und wußte, daß für diesen alle Mädchen in der Welt sich nur in zwei Arten teilten; die eine Art bildeten alle Mädchen in der Welt – außer ihr – und diese Mädchen besaßen alle menschlichen Schwächen; sie waren sehr gewöhnliche Menschen; die andere aber – war sie allein, ohne jegliche Fehler, hocherhaben über alle Menschheit.

„Halt, nimm Sauce,“ sagte er, die Hand Lewins festhaltend, welcher die Sauce fortgeschoben hatte.

Lewin nahm sich gefügig die Sauce, ließ aber Stefan Arkadjewitsch nicht zum Essen kommen.

„Halt,“ sagte er, „du weißt, daß dies für mich eine Frage auf Leben und Tod ist; ich habe noch nie mit jemand darüber gesprochen, kann auch mit niemand reden, als mit dir. Und doch sind wir beide in allem so verschieden. Verschiedener Geschmack, verschiedene Ansichten, alles; indessen ich weiß, daß du mich liebst und verstehst, und deshalb liebe ich dich so unaussprechlich. Aber bei Gott, sei ganz offen gegen mich.“

„Ich sage dir ja, was ich denke,“ antwortete Stefan Arkadjewitsch lächelnd. „Aber ich will dir noch mehr sagen: Mein Weib ist ein – bewundernswertes Weib.“ – Stefan Arkadjewitsch seufzte, indem er seiner jetzigen Beziehungen zu seinem Weibe gedachte; er schwieg eine Weile und fuhr dann fort: „Sie hat die Gabe des Voraussehens, und erkennt die Menschen durch und durch; aber noch nicht genug damit, sie weiß, auch was kommen wird, besonders in Bezug auf Ehebünde. So hat sie beispielsweise vorausgesagt, daß die Schachowskaja den Brendeljen heiraten werde. Kein Mensch hatte dies glauben wollen und doch ist es so gekommen. Sie aber, ist – ganz auf deiner Seite.“ —

„Inwiefern denn?“

„Insofern, daß sie abgesehen noch davon daß sie dich liebt, sagt, Kity würde unfehlbar dein Weib.“

Bei diesen Worten erglänzte das Gesicht Lewins von einem Lächeln, einem Lächeln, welches den Thränen der Rührung nahe war.

„Das sagt sie?“ rief Lewin aus. „Ich habe stets gesagt, daß sie herrlich ist, deine Frau. Nun ist genug, völlig genug gesagt über die Sache,“ antwortete er, von seinem Platze aufstehend.

„Gut; aber setze dich doch.“

Lewin war aber nicht imstande, wieder Platz zu nehmen; er ging mit seinen festen Tritten mehrmals in dem kleinen Raume auf und ab, und blinzelte mit den Augen, um die Thränen nicht sehen zu lassen. Erst dann setzte er sich wieder nieder am Tische.

„Verstehe wohl,“ sagte er, „das dies keine Liebe ist. Ich war einst verliebt, aber dies ist nicht Liebe. Diese Empfindung ist nicht mein eigen, es ist mehr eine äußere Macht, die mich übermannt. Ich habe ja deshalb Moskau verlassen, weil ich den Beschluß gefaßt hatte, daß es nicht sein dürfe, verstehst du, als ein Glück, wie es in der Welt nicht existiert. Ich kämpfte mit mir, und ich sehe, daß es ohne jenes Eine für mich kein Leben giebt. Ich muß zu einem Ende kommen“ —

„Weshalb warest du nur fortgefahren?“

„O, halt, halt, welche Menge von Ideen du bringst; welche Masse von Fragen sind da nötig. Höre also. Du wirst dir freilich nicht vorstellen können, was du mir geleistet hast mit dem was du soeben sagtest. Ich bin so glücklich, daß ich sogar unangenehm werde, ich habe alles vergessen. Heute habe ich erfahren, daß mein Bruder Nikolay – du kennst ihn doch, er ist hier – ich habe auch ihn vergessen. Mir scheint, als ob er glücklich wäre. Es ist so etwas von Spleen in ihm. Eines aber ist entsetzlich – du hast ja geheiratet und kennst das Gefühl – eines ist entsetzlich, daß wir, die wir schon in die Jahre gekommen sind, keine Liebe kennen, sondern nur Sünden, daß wir uns plötzlich einem reinen, unschuldigen Geschöpf nähern. Dies ist abstoßend, und deshalb kann ich nicht umhin, mich eines solchen unwürdig zu fühlen.“

„Nun, du hast doch der Sünden nicht zu viel auf dem Gewissen.“

„O, immerhin,“ sagte Lewin, „immerhin; wenn ich voll Widerwillen mein Leben prüfe, so erzittere ich, verwünsche ich mich und beklage ich mich tief.“

1Russische Grützbreispeise.